Manitoulin Island in Kanada ist die größte in einem See gelegene Insel der Erde. Auf verschiedenen Trails können Besucher die schöne Natur erwandern oder in die Riten und Bräuche der Ureinwohner eintauchen.
Der nächste Sommer kommt bestimmt. Wie wär’s mit Manitoulin Island in der kanadischen Provinz Ontario? Eine Insel, die die Ureinwohner nach dem Großen Geist Manitou benannt haben. Noch heute sagen sie: „Wir leben auf der Insel Gottes" und haben Recht. Mit 110 Seen ist dieses 2.766 Quadratkilometer große Eiland im Huronsee die weltgrößte Frischwasserinsel. Hier muss niemand dürsten und darben.
Wer über Toronto und Sudbury anreist, erreicht Manitoulin Island über die mächtige Klappbrücke von Little Current, die von 1913 bis 1963 dem Eisenbahnverkehr diente. Nach Entfernung der Schienen und neunjähriger Sanierung fahren dort nur noch Autos, Motorräder und Busse, und bald fällt allen Besuchern auf, wie schön diese Insel mit ihren kleinen Jacht- und Fischerhäfen ist.
In M’Chigeeng (vorher West Bay) lockt sogleich „Maggie’s Café" mit „Home cooking". Das bodenständige, selbst gekochte Essen macht alle satt. Gut so, denn Steve vom Stamm der Anishinaabe wartet schon vor der 1974 gegründeten Ojibwe Kulturstiftung (Ojibwe Cultural Foundation).
Die tut vieles, um die Ojibwe-Sprache der Anishinaabe sowie deren Kultur und Spiritualität zu beleben und zu bewahren. M’Chigeeng ist eines der „First Nations"-Gebiete auf Manitoulin Island. First Nations (anstatt Indianer) ist die heutige respektvolle Bezeichnung der von den Ureinwohnern besiedelten Gegenden und ihrer indigenen Bevölkerung.
Steve (Stammesname Red Sky) wählt den „Great Spirit Circle Trail", den Pfad des Großen Geistes. „Bei uns hat sich Gott (Manitou) nach der anstrengenden Erschaffung der Welt ausgeruht und uns alles gegeben, was wir zum Leben brauchen", erklärt er und zeigt sogleich diverse Heilkräuter, von denen einige auch in Deutschland wachsen.
„Die Gaben von Mutter Erde achten"
Salbei sei gut gegen Erkältung und Goldrute gegen Nieren- und Blasenbeschwerden. Beim Ahornbaum schaut er, ob nicht zuviel Sirup abgezapft wurde. „Die Gaben von Mutter Erde müssen geachtet und in Maßen genutzt werden, damit für andere und unsere Nachkommen genug übrig bleibt", betont er.
Dann lacht er und sagt: „Wer den zuerst gezapften Ahornsirup trinkt, muss gleich aufs Klo. Die Wanderer brauchen aber kein Toilettenpapier, weiches Moos säubert gut und angenehm", so sein Rat. Immer wieder warnt er jedoch vor giftigem Efeu und beguckt kritisch einen Riesenpilz. Der leichte, gut ausgeschilderte Trail endet an einem Felsvorsprung. Steve zeigt in die Ferne, wo der Huronsee durch den Nebel glitzert.
Wandern wird in Ontario groß geschrieben, und so gibt es auf Manitoulin Island zahlreiche Trails von zwei bis 14 Kilometer Länge. Um aber in die Riten und Bräuche der Ureinwohner „hineinzuwandern", geht’s zurück zur Ojibwe Kulturstiftung. Die bietet ein gut gemachtes Museum und einen Laden. Auf dem Gelände stehen weiße Tipis, die typischen „Indianerzelte" zum Übernachten, und ein traditioneller Wigwam. Die Anishinaabe waren Nomaden, all das konnte schnell ab- und aufgebaut werden. Nun wird der Wigwam für Workshops genutzt.
