In Sachen Fachkräfte ist das Saarland derzeit gut aufgestellt, findet der Hauptgeschäftsführer der Arbeitskammer, Thomas Otto. Dennoch bedürfe es neuer Investitionen – in Weiterbildung, Breitband und Verkehr.
Herr Otto, der exportorientierten Saar-Wirtschaft treiben derzeit der Brexit und ein drohender Handelskrieg seitens US-Präsident Trump die Sorgenfalten auf die Stirn. Ist es da nicht an der Zeit, wieder für den Freihandel zu werben?
Da haben wir als Arbeitskammer eine andere Vorstellung als die anderen Wirtschaftsverbände. Weniger Zölle und Handelsbeschränkungen, ja, aber beispielsweise die privaten Schiedsgerichte für Konzerne sehen wir kritisch. Was wir von Präsident Trump und von den Brexit-Verhandlungen hören, stimmt uns nicht optimistisch. Eine Wirtschaft mit Zöllen zu belegen, ist schwierig, gerade für uns im Saarland, die wir vom Export leben. Wenn zudem der Brexit zu Handelshemmnissen führt, werden wir das zu spüren bekommen. Ford im Saarland agiert in Großbritannien zum Beispiel sehr erfolgreich. Das Risiko ist zwar abstrakt, noch wird verhandelt. Aber wir erwarten Schwierigkeiten für die saarländische Wirtschaft.
Ein Blick zum Nachbarn: Wir wissen nun schon eine Weile um die Frankreichstrategie der Landesregierung. Kommen wir damit aus Ihrer Sicht voran?
Die Frankreichstrategie der Landesregierung ist richtig. Eine reine politische Aufforderung aber geht uns nicht weit genug. Auch die Idee, Französisch im Unterricht in den Mittelpunkt zu stellen, reicht nicht aus. Deshalb fordern wir klarere Visionen und intensive Gespräche mit Unternehmen wie mit Beschäftigten. Kinder und Jugendliche müssen wie selbstverständlich mit dem Thema Frankreich umgehen lernen, weshalb entsprechende Lehrkräfte eingestellt werden müssen. Dann glaube ich, dass das Saarland eine Chance hat, sich deutlich gegenüber Frankreich zu öffnen und umgekehrt. Aber nicht nur der wirtschaftliche Aspekt ist wichtig, auch der gesellschaftlich-kulturelle. Wir leben in einer spannenden Region, deren Bestandteile sich wechselseitig beeinflussen. Die Frankreichstrategie muss mehr werden, als nur kurz im französischen Supermarkt einzukaufen. Deshalb sollte die nächste Generation die Großregion selbst offener erleben, nicht nur sprachlich, sondern auch kulturell.
Die EU ist derzeit in Bewegung, eine gemeinsame Finanz-, Sozial- und Wirtschaftspolitik wird diskutiert. Wird diese Diskussion das Vertrauen der Bürger in die EU wieder stärken?
Viele Probleme, vor allem der Nationalismus, haben damit zu tun, dass die EU zu eindimensional auf die Wirtschaftspolitik, Zollunion, freier Handels- und Dienstleistungsverkehr hin optimiert wurde und zu wenig zur sozialen Union wurde. Die Menschen müssen wieder das Gefühl haben, einen konkreten Nutzen von der Union zu haben, vor allem sozialgesellschaftlich. Hier gibt es eine Schieflage, die die Politik nun angehen muss.
Wie sollte sich die EU künftig ändern? Durch eine stärkere Konzentration auf die Region?
