Die Kinder des Zweiten Weltkrieges bilden heute die Mehrheit der Demenzkranken. Diese leben zunehmend in der Vergangenheit. Alte Erinnerungen an Krieg, Flucht und Vertreibung leben wieder auf. Die Autorin und Demenzbetreuerin Beate Lehr hat so einen Fall protokolliert, verbunden mit ihrem Plädoyer für eine individuellere Demenzbetreuung, um den Patienten Ängste zu nehmen.
Weltweit sind etwa 48,8 Millionen Männer und Frauen an Demenz erkrankt. Allein in Deutschland gibt es nach Schätzung der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft etwa 1,5 Millionen demenzkranke Menschen. In der Altersgruppe der 75- bis 89-jährigen, das sind die Jahrgänge 1929 bis 1943, sind es 1.142.270, davon 743.210 Frauen.
Beim Heimeinzug steht anfangs die Biographie-Arbeit, um herauszufinden, ob der Bewohner in seinem Vorleben lieber häkelte, strickte, Kreuzwort rätselte oder im Gemeindechor sang. Daraus soll dann ein individuelles Beschäftigungskonzept entwickelt werden. So weit, so gut. Doch dabei kommt meist immer dasselbe heraus: stricken, häkeln, basteln und immer wieder singen. Immer die alten Lieder. Beschäftigungskonzept: „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach." Sie klappert von montags bis freitags. Aber gerade diese Beschäftigungsangebote werden von den Bewohnern, die auch in der Demenz niemand anderes sein wollen als sie selbst, häufig als Zeittotschlagen empfunden. So beklagte schon im Film „Sein letztes Rennen" der vermeintlich renitente Heimbewohner Paul Averhof, gespielt von Dieter Hallervorden, die tägliche Herstellung von Kastanienmännchen: „Und dann hat man sich eines Tages totgebastelt."
Juliane aber wollte sich keiner „Zwangsbespaßung" unterwerfen. Sie wollte ihre Geschichte erzählen, die Geschichte von den Kinderseelentränen.
Im Hausflur der Wohnung Christkindlsteig standen sie wie Zinnsoldaten nebeneinander aufgereiht. Sechs Rucksäcke an der Flurwand angelehnt, dem Besitzer entsprechend der Größe nach aufsteigend wie die Orgelpfeifen, warteten auf das, was da kommen sollte.
Sechs Rucksäcke, sinnbildlicher Spiegel der gesamten Familie. Vater, Mutter und vier Töchter. Für jeden einen Rucksack. Der Sohn war bereits 1942 in Russland gefallen.
Schon Tage zuvor hatte die Mutter jeden einzelnen Rucksack mit dem Nötigsten gepackt. Warme Kleidung, haltbar gemachte Lebensmittel. Einen Blechbecher. Denn Wasserrationen ohne Becher nutzen nicht viel, hatte der Vater gesagt.
Alle glaubten, man brächte sie nach Russland in ein Lager. Niemand wusste, ob die Familie zusammenbleiben würde. Deshalb war jeder Rucksack so gepackt, dass jedes Familienmitglied unabhängig voneinander mit dem Nötigsten ausgestattet war. Auch Julchens kleiner Rucksack. Jeder kann nur so viel mitnehmen, wie er selbst tragen kann, hatte der Vater gesagt, und so kam es, dass Julchens Überlebensration in den kleinen Rucksack passen musste, den sie in glücklichen Tagen bei ihren Sonntagswanderungen in den schlesischen Bergen getragen hatte.
Seit Tagen wurde Straßenzug für Straßenzug geräumt, und Julchen berichtete Tag für Tag den Eltern, wie sich kontinuierlich die Gefahr dem Haus am Christkindlsteig näherte. Seit sie da waren, die russischen Soldaten im Frühjahr 1945, verließ nur noch die zehnjährige Juliane das Haus. Der Vater hatte ihr erklärt, dass es für die Mutter und die drei älteren Schwestern zu gefährlich sei, das Haus zu verlassen, um nicht die Spur einer unfreiwilligen Einladung für betrunkene Soldaten zu hinterlassen, die dann nachts schlimme Sachen mit Frauen und Mädchen machten.
