Geraint Thomas hat die Vormachtstellung von Christopher Froome bei der Tour de France beendet und ist selbst zum Volkshelden in seinem Land aufgestiegen.
Die verstörenden Nachrichten über sein einstiges Radidol Jan Ullrich haben Geraint Thomas auch in seiner walisischen Heimat erreicht. Der Tour-Sieger dieses Jahres wünschte dem Tour-Sieger von 1997 alles Gute und „dass er seine Probleme in den Griff bekommt. Hoffentlich hat er die Kraft, da rauszukommen", sagte Thomas.
Es war dieser unermüdliche Kampf gegen sich selbst und die Gegner, den Thomas so sehr an Ullrich bewundert hatte, als der noch für sportliche Schlagzeilen sorgte. „Ich habe Jan Ullrich bei seinem ersten Toursieg gesehen", sagte Thomas einmal. „Er hat mich mit seinem Kampfgeist begeistert."
Spätestens seit seinem Triumph auf der 104. Großen Schleife nach 3.351 beschwerlichen Kilometern ist der Sky-Profi selbst ein Idol für Millionen Radfahrer. In Wales ist der 32-Jährige gar zum Volkshelden aufgestiegen, einzig Fußballstar Gareth Bale läuft ihm unter den Sportlern noch den Rang ab. „Wir haben Gareth Bale und einige Rugby-Spieler, aber noch nie hatten wir so einen herausragenden Radprofi", sagt Journalist Gareth Rhys Owen von der BBC über den „Prinz von Wales". Bei Thomas fasziniere vor allem die Mischung: „Geraint ist ein entspannter, ruhiger Typ. Aber auf dem Rad ist er ein echter Krieger."
So etwas lieben die Waliser. Nach Thomas’ Toursieg wurden am Cardiff Castle viele Banner aufgehängt und Flaggen gehisst, zur Nacht wurden das Castle, das Rathaus und mehrere andere Schlösser in Wales feierlich in gelbes Licht getaucht.
Fußballer Bale, der die gleiche Schule wie Thomas besucht hatte, gratulierte via Twitter zu einer „unglaubliche Leistung eines Schulkameraden der Whitchurch High". Auch Großbritanniens Premierministerin Theresa May ließ es sich nicht nehmen, den neuen Sporthelden wissen zu lassen, dass das gesamte Vereinigte Königreich „stolz" auf ihn sei.
„Noch nie hatten wir einen so herausragenden Radprofi"
Wer hätte damit vor einigen Jahren gerechnet? Als Thomas als Kind erste Radrennen fuhr, wurde er wegen seiner etwas pummeligen Figur „Pinguin" gerufen. Heute ist an dem Kletterer kein Gramm Fett mehr, mit Fleiß und Willen hat sich Thomas zu einem Weltklassefahrer gemausert. Zuerst auf der Bahn mit zwei Olympiasiegen 2008 und 2012 in der Mannschafts-Verfolgung, dann auf der Straße mit dem Tour-Sieg 2018 als vorläufigem Höhepunkt. „Träumt groß", sagte der Waliser nach der Rundfahrt an all jene gerichtet, die ebenfalls einen langen und steinigen Weg vor sich haben und trotzdem an höchste sportliche Erfolge glauben: „Wenn Leute dir sagen, du kannst etwas nicht schaffen, glaub’ an dich und bleib’ dran. Alles ist möglich, und harte Arbeit zahlt sich aus."
Thomas ist alles andere als ein Zufallssieger, die Leistungen des besten Tour-Nachwuchsfahrers von 2010 sind seit Jahren kontinuierlich gestiegen. Doch im Sky-Team gab es bereits einen Häuptling: Christopher Froome. Der viermalige Toursieger schwächelte allerdings in diesem Jahr. Vielleicht wegen seines kräftezehrenden Sieges beim Giro wenige Wochen zuvor, vielleicht wegen der Dauerdiskussion um eine erhöhte Dosis an Salbutamol bei einem Dopingtest. Thomas nutzte Froomes Schwäche, ohne seinen Kapitän bloßzustellen. „Wir sind gute Kumpels", sagt Thomas, für den Froome „eine Legende" ist, „vielleicht der Beste aller Zeiten".
So loyal waren in der Tour-Geschichte längst nicht alle Edelhelfer. Bernard Hinault attackierte 1986 seinen Teamkollegen Greg LeMond, auch wenn er im Vorfeld immer wieder betont hatte, davon abzusehen. Auch Froome griff 2012 seinen Kapitän Bradley Wiggins in den Pyrenäen an, nach einigen Metern besann er sich aber wieder, bremste ab und forderte den Gelb-Träger mit einer Handbewegung auf, ihm endlich zu folgen.
Froome, der im Jahr danach seine Tour-Dominanz begann, weiß also, wie bitter es ist, wenn man zurückgepfiffen wird. Deshalb kam es ihm auch nicht in den Sinn, Thomas per Stallorder zu stoppen, zumal sich in Tom Dumoulin vom Team Sunweb ein hartnäckiger Rivale zwischen die beiden Sky-Fahrer geschoben hatte. „Er hatte so großen Anteil an meinen Tour-Siegen", sagte Froome, „jetzt kann ich richtig stolz auf Geraint sein."