Die Modelle sind sehr unterschiedlich, leider gibt es wieder den Trend hin zum Nationalstaat. Es gibt erste spannende Debatten zur Regionalisierung, sprich dass man die EU gewissermaßen in ihre Regionen zerlegt und von dort neu aufbaut. Das wäre identitätsstiftend. Ich glaube aber, dass Europa gerade in den Regionen wieder gelebt wird und dies zum Maßstab von Europapolitik werden muss. Insofern kann unsere Großregion ein Modell für Europa sein. Die EU muss den Menschen in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen und die sozialen Probleme ernst nehmen. Es gibt Regionen mit nicht mehr hinnehmbarer Jugendarbeitslosigkeit. Eine Generation wird in die Hoffnungslosigkeit entlassen. In Deutschland wird wieder über die Altersarmut diskutiert. Sprich an beiden Enden des Erwerbslebens gibt es Schwierigkeiten. Deshalb überrascht es nicht, dass es Menschen gibt, die gegen die EU sind.
Die hohe Arbeitslosigkeit in Lothringen kommt den freien Stellen im Saarland sehr entgegen. Wie können wir sicherstellen, dass Angebot und Nachfrage zueinander finden?
Wir müssen viel mehr über das konkrete Matching sprechen und die Frage beantworten: Welche Arbeitskräfte gibt es wo in der Großregion und wo werden welche Fachkräfte gesucht? Es ist nicht eindimensional so, dass es in Frankreich eine hohe Arbeitslosenquote und im Saarland den Fachkräftemangel gibt. In Frankreich werden zum Beispiel wie auch hier händeringend Speditionsfahrer gesucht. Die Arbeitsagenturen und -ämter beiderseits der Grenze müssen also enger kooperieren. Aber die Situation ist komplexer. Fachkräfte in Frankreich, die im Saarland gebraucht werden, zieht es eher nach Luxemburg, wo sie genauso stark nachgefragt werden. Die Großregion ist also auch hier heterogen zu sehen, sodass wir in der Wirtschaftspolitik in viele Richtungen blicken müssen, um zu sehen, wo Angebot und wo Nachfrage herrscht.
Frankreichs Präsident Macron möchte das Ausbildungssystem in Frankreich anpassen, eine Handwerksausbildung ist dort im Vergleich zu uns schlecht angesehen. Ist der Export unseres dualen Systems die Lösung für den Arbeitsmarkt der Grenzregion?
Wir sind mit dem dualen Ausbildungssystem in den letzten Jahren sehr gut gefahren. Es ist das Rückgrat unserer Fachkräftepolitik. Ich weiß aber nicht, ob man blind anpassen sollte oder gar sagen sollte, unser deutsches Ausbildungssystem ist das einzig gute. Auch wir haben mittlerweile Alternativen zur dualen Ausbildung. Auch die schulische Ausbildung hat an Bedeutung gewonnen. Wir können in der Großregion nur dafür werben, dass unser Ausbildungssystem gute Chancen eröffnet und bei den französischen Auszubildenden vermitteln, welche Vorteile und Perspektiven sie hat. Anpassen würde auch bedeuten, dass wir Abstriche machen. Das wollen wir auch nicht. Im Gegenteil, die Industrie wird ihre Anforderungen weiter erhöhen. Beide Systeme haben also ihre Berechtigung.
In Deutschland steigt ebenfalls die Zahl der Studierenden. Ist denn der derzeit hohe Akademisierungsgrad eine Gefahr für das Handwerk?
Keine Gefahr, aber eine Entwicklung, die nachjustiert werden sollte. Die Studienabbrecherquote macht uns Sorgen, im Handwerk sehen wir Probleme der Fachkräfte- und Azubi-Engpässe. Deshalb haben wir gefordert, mehr Schulsozialarbeiter einzustellen, um auch in Berufsschulen die Ausbildung qualitativ zu erhöhen und damit die Attraktivität der dualen Ausbildung zu erhöhen. In der Berufswahlberatung muss man intensiver beraten: Ist nicht die duale Ausbildung manchmal zielführender? Muss es immer ein akademischer Karriereweg sein? Das Studium mag der schnellste Weg zum akademischen Titel sein, aber nicht jeder hat das gleiche Lerntempo. Außerdem besteht ja nach der dualen Ausbildung die Möglichkeit, sich akademisch weiterzubilden. Das ist keine Sackgasse mehr, sondern ein Einstieg in die Facharbeit, Stichwort Meisterprüfung, Betriebswirt, Bachelor oder Master. Mit 18 oder 19 ohne Orientierung gleich studieren ist mittlerweile eine gesellschaftliche Prägung, die wir kritisch begleiten müssen, auch wegen G8. Projekttage oder Berufsbildungstage helfen, eine erste Orientierung zu erhalten. Je früher man sich festlegt, desto ungenauer der Berufswunsch, ist meine Erfahrung.
