Rad- und öffentlichen Nahverkehr will das Mobilitätsgesetz des Berliner Senats nach vorne bringen. Der Autoverkehr spielt nicht mehr die Hauptrolle. Wie beurteilt ein Verkehrsexperte das Konzept? Ein Interview mit Professor Markus Hecht.
Herr Professor Hecht, fahren Sie selbst Rad?
Ja, eigentlich das ganze Jahr, außer es gibt Glatteis. So wetterabhängig ist man gar nicht mit dem Rad, es geht auch bei tiefen Temperaturen oder bei Regen.
Wie fühlt man sich so als Radfahrer in Berlin?
Das Angebot ist sehr unterschiedlich. Es gibt gute Strecken, andere haben eine so schlechte Fahrbahn, dass man sie nicht benutzen kann. Und oft sind Kreuzungen oder Engstellen, insbesondere Baustellen, sowohl für Rad- wie für Autofahrer sehr schlecht einsehbar, sodass es richtig gefährlich wird. Also ich fahre fast immer mit Helm.
Vieles soll durch das neue Mobilitätsgesetz besser werden – was halten Sie davon?
Das finde ich schon sinnvoll. Man merkt auch, dass viel mehr Leute Fahrrad fahren – auch die, die es nicht gewohnt sind, wie etwa die vielen Touristen. Die einen wollen schnell vorankommen, andere beschaulich mit doppelter Schrittgeschwindigkeit durch die Stadt bummeln. Beides auf einmal geht auf den meisten heutigen Radwegen nicht.
Sind denn die Autofahrer auf so viel mehr Fahrradfahrer eingestellt?
Nein, da braucht es vor allem noch viel mehr Disziplin und Akzeptanz, bis niemand mehr auf Fahrradwegen parkt oder, ohne sich umzusehen, die Fahrertür aufreißt. Natürlich müssen auch die Radfahrer und Radfahrerinnen die Regeln beachten.
Kann das Fahrrad das Auto verdrängen?
Ja, weitgehend halte ich das schon für möglich. Zumindest ersetzt es den Autoverkehr besser als diese ganzen Mobility Services, also die Mietwagen von den großen Anbietern wie BMW, VW oder der Bahn.
Das Mobilitätsgesetz setzt auf das Zusammenspiel von Rad und öffentlichem Nahverkehr – klappt das denn hier in Berlin?
In Berlin hinkt der Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel sehr hinterher. Das große Problem beim Schienenverkehr ist, dass man es mit Monopolisten zu tun hat, die nicht zur Transparenz verpflichtet sind und kaum Aufträge nach außen vergeben. Es gibt zum Beispiel das gemeinsame Verkehrskonzept i2030, bei dem Berlin und Brandenburg zusammen Geld vorschießen, um den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs voranzubringen. Ob das wirklich geschieht oder ob sich der Monopolist Deutsche Bahn wegen mangelnden Kapazitäten rausredet, bleibt spannend. So ist das oft bei der öffentlichen Verwaltung: Man gibt keine Arbeiten nach außen, hat aber selbst nicht genug Kapazitäten, das Geld zu verplanen und auszugeben – dann bleibt es halt liegen.
Wäre denn kostenloser Nahverkehr eine Alternative?
Nein, da gibt es mehrere Studien, dass das nicht klappt. Der Personenkreis, der angesprochen würde, läge zwischen fünf und zehn Prozent. Die Autofahrer bleiben bei ihrem Pkw. Man würde den ÖPNV noch stärker belasten, die Qualität würde sinken, was dazu führen könnte, dass man die Leute aus den Zügen vertreibt. Davon hängt alles ab: Wir müssen die Qualität des ÖPNV dringend verbessern, dann nimmt auch die Zahlungsbereitschaft und Nutzerzahl zu.
Was meinen Sie mit Qualität?
Schnell und pünktlich. Dann sinken auch die Kosten. Sie transportieren in derselben Zeit mehr Menschen, brauchen weniger Personal und weniger Züge. Wenn Sie doppelt so schnell fahren, brauchen Sie nur die Hälfte an Fahrzeugen. Da hat sich bei der S- und der U-Bahn in Berlin in den letzten 100 Jahren wenig getan – die fahren immer noch zu langsam.
Man muss erst mal zur Bahn kommen – was halten Sie von Park-and-Ride-Plätzen für Fahrradfahrer?
Da sollten wir uns an der Schweiz oder an den Niederlanden mal ein Vorbild nehmen: Die stellen an den Bahnhöfen Boxen zur Verfügung, wo man das Rad wegschließen kann. Und manchmal ist da auch ein Reparaturservice dabei, der das Rad in Empfang nimmt, sodass Sie es abends neu überholt zurückerhalten.