Alle glaubten, man brächte sie nach Russland
Er selbst, der Vater, musste sich ebenfalls im Haus verstecken, da er, wie Juliane sagt, ein „uniformierter Beamter" war und daher auch um sein Leben fürchtete. Die gesamte Familie war nun von der kleinen Juliane und ihrem Geschick abhängig. Julchen, wie sie liebevoll in der Familie genannt wurde, ging nun jeden Tag mit ihrer Milchkanne in die umliegenden Dörfer, von Bauer zu Bauer, um tassenweise Milch zu erbetteln oder eine Hand voll Mehl oder sonst irgendetwas Essbares zu ergattern. Fragte täglich nach Brotrationen im Ort oder pflückte Klee für ihr Kaninchen.
Sie lernte „den Feind auszuspähen" und berichtete dem Vater, was im Ort so im Gange war. Julchen war der verlängerte Arm der Familie. Es gab keine Informationen. Nur Gerüchte und das, was Juliane jeden Tag zu sehen und zu hören bekam und dann am Abend dem Vater mitteilte, der daraus seine eigenen Schlüsse zog. Sie ging nie den direkten Weg. Zu gefährlich. Sie schlich hinter Mauern, neben Hecken und an den Ufern der Neiße entlang. Es fielen Schüsse. Man hörte immer Schreie, immer ein Weinen, immer ein Wimmern. Julchen hatte Angst. Immer Angst. Tag für Tag. Ein ganzes Jahr.
Unendlich viele Durchhalteparolen musste Julchen täglich über sich ergehen lassen. Mach Dich unsichtbar! Du musst unauffällig und demütig sein. Geh immer mit gesenktem Kopf. Nicht stolz und hochmütig sein. Wir sind die Verlierer. Du darfst die fremden Soldaten nicht wütend machen. Das könnte uns alle ins Unglück stürzen. Es könnte uns allen das Leben kosten. Julchen gehorchte.
Einmal, so erzählt Juliane, sei sie nach einem langen Tag über die kleine Brücke nach Hause gegangen. Von Weitem schon habe sie die betrunken lamentierenden Soldaten kommen sehen. Sie hielt ihre Milchkanne, das gesamte Tagewerk, fest an sich gedrückt und versuchte, auf den Boden schauend, sich wieder einmal unsichtbar zu machen. Doch dieses Mal half es nichts. Einer der drei habe mit einem festen Tritt ihr die Kanne aus der Hand getreten. Das Kind musste zusehen, wie sich ihr gesamter Schatz in vielen kleinen Milchäderchen über die Pflastersteine ergoss. Grölend seien die drei dann weitergezogen, und Julchen kam an diesem Abend mit leeren Händen nach Hause.
So verging ein knappes Jahr, und nun war es so weit. Julchen beobachtete schon seit Tagen, wie sie ihrem eigenen Zuhause immer näher kamen. Viele Häuser in der Nachbarschaft waren schon geräumt. Wer sich weigerte, sein Heim zu verlassen, wurde erschossen. Viele Schreie, viele Tränen. Und immer diese Angst. Jetzt standen sie auch in Julchens Zuhause.
Nachdem die Tür eingetreten worden war, schaute die Familie in fünf auf sie gerichtete Gewehrläufe. Es wurde nur geschrien. Dawai, dawai. Wie einstudiert, ergriff jeder seinen eigenen Rucksack, und widerstandslos mit gesenktem Blick verließ die Familie das Haus. Genauso, wie es der Vater seinen Töchtern zuvor immer wieder eingebläut hatte.
Alles ging so schnell, sagt Juliane. Auf der Straße warteten schon andere zusammengetriebene Nachbarn, die in Reihen aufgestellt auf ihre Leidensgenossen warten mussten. Es herrschte eine unheimliche Stille. Nur das Brüllen der Soldaten und das Klappern der metallbeschlagenen Stiefel waren zu hören. Die beiden älteren Schwestern nahmen Julchen in die Mitte. Die Mutter ging neben den Schwestern, der Vater in der Reihe dahinter. Als ob er seine Mädchen im Auge behalten wollte.
Mit Tritten und Gewehrkolben wurde die Gruppe in Gang gesetzt. Plötzlich vergaß Julchen die strengen Anordnungen des Vaters und rief entsetzt „Meine Puppe, meine Puppe! Ich habe Barbara vergessen! Sie hat bestimmt Angst, so alleine." Wie oft hatte Julchen in den Nächten, in denen die Gewehrsalven der Feinde zu hören waren, Barbara im Arm gehalten und fest an sich gedrückt. Barbara hatte immer so große Angst vor diesem Kriegslärm. Diese schreckliche Todesangst. Und wer sollte nun auf Barbara aufpassen?
