Harry Kane hat einen langen Weg und viele Täler hinter sich. Mittlerweile zählt er zu den besten Stürmern der Welt. An der White Hart Lane verehren sie ihn, dabei fing alles beim Nachbarclub Arsenal London an.
Ein kleiner pummeliger Junge, daneben Weltstar David Beckham und ein Mädchen. Hört sich bis auf David Beckham erst einmal unspektakulär an, doch bei genauem Hinsehen sind die markanten Gesichtszüge von Harry Kane zu erkennen. Das Mädchen daneben ist heute übrigens seine Frau – und er ein großer Weltstar. Daran geglaubt hat damals niemand so wirklich.
Geboren in einer passionierten und fußballverrückten „Spurs"-Familie wuchs Harry nur fünf Meilen von der White Hart Lane – der Heimstätte Tottenhams – im Norden Londons auf. Als Achtjähriger spielte er für die Ridgeway Rovers, den gleichen Club wie David Beckham, dann fiel er einem Arsenal-Scout auf. Er verbrachte ein Jahr in der Akademie der „Gunners", bis er eines Tages von seinem Vater das positive Denken übernommen hat, wie Kane im vergangenen Februar der „Players Tribune" anvertraute. „Mein Dad legte seinen Arm auf meine Schulter und sagte: ‚Also, Harry … Arsenal hat dich freigestellt.‘ Ich weiß nicht mehr, wie ich in diesem Moment fühlte – ich war zu jung. Aber ich weiß, wie mein Vater reagierte. Er kritisierte nicht mich. Er kritisierte nicht Arsenal. Er sagte nur: ‚Mach dir keine Sorgen, Harry. Wir werden härter arbeiten, und wir werden einen anderen Club für dich finden, okay?‘" Wie der ehemalige Direktor der Jugendakademie des FC Arsenal, Liam Brady, dem „Corriere della Sera" gestand, hat man den Stürmer einst bei den Gunners für nicht gut genug befunden: „Er war pummelig, nicht sehr athletisch, und wir lagen komplett falsch", sagte Brady. Brady räumte ein, dass das eine falsche Entscheidung gewesen sei. Aber auch bei den Spurs hatte Kane am Anfang Probleme: „Selbst Tottenham verlieh ihn drei- oder viermal zu Teams in niedrigeren Ligen. Aber mit Entschlossenheit arbeitete er an einer großen Karriere. Er hat alles verdient", meinte Brady.
Zwei Jahre später nahm sich Tottenham der Ausbildung des Zehnjährigen an. Doch fast wichtiger war das Verständnis des Vaters auf der Parkbank und dessen Optimismus, den der mittlerweile zweifache Premier-League-Torschützenkönig verinnerlichte. Es half ihm später in den durchwachsenen Anfangsjahren als Profi, meistens in Englands zweiter Liga. „Die herausragende Qualität schon in der Jugend war sein unbändiger Glaube an sich selbst", sagte Les Ferdinand, Kanes ehemaliger U21-Trainer bei Tottenham. „Er wusste immer ganz genau, was er wollte." Harry Kane sieht in der Niederlage in jungen Jahren den Grundstein für seine Karriere: „Rückblickend war die Arsenal-Sache das Beste, was mir je passiert ist. Es gab mir einen Drive, der vorher nicht da war." Während seiner Leih-Engagements bei Leyton Orient, Millwall, Norwich und Leicester City war Kane kein schlechter Stürmer – aber kein Herausragender. Es waren die Erfahrungen, die er dort machte, die ihn erst zum Torjäger machten.
Eine Doku über Tom Brady spielte bei seiner Entwicklung ebenfalls eine große Rolle. Dieser war wegen seiner speziellen Physis bei der Talenteauswahl („Draft") der National Football League im Jahr 2000 von den New England Patriots nur an 199. Stelle gezogen worden. Als Quarterback führte Brady die Patriots zu fünf Super-Bowl-Titeln, er wurde einer der bekanntesten Sportler weltweit. „Ich war hin und weg", sagte Kane über den heutigen „Goat" des Footballs (Greatest of all time). „Es war, als ob an diesem Tag ein Licht in meinem Kopf aufging. Dort, auf meiner Couch in Leicester." Im folgenden Sommer lehnte Kane weitere Leih-Angebote ab. „Es war, als könnte ich meinen Kindheitstraum, für Tottenham zu spielen, vor meinen Augen sehen." Coach Tim Sherwood gab ihm die erste Chance, unter Nachfolger und seinem aktuellen Trainer Mauricio Pochettino wurde Kane zum Stürmer von Weltformat. „Er ist etwas Besonderes, ein Killer", sagte Pochettino. „Es ist eine besondere Fähigkeit." Und diese zeigt sich darin, dass er in den vergangenen beiden Spielzeiten mit 25 und zuletzt 29 Treffern zweimal Torschützenkönig der Premier League wurde. Und Torschützenkönig bei der Weltmeisterschaft.
