Kurz mal irgendwo aufs Fahrrad springen – kein Problem! In den Innenstädten der Metropolen stehen Leihräder inzwischen fast an jeder Ecke. Ganz neue Mobilitätschancen tun sich auf. Aber es gibt auch Ärger mit der Rad-Invasion.
Das ist ja eine angenehme Überraschung: Die gefühlte „rote Welle", die einen als Fahrradfahrer normalerweise oft ausbremst, entfällt! Dummerweise liegt man ja bei normalem Fahrradtempo meist hinter den 30 oder 50 Stundenkilometern, nach denen die Ampelschaltungen ticken. Aber mit diesem Rad geht es so langsam, dass die Ampel immer, wenn man sich bis zur Kreuzung angeschlichen hat, bereits wieder grün ist.
Mit einem Leihrad, etwa von „Mobike", ist man gern mal etwas langsamer. So ein Mobike-Rad ist klein wie ein Kinderrad mit seinen 24-Zoll-Reifen, hat fingerdicke Speichen und wiegt verblüffend viel. In einem besonders niedrigen ersten (und einzigen) Gang strampelt man recht wackelig voran. Die dünnen Vollgummireifen sind auf Asphalt zwar okay. Aber wehe, es kommt mal ein Kopfsteinpflaster-Abschnitt: Dann haut es einen schier vom Sattel.
Meine Geschwindigkeit, wie die zugehörige Smartphone-App am Ende der kurzen Testfahrt anzeigt, lag im Durchschnitt bei acht Stundenkilometern. Keine Chance, da Stabilität in die Fuhre zu bekommen – normalerweise ist man nicht ohne Grund mindestens doppelt so schnell. Zudem zeigt die App noch 0,3 Kilo CO2 an, um mir zu zeigen, wie umweltfreundlich ich im Vergleich zu einer Autofahrt eben unterwegs war. Und dann stehen da noch die verbrauchten Kalorien, nämlich 171. Ich habe jetzt einen „Score" von 550. Gekostet hat die Fahrt nach 21 Minuten 1,58 Euro. Immerhin war die Auswahl an Rädern groß: Die Karte der App zeigte vor dem Losfahren einen dichten Teppich von Standorten in der Umgebung.
Auch wenn die Fahrt etwas mühsam war, in Berlin sieht man derzeit viele, vor allem Touristen, auf den Mieträdern. Die Drahtesel scheinen eine Lücke zu füllen, vor allem für kurze und spontane Fahrten sind sie beliebt. Inzwischen sieht man sie in den Zentren der Großstädte überall. Was auch gleichzeitig ein Problem ist: Wenn sie nicht gerade gefahren werden, stehen sie auf den Bürgersteigen Fußgängern, Rollstuhlfahrern und Kinderwagen im Weg.
„Bike sharing", wie der Fahrradverleih heute heißt, ist Teil eines großen Spiels geworden. Mobike ist einer der ganz großen Player. 2015 in Peking gegründet, konnte die Firma über eine Milliarde Dollar an Investorengeld einsammeln und wurde im April für 2,7 Milliarden Dollar von einem chinesischen Internet-Giganten gekauft. Seit November 2017 ist Berlin die 200. Stadt des Mobike-Imperiums. Hier stehen inzwischen einige Tausend Mobike-Räder, und damit wohl fast die Hälfte aller 16.000 Leihfahrräder in Berlin überhaupt. Genauere Zahlen verrät das Unternehmen „aus Wettbewerbsgründen" nicht. Man will aber weiter wachsen, mehr Räder aufstellen und auch E-Bikes anbieten. Die ersten elektrischen Konkurrenten – die grünen Limebikes – gibt es ja bereits.
Stationslose Leihräder parken überall
Wie das bei Imperien so ist: Lokale Bedürfnisse spielen eher eine geringe Rolle. Die Räder werden weltweit aufgestellt und sich überlassen. Es gibt keine festen Stationen, die erst umständlich genehmigt werden müssten. Als der Konkurrent Obike (diesmal ohne M!) aus Singapur im Frühjahr pleite ging, zeigten sich die ersten Schwächen des Systems: Herrenlose Räder standen in vielen Städten der Welt herum, zeitweise war die Firma auch für die Stadtverwaltungen nicht erreichbar. Hauptgrund der Pleite war offenbar, dass die Transportbehörde in Singapur neue Regeln aufgestellt hatte, um dem Zuparken von Gehwegen Einhalt zu gebieten. So werden dort nun die Anbieter verpflichtet, die Nutzerdaten herauszurücken, damit rücksichtslose Fahrer beziehungsweise Parker identifiziert werden können. Obike stellte den Betrieb ein, auch in Deutschland.
Ursache für den Wildwuchs hierzulande, wie ihn Kritiker bezeichnen, ist ein Gerichtsurteil des Hamburger Verwaltungsgerichts aus dem Jahr 2009, wonach Anbieter ohne feste Station keiner Genehmigung bedürfen. Das führt zu der kuriosen Situation, dass in Deutschland Freiheit herrscht, während überall sonst, von Singapur bis USA, die Stadtverwaltungen inzwischen massiv mitmischen. Sogar die Start-up-Paradiese Seattle und Dallas haben die Zahl der App-Leihräder begrenzt und vergeben Konzessionen nur gegen gutes Geld.