Die Schwestern drückten Julianes kleine Hände vorwurfsvoll zusammen, um ihr anzudeuten, sofort den Mund zu halten. Die Mutter zischte ebenfalls „Still Kind, sei still". Doch nun regte sich Widerstand in dem kleinen Mädchen. Der kleine Kinderkörper wurde von einer Lawine schrecklicher Gefühle durchgeschüttelt. Dieses merkwürdige Gefühl, das plötzlich Besitz von ihr ergriff und unter dessen Schmerz sie fast zu ersticken drohte, war etwas, was Julchen bis zu diesem Moment weder von sich selbst kannte noch ahnte, dass es so etwas Starkes, Zerstörerisches überhaupt gibt. Unbändige Wut. Sie hasste die Soldaten.
Julchen wollte nicht mehr still und demütig sein. Sie wollte schreien, laut alles aus sich herausschreien. Aber sie durfte die Soldaten nicht böse machen. Es könnte uns alle das Leben kosten, hatte der Vater ja immer wieder gesagt. Dieses Gefühl wollte raus und durfte nicht. Sie musste doch unsichtbar bleiben. Doch es musste irgendwohin. Dieser Schmerz, der sie vom Kopf bis zu den Füßen durchzog, wie ein Blitz, der niemals enden wollte. Und plötzlich konnte Julchen all das nicht mehr ertragen. Es prasselten all diese Gefühle auf ihre Seele nieder. Wie ein Hagelschauer aus Schmerz, Hass, Tränen und unendlicher Trauer. Julchen weinte innerlich „Kinderseelentränen".
„Ich habe meine Puppe vergessen – sie hat bestimmt Angst, so alleine"
Dawai, dawai! Nach etwa einer halben Stunde kam die Gruppe in einem Zwischenlager an, um dort auf die Deportation zu warten. Julchen sprach kein Wort mehr. Der Vater schwor seine Kinder erneut darauf ein, zusammenzubleiben, damit beim Abtransport ins Ungewisse niemand verloren ging. Doch Julchen hörte nicht mehr zu. Sie hatte nur noch das große Tor des Lagergeländes im Auge, das sich regelmäßig bei Neuankömmlingen öffnete und schloss. In einem günstigen Moment gelang es dem Mädchen, unbemerkt durch das halb offene Tor zu entkommen. Sie lief um ihr Leben. Sie könnte es schaffen. Ungefähr ein halbe Stunde hin und eine halbe Stunde zurück. Bis dahin werden sie die Familie schon nicht weggebracht haben. Sie konnte nicht anders, sie konnte Barbara diesen schlimmen Menschen nicht schutzlos überlassen. Sie musste Barbara holen.
Als Julchen am Christkindlsteig ankam, zog es ihr den Boden unter den Füßen weg. Alle Türen und Fenster waren bereits zugeschlagen und vernagelt. Aussichtslos. Der Verlust legte sich über das Kind wie ein bleierner Mantel, der sie fast erdrückte. Sie verharrte zunächst völlig regungslos. Dann ging Juliane langsam zum Sammellager zurück.
„Kinderseelentränen sieht man nicht", sagt Juliane. Sie ist heute 84 Jahre alt und leidet an Demenz. Juliane ist nicht ihr richtiger Name. In Zeiten akuten Pflegenotstandes und knapper Kassen werden die persönlichen Bedürfnisse von Demenzkranken oft durch lässige Beschäftigungspläne überdeckt. Einzelbetreuung? Nur wenn noch Zeit übrig bleibt. Demenzpatienten, die unter den verschiedensten Kriegstraumata leiden, werden oft mit ihren Ängsten und Nöten alleine gelassen. Doch gerade in der Demenz empfinden sie die schrecklichen Erlebnisse des Krieges viel intensiver. Nur nicht über den Krieg sprechen. Doch Validation setze am Gefühl an und nicht am Verstand, so Dr. Svenja Sachweh, Kommunikationsexpertin für Demenzkranke. Denn Gefühle bleiben länger erhalten als der Verstand. Auch die Ängste, die man als Kind im Krieg ertragen musste. „Ich lebe in Gefangenschaft mit meinen grausamen Erinnerungen", sagt Juliane. Aber solange das Credo lautet „so viel wie nötig, so wenig wie möglich", solange klappert nur die Mühle am rauschenden Bach.
Juliane war depressiv. Doch sie fühlt sich besser, wenn sie von den alten Erlebnissen berichten kann. Heute ist sie ausgeglichener. Selbst ihre erwachsenen Kinder wissen nicht viel von Julianes Geschichte. Ein Leben lang hatte ihre Mutter diese Erlebnisse tief im Inneren verborgen gehalten.