Teuerster Spieler der Welt
Der ehemalige Tottenham-Profi und -Trainer Glenn Hoddle ist überzeugt davon, dass Kane der „bedeutendste Stürmer" der Vereinsgeschichte werden kann. Der frühere Mittelfeldspieler erzielte in den 70er- und 80er-Jahren in 490 Spielen für die Spurs 110 Tore und wird in der ewigen Bestenliste wohl bald von Kane überholt werden. Mit 108 Toren steht Kane aktuell auf Platz 14. Um die Nummer eins, Clublegende Jimmy Greaves, einzuholen, braucht er zwar noch 158 Tore. Daran, dass ihm das gelingen kann, gibt es aber keine Zweifel, sofern er gesund bleibt. Und insofern er nicht den Verein wechselt.
250 Millionen Euro wolle Pérez, der Präsident von Real Madrid, Tottenham für Harry Kane bieten, schreibt das spanische Sportportal „Don Balon". Bei einem Transfer stiege Kane damit zum teuersten Spieler der Welt auf. Den englischen Nationalspieler lockt Pérez mit einem Gehalt von 30 Millionen Euro pro Saison. Spurs-Trainer Mauricio Pochettino und die Klub-Bosse der Londoner sind aber schwer von einem Wechsel zu überzeugen. Pérez ist zwar ein großer Fan von Kane und will den Stürmer unbedingt nach Madrid lotsen, dies könnte sich aber nicht nur aufgrund der Verantwortlichen und deren Haltung schwierig gestalten. Denn Harry Kane betonte nicht nur einmal in seiner Karriere, sich vorstellen zu können, nur für die Spurs aufzulaufen. Seinen Vertrag hat er unlängst bis 2024 verlängert. Nach seiner starken Leistung bei der Weltmeisterschaft werden jetzt trotzdem die Großen auf den Plan gerufen. Kane ist der zweite erfolgreiche Engländer nach Gary Lineker, der 1986 bei der WM in Mexiko ebenfalls sechs Tore erzielt hatte. Mit den Finalsiegern Antoine Griezmann und Kylian Mbappé sowie Romelu Lukaku, Cristiano Ronaldo und Denis Tscheryschew teilten sich fünf Akteure mit vier Toren den zweiten Rang.
„Diese Auszeichnung zu gewinnen, macht mich sehr stolz", sagte Kane, der die Ehrung vor dem Turnier als sein Ziel ausgegeben hatte. Diesem ordnete er aber nicht alles unter. Im Gegenteil: Kane stellte sich in den Dienst der Mannschaft. Im letzten Gruppenspiel gegen Belgien verzichtete der fleißige Arbeiter Kane auf einen Einsatz und damit auf die Chance, weitere Treffer zu erzielen.
Englands Teamchef Gareth Southgate betonte im WM-Verlauf immer wieder, dass der Stürmer ein absoluter Teamplayer und vorbildlicher Kapitän sei. Für seinen Club erzielte er 41 Saisontore, 30 davon in der englischen Premier League. Fünf seiner sechs WM-Treffer erzielte Kane in den ersten Gruppenspielen gegen Tunesien (2:1) und Panama (6:1). In der K.o.-Phase war er nur im Achtelfinale gegen Kolumbien erfolgreich, dort wie bei insgesamt drei seiner Tore per Elfmeter. Im Viertelfinale, Halbfinale und Spiel um Platz drei traf er nicht mehr, im Halbfinale gegen Kroatien vergab er freistehend die große Gelegenheit zum möglicherweise vorentscheidenden 2:0. „Dass es gereicht hat, zeigt, dass wir eine tolle Gruppenphase hatten, in der wir viele Tore geschossen haben", sagte Kane: „Leider habe ich in den letzten Spielen nicht mehr getroffen." Er wurde für England ein wenig zum tragischen Helden. Seinen Platz in den Fußball-Annalen hat er trotzdem sicher.
Kane und Tottenham, das ähnelt einer Art Liebesbeziehung. Ob Real Madrid dazwischenfunken kann, wie schon so oft, bleibt abzuwarten. „Harry Kane –
er ist einer von uns", singen die Fans regelmäßig bei den Spielen. Selbst sein Trainer ließ sich nach einem Doppelpack während der Saison zu der Aussage hinreißen, er sei „in Kane verliebt". Wiederholen wolle er das allerdings nicht, scherzte Pochettino: „Meine Frau ist sehr eifersüchtig. Und seine auch."