Dem Fachkräftemangel begegnet das Saarland auch durch die Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt. Wie gelingt das derzeit?
Integration über die Sprache ist das A und O. Da passiert sehr viel. Das kostet Zeit, in der die Flüchtlinge dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. Intensivieren müssen wir sicher die Qualifikationsanerkennung, aber insgesamt haben wir da eine Problemlage, die wir jetzt empirisch begleiten, in der wir noch wenig Erfahrung haben.
In der Bundespolitik wird über Ankerzentren und neue Zuwanderungsregelungen diskutiert. Zu Recht?
Ich glaube, da wird viel heiße Luft produziert. Wir haben keine Flüchtlingskrise, die exponierter Maßnahmen bedarf. Im Saarland haben wir unserer Erfahrung nach das Thema Flüchtlinge gut gelöst. Wir sollten über ein Einwanderungsgesetz reden. Es kann nicht sein, dass ein Flüchtling ins Ausland abgeschoben wird, weil es keinen Schutzgrund gibt und wir gleichzeitig aus diesem Land eine qualifizierte Fachkraft für Pflege zu uns holen, weil wir sie brauchen. Weil wir ausländische Fachkräfte brauchen, müssen wir das auch regeln und diesen Menschen eine Perspektive anbieten. Da hilft eine Debatte über Überfremdung und Ankerzentren nicht weiter. Es geht hier um Menschlichkeit. Und da läuft gerade etwas schief in der politischen Debatte.
Das neue Schuljahr hat im Saarland begonnen, 8.000 neue Schülerinnen und Schüler steigen in unser Bildungssystem ein. Ist das System derzeit zukunftssicher ausgestattet?
Wir sind ordentlich aufgestellt im Saarland, aber dem System fehlt eine bessere finanzielle Ausstattung. Ja, es wurden Lehrer eingestellt, Löcher gestopft. Aber wer in die Zukunft des Saarlandes investiert, muss in das Bildungssystem investieren. Klar ist die Haushaltssituation schwierig, aber im Sinne der gleichwertigen Lebensverhältnisse in der Republik muss hier mehr getan werden, das erwarte ich von der Landesregierung.
Bevorzugen Sie eine schnellere Integration der Jugendlichen in den Arbeitsmarkt über G8 oder würden Sie ihnen ein Jahr länger gönnen?
Grundsätzlich glaube ich, dass über G8 Jugendliche noch schneller in den Arbeitsmarkt zu bringen nur bedingt notwendig ist. G9 halte ich für das didaktisch sinnvollere System angesichts der Anforderungen heute an Abiturienten, der Lernmengen. Die Leistungsverdichtung in G8 bringt manches Kind an seine Grenzen. Wenn ich mein Kind nach dem Arbeitsschutzgesetz nach zehn Stunden ins Bett schicken würde, könnte es seine Hausaufgaben nicht mehr machen. Schule, Sport und andere Hobbys, Lernen, Hausaufgaben, da ist es schnell elf Uhr abends – ich als Arbeitgeber würde abgemahnt werden. Das eine Jahr später im Beruf wird die deutsche Wirtschaft nicht schädigen, das ein oder andere Kind aber ruhiger sein Abitur machen lassen. Aber wir sollten über einen behutsamen Wechsel reden, denn wir können nicht andauernd das Schulsystem wechseln. Auch die Eltern brauchen hier Vertrauensschutz. In dieser Diskussion ist die Gemeinschaftsschule nicht zu vernachlässigen, die ja die Option G9 anbietet. Hier muss echte Gleichwertigkeit und Akzeptanz zum Gymnasium angestrebt werden.