Warum klappt das in Deutschland nicht flächendeckend?
Weil die Stationen der Bahn gehören. Kein Bahnhof gehört der Stadt, sondern ist eigentlich ein Gewinnsteigerungsinstrument der Bahn. Oder die hat ihn an jemanden verkauft, der ihn vor sich hin gammeln lässt. Man müsste die Eigentumsstruktur der Stationen ändern, dann ginge es.
In den Niederlanden hat das Fahrrad ohnehin einen anderen Stellenwert. Haben die Unterschiede etwas mit einer anderen Mentalität zu tun?
Eher nicht – das hat mit Politik zu tun. Die Frage ist doch: Wie weit ist ein Land von der Automobilindustrie bestimmt? Wie stark das Auto das Bewusstsein bestimmt, merken Sie doch schon an der Dieselaffäre. Das Tempolimit ist immer noch ein Tabuthema, die Politik will es nicht. Und dazu kommt, dass die Automobilindustrie im Unterschied zu anderen Industriezweigen – Kraftwerkindustrie oder Bahn – kaum oder nur wenig kontrolliert wird. Das Kraftfahrtbundesamt hat sich da jahrelang sehr zurückgehalten, und erst jetzt haben sie die Zügel etwas angezogen. Die Konsequenz ist eine automobilorientierte Verkehrspolitik.
Wäre bei dem krassen Übergewicht des Autos nicht ein kleines bisschen Diktatur nötig, um seine Ziele durchzusetzen?
Nein, keinesfalls. Die Beispiele, bei denen die Betroffenen übergangen wurden, Stuttgart 21 und Rheintalbahn Karlsruhe Basel führten nicht nur zu verlängerten Bauzeiten, sondern auch zu schlechten Lösungen. Das positive Gegenbeispiel ist der Gotthard-Basistunnel, der nicht nur ein Jahr früher als geplant fertig wurde, sondern heute ganz wesentlich höheren Nutzen entfaltet als ursprünglich angedacht. Statt Diktatur brauchen wir heute Transparenz, Bürgerbeteiligung, klare Entscheidungen und nachhaltige Umsetzung der Beschlüsse. Das Mobilitätsgesetz nützt gar nichts, wenn es nicht umgesetzt und mit Zielvorgaben unterlegt wird. Und da bin ich skeptisch, ob die Verwaltung dazu in der Lage ist. Denn die ist von sich aus nicht kreativ, sondern eher darauf ausgerichtet, keine Fehler zu machen.
Wird es in Zukunft vielleicht weniger Verkehr geben, weil alle von zu Hause arbeiten und die meisten nur Kurzstrecken zurücklegen müssen?
Das halte ich für nicht möglich – die Gesellschaft wird sich immer mehr ausdifferenzieren, und damit wächst auch das Verkehrsbedürfnis. Aber dadurch, dass das Zeitbudget nicht mitwächst, das jeder hat, muss die Geschwindigkeit zunehmen.
Auf welchen neuen Entwicklungen in Sachen Verkehr haben wir uns einzustellen?
Ich erwarte, dass die fahrerlosen U- und S-Bahnen auch in Deutschland ziemlich schnell kommen werden. In Australien sind fahrerlose, vollautomatische Güterzüge schon Standard, bei uns ist das noch ferne Zukunftsmusik. Für Radfahrer wird es ein Schnellradwegenetz geben, das so ausgelegt ist, dass man auch richtig Speed geben kann, weil Platz genug ist.
Und fahrerlose Autos?
Nicht für die Stadt, die lösen ja das Platzproblem nicht, eher für das Land. Und fahrerlose Autos können sich auf Radfahrer und Fußgänger nicht optimal einstellen. Stattdessen werden Lastenfahrräder kommen – der Senat hat da mit geringen Mitteln schon viel angestoßen. Die müsste man mit einer Güterstraßenbahn verbinden können.
Was ist Ihre Vision für die Zukunft?
Weniger Autos, mehr spurgeführte Systeme, insbesondere neue U-Bahnlinien – weil die Linienführung noch aus den 20er-Jahren oder aus der Zeit der Berliner Insellage stammt. Sie ist nicht mehr dorthin gerichtet, wo der Verkehrsbedarf ist. Und größere, leistungsfähigere Bahnen: In Asien fahren in vielen Städten Großprofil-Bahnen mit 3,50 Meter Breite. In Berlin gelten 2,65 Meter schon als Großprofil. Und natürlich mehr Fahrräder.