Anders hierzulande. In deutschen Städten wie Berlin setzt man auf die Vernunft der Radfahrer: Man habe mit allen Anbietern von Fahrradverleihsystemen, die keine eigenen Stationen betreiben, Gespräche geführt, teilt die Senatsverwaltung mit. Es gibt einen Leitfaden mit klaren Regeln für das Aufstellen von Leihrädern. Danach dürfen Räder nur so abgestellt werden, dass sie niemanden behindern, maximal vier Stück an einem Ort gelten als okay. Zudem ist zu beachten, dass Eingänge von U- und S-Bahnen und die Bushaltestellen nicht versperrt werden. Falsch abgestellte oder defekte Leihfahrräder sollen innerhalb von maximal 24 Stunden umverteilt oder eingesammelt werden.
Derzeit gibt es in Berlin noch fünf Anbieter stationsloser Systeme, dazu das quasi offizielle „Deezer nextbike" mit bislang 700 festen Stationen. Der Senat fördert das Unternehmen mit 7,5 Millionen Euro für fünf Jahre. Es hat derzeit 2.000 Räder aufgestellt, 5.000 sollen es einmal werden. Außerdem bietet die BVG, die in Berlin U-Bahnen und Busse betreibt, für Inhaber einer regulären Monatskarte an, diese Räder zu nutzen. Die Botschaft ist deutlich: Man hat nichts gegen die neuen Leihräder. Sie sollen ihren Beitrag leisten zur flexiblen, smarten, umweltfreundlichen Mobilität. Sharing, also das gemeinsame Nutzen von Fahrzeugen oder anderen Geräten für eine gewisse Zeit, gilt ohnehin als Schlüssel für eine nachhaltige Welt.
Verkehrsexperten sehen das ähnlich. Tilman Bracher vom Deutschen Institut für Urbanistik (DIFU) hält die aktuelle Aufregung um die wirr herumstehenden Leihräder insgesamt für überzogen. Man solle nicht vergessen, das eigentliche Problem seien fahrende und parkende Autos in den Städten, argumentiert er und stellt die etwas provokative Frage: „Autos dürfen auch überall parken, warum sollten Fahrräder das nicht?" Für Bracher überwiegen die Vorteile des Sharings eindeutig: „Leihfahrräder sind im Grunde eine tolle Sache." Sie böten Menschen, die kein eigenes Rad haben, eine praktische und umweltfreundliche Alternative zum Auto. Das gelte vor allem für Städte wie Paris oder London, wo es für viele Menschen schon aus Platzgründen nicht möglich ist, ein eigenes Fahrrad zu besitzen. Aber auch in Deutschland könnten Leihfahrräder helfen, den Umstieg aufs Rad zu fördern. Wer weiß, dass er an einem U-Bahnhof mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Rad findet für die letzten ein, zwei Kilometer, verzichtet vielleicht tatsächlich leichter aufs Auto und steigt auf die Öffentlichen um.
Mit den Leihrädern Daten sammeln
Dennoch hält Bracher eine gewisse kommunale Regulierung für sinnvoll. „Der Markt wird sich ohnehin konsolidieren", sagt er. Die Anzahl der Räder werde weiter zunehmen, aber die Anbieter werden weniger. Die ersten Anzeichen bestätigen das, nachdem sich zwei der asiatischen Unternehmen bereits schon wieder aus Deutschland verabschiedet haben.
Bracher führt die jüngste Erfolgswelle der stationslosen Anbieter in Berlin auch darauf zurück, dass der Senat mit seinem eigenen System nur langsam vorangekommen sei. Noch dazu war die Wahl der Standorte für die festen Andock-Stationen nicht immer optimal. „Mit einem guten System mit festen Stationen an den richtigen Stellen hätten es die stationslosen Anbieter deutlich schwerer gehabt."
Was die neue Generation der Leihfahrräder allerdings so ungewöhnlich macht, ist, dass sie nicht profitabel sind. „Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass irgendeine Form der Querfinanzierung notwendig ist", so Bracher. Das könnte ein öffentlicher Zuschuss sein. Bei den asiatischen Anbietern ist das aber nicht der Fall. Sie hoffen offensichtlich auf andere Arten des Zugewinns. Sie gewinnen Kundendaten durch die Anmeldung auf der zum Leihrad gehörigen App, die bei jedem Einloggen auch Wege, Fahrtzeiten und mehr speichert.
Da diese Anbieter erklärt haben, die Daten ihrer Kunden nicht weiter zu verkaufen, liegt der Schluss nahe, dass sie die Daten selbst nutzen, etwa für mögliche lokalisierte oder individualisierte Werbung. Auffallend sei ja, so Bracher, dass hinter den asiatischen Anbietern Internetfirmen stecken.
Dass viele der Anbieter vor dem offiziellen Start erst einmal Geld von Investoren einsammeln, deutet auch darauf hin, dass sie nach dem Start-up-Modell arbeiten: Sie sind von Risikokapital finanziert, sie müssen ein Wettrennen gegen Konkurrenten gewinnen und können erst einmal einige Millionen verbrennen.
Ob ihr Geschäftsmodell funktioniert, ist an diesem Punkt noch lange nicht klar. Dafür müsste man auch wissen, wie die Räder genutzt werden – und wie gut sie sich im Laufe der Jahre halten. Wie jeder weiß, der ein Fahrrad für längere Zeit sein eigen nennt: Pflege und Wartung sind das A und O. Man darf gespannt sein, wie die neuen Anbieter diese Herausforderung in den Griff bekommen wollen.