Nun wurde dem Saarland seitens der Landesregierung ein „Jahrzehnt der Investitionen" versprochen, wo sind diese ganz besonders notwendig?
Ohne wertende Reihenfolge: das Bildungssystem, hier haben wir erheblichen Nachholbedarf. Darauf aufbauend die Finanzierung der Hochschulen, was wir als Investition in die Zukunft begreifen müssen und nicht als Kostenfaktor. Wir haben in unserer Studie mit Prof. Emrich festgestellt, dass vor allem Studierende von außerhalb des Landes im Saarland bleiben. Einerseits betreiben wir also Saarlandmarketing, geben Geld aus, um Fachkräfte anzuwerben, und stellen fest, nach dem Besuch der Uni bleiben sie ohnehin hier kleben. Doch sie brauchen Arbeits- und Lebensbedingungen, die sie dazu bewegen, auch hier zu bleiben: Infrastruktur ist das dritte große Thema im Saarland, Straßen und Brücken genauso wie der Breitbandausbau und ein effizienterer ÖPNV, gute Fernverkehrsanbindungen per Bahn und Flugzeug.
Stichwort Breitband: Die Digitalisierung gehört zu den zentralen Punkten der Landesregierung und gilt als große Herausforderung für die Wirtschaft. Worauf gilt es, dabei besonders zu achten?
Wir haben im Saarland eine gute Ausgangsposition dafür, was Hochschullandschaft und Politik verstanden haben. Es gibt viele Ansprechpartner im Land dafür, und wirtschaftsseitig haben wir zum Beispiel im Automotive-Bereich hochinnovative Unternehmen. Das IAB hat errechnet, dass das Saarland überdurchschnittlich von Digitalisierung betroffen sein wird. 70 Prozent der hiesigen Arbeitsplätze werden Veränderungen erleben. Das werden sicherlich nicht Entlassungen sein, die zu damit verbundenen Ängsten führen, es werden aber 70 Prozent neu beziehungsweise weiter zu qualifizierende Arbeitskräfte sein. Digitalisierung ohne Weiterbildungsoffensive zu diskutieren, ist fahrlässig. Unsere Aufgabe wird es sein, immer die Sicht der Beschäftigten einzubringen – also nicht nur die optimalen Prozesse, höhere Produktionseffizienz im Blick zu behalten, sondern Digitalisierung mit dem Menschen zu diskutieren. Denn dort, wo Digitalisierungsprozesse erfolgreich abgeschlossen wurden, waren sie begleitet von der Mitbestimmung der Mitarbeiter.
Die Umbrüche in unserer Automobil- und Stahlindustrie sind deutlich, ebenso die Probleme durch den Emissionshandel oder Elektromobilität. Sind unsere Industrien gewappnet dafür?
Hier stehen die weltweit saubersten Stahlwerke. Jetzt muss die Politik in der EU das honorieren. Wenn sie weiter an der Emissionsschraube drehen, wird dies uns treffen. Natürlich sind immer Innovationssprünge möglich, aber derzeit ist technisch nicht mehr möglich. Spannend bleibt es auch im Automotive-Bereich. Wir haben eine starke Ausrichtung auf den Antriebsstrang, deshalb werden wir von der Elektromobilität stark betroffen sein. Da wir stark mittelständisch geprägt sind, werden wir aber flexibel sein und uns an Änderungen anpassen können.
Wie stehen Ihrer Meinung nach die Chancen, dass in einigen Jahren Tesla im Saarland produziert?
Wenn ein solches Unternehmen eine Standortentscheidung trifft, stehen oft weitere Subventionen im Blickpunkt. Wenn es aber nur um die Qualität der Arbeit geht: Wir kennen Schichtarbeit, wir können Automobilbau, wir sind qualifziert und belastbar. Also rein in Sachen Kompetenz unserer saarländischen Facharbeiter sind wir ganz vorne mit dabei.