Nicht nur wegen Froomes undurchsichtiger Salbutamol-Affäre war bei vielen Fans und auch vielen Profis das Aufatmen groß, dass Thomas das Gelbe Trikot nach Paris trug. „Es ist sowohl für die Zuschauer als auch für uns schön, dass mal jemand anderes gewinnt und stärker ist", sagte Sunweb-Fahrer Nikias Arndt.
„Ich kann richtig stolz auf ihn sein"
Das Problem ist nur: Wieder einmal ist es ein Sky-Fahrer. Zum sechsten Mal in den vergangenen sieben Jahren triumphierte ein Profi aus dem britischen Rennstall beim wichtigsten Radrennen der Welt. Mal abgesehen davon, dass diese Dominanz auf Kosten der Attraktivität geht: Die dunkle Vergangenheit des Radsports lehrt auch, solche Erfolgsserien mit Skepsis zu betrachten. Bei Sky gibt es nach wie vor viele Fragen, die offen sind. In der Asthmamittel-Affäre von Froome sind die Erklärungen für die Absolution für den 33-Jährigen, die von der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA gestützt wird, bis heute sehr umstritten.
Auch die genauen Hintergründe für die mysteriöse Medikamentenlieferung an den ersten britischen Tour-Sieger Wiggins (2012) liegen weiter im Dunkeln. Dem damaligen Teamarzt soll der Laptop, auf dem angeblich die aufklärenden Daten liegen sollen, gestohlen worden sein. An ein Datenbackup hat Sky, das von Teamchef Dave Brailsford so sehr auf Perfektion getrimmt ist, nach eigenen Angaben nicht gedacht.
Hätte Froome die 104. Tour-Auflage gewonnen, wären die kritischen Stimmen noch lauter gewesen. Als Thomas in Paris das Podium bestieg, waren die Pfiffe der Franzosen deutlich leiser als beim Vorjahressieger. Thomas habe Sky „zu etwas Frieden verholfen", schrieb der Telegraph. Die Zeitung „Mirror" war da schon weitaus euphorischer: Der Waliser sei „der blitzsaubere Reklameheld, den der Sport braucht".
So weit werden sich kaum noch Experten aus dem Fenster lehnen, aber zumindest ist Thomas noch nicht in Verdacht geraten. Er beteuert: „Ich mache es auf die korrekte Art, das Team ebenfalls. Es gibt nichts, was ich unternehmen könnte, um dies zu beweisen. Aber das hier wird die Prüfungen der Zeit überstehen."
Die Sky-Dominanz hat natürlich vor allem finanzielle Gründe. Rund 30 Millionen Euro lässt sich der Rennstall sein rollendes Personal kosten – damit ist Sky mit deutlichem Abstand die Nummer eins in der Etat-Wertung. „Sky kann sich hoch bezahlte Fahrer als Helfer leisten, die in anderen Teams Kapitäne wären und selbst die Tour gewinnen könnten", sagt Rolf Aldag, einst Profi und heute Sportlicher Leiter bei Dimension Data. Thomas weiß: „Dieses Team ist bärenstark."
Fahrer wie Mailand-Sanremo-Gewinner Michal Kwiatkowski aus Polen oder Lüttich-Bastogne-Lüttich-Sieger Wout Poels aus den Niederlanden machen Thomas und Froome fast unschlagbar. Und viele Experten sind sich einig, dass Sky in dem erst 21-Jährigen Egan Bernal den Tour-Sieger der Zukunft bereits in seinen Reihen hat. Der Kolumbianer spielte in diesem Jahr in den Bergen für Thomas und Froome die Lokomotive, „aber natürlich möchte ich eines Tages zurückkommen und um Gelb kämpfen", sagt Bernal.
„Er hat eine große Zukunft vor sich"
Das ist nur eine Frage der Zeit, glaubt Teamchef Brailsford. „Ich habe noch nie einen so talentierten 21-Jährigen gesehen", schwärmt er. „Er hat eine große Zukunft vor sich." Für das Supertalent zahlte Brailsford sogar eine Ausbildungs-Gebühr an dessen Ex-Team Androni Giocattoli-Sidermec, was in der Branche eher ungewöhnlich ist. Aber Bernal ist ja auch ein außergewöhnliches Talent.
Bei seinem Tour-Debüt konnte Bernal von Froome und Thomas lernen, wie man mit der Belastung, dem Rummel und auch den Anfeindungen an der Strecke gegen das Sky-Team umgeht. „Die Intensität über die drei Wochen gerade in unserem Team kann man nicht beschreiben oder googeln", sagt Brailsford.
Wie es mit Thomas weitergeht, ist dagegen unsicher. Sein Vertrag bei Sky läuft zum Saisonende aus. Natürlich ist das Team daran interessiert, den aktuellen Tour-Sieger zu halten. Aber der Waliser wird sich genau anhören, was denn seine Rolle sein wird: Kapitän oder wieder nur Edelhelfer für Froome oder gar das aufstrebende Talent Bernal?
Thomas wird sich irgendwann entscheiden und dann wieder wie besessen trainieren – aber auch das Leben genießen. Der Rugby-Fan hat eine Schwäche für gute Pints heimischen Bieres und Party-Abende. „Er liebt es, einen Drink zu nehmen, wenn es Zeit dafür ist, einen zu nehmen", sagt sein langjähriger Coach Rod Ellingworth.