Steve startet mit einer Räucherzeremonie zur Reinigung von Körper und Geist. „Das machen wir jeden Tag zu Hause und im Büro", versichert er und legt etwas Tabak, Zedernholzspäne, Süßgras und Salbei in eine Muschelschale. Das Gemenge zündet er an, hält die Hände über den Rauch und streicht mit ihnen übers Gesicht und sein schwarzes Haar. Genauso tun es nun die Besucher.
Anschließend greift Steve eine Handtrommel und gibt etwas Unterricht. Das Trommeln gilt als Herzschlag von Mutter Erde und steht bei den First Nations hoch im Kurs. Die Pow Wows, die traditionellen Trommel- und Tanzfeste, sind stets die Höhepunkte des Jahres. Ab Juni werden sie auf Manitoulin Island der Reihe nach in den First Nations-Dörfern gefeiert. Zum Powwow in M’Chigeeng Anfang September reisen die Stämme von weither an.
Schließlich wird mit Steves Hilfe noch ein Dreamcatcher (Traumfänger) gebastelt. Aus dünnen, in einem Ring verknüpften Bindfäden entsteht eine Art Spinnennetz, das böse Träume abfängt. Diese Ringe hängen, wie uns später auffällt, auch in der nahen, am 22. Juni 1972 geweihten Kirche Mariä Unbefleckte Empfängnis (Immaculate Conception Church), die den durch eine Propangas-Explosion zerstörten Vorgängerbau ersetzte.
Beim Neubau, geplant von Architekt Manfred May aus North Bay, wurde sofort neues Denken in die Tat umgesetzt: das Miteinander von Christen und Ureinwohnern. Wegen ihres besonderen Aussehens und ihrer Ausgestaltung zählt diese Kirche zu den Must-sees auf Manitoulin Island.
Schon von außen beeindruckt der in Tipi-Form errichtete Holzbau mit den bunten Türen. „Alles an und in dieser Kirche wurde von indigenen Künstlern geschaffen, die Türen von Mervin Debassige, einem Künstler aus unserer Gemeinde. Die zwölf vom Kreuz ausgehenden Strahlen repräsentieren die zwölf Apostel, die die Botschaft Christi in die vier Himmelsrichtungen tragen", erklärt Mary Kelly, die Gemeindebetreuerin.
Kanutour auf dem Ottersee
„Die Zedernholz-Schnitzereien auf den Innenseiten der Türen sind die Stammeszeichen der Anishinaabe. Jeder Vogel und jedes Tier steht für einen Clan. Vor dem Gottesdienst machen auch wir eine reinigende Räucherzeremonie wie die First Nations", ergänzt sie. Das sei inzwischen auch in manch anderen kanadischen Kirchen üblich.
Wunderbar ist der Raumeindruck. Wie im Tipi fällt das Licht von oben in diesen Rundbau, ein Symbol für den Kreislauf des Lebens. Die Gläubigen sitzen auf Stufen um den mit einem großen Kreis geschmückten Altar, als säßen sie rund ums Lagerfeuer. Rechts und links vom Altar hängen tatsächlich die Dreamcatcher, die böse Träume und Gedanken abfangen sollen. Kürzlich sei sogar eine Hochzeit nach den Riten der Ureinwohner gefeiert worden, weiß Steve. Verständlich, dass auch viele Urlauber diese ungewöhnliche Kirche besuchen.
Ebenso gern schauen sie sich die Brautschleier-Wasserfälle (Bridal Veil Falls) an oder machen mit Steve eine Kanutour auf dem Ottersee. „Hier gehen wir immer fischen", verrät er.
Geangelt wird dabei jedoch nicht, und so ist hinterher Eiscremeschlecken bei „Farquhar’s" angesagt, einem Laden mit 60-jähriger Tradition nahe dem „Manitoulin-Hotel" in Little Current. Tolle Sorten, große Kugeln. Wer zwei verzehrt, schafft kaum die nächste Mahlzeit und kann die gesparten Dollars im „Ten Mile Point" – einem roten Gebäude bei Sheguiandah – investieren. Der mit First-Nations-Produkten vollgestopfte Laden ist eine wahre Fundgrube.
Der gute Geist von Manitoulin Island folgt den Weiterreisenden. „Travel in good spirits" steht seitlich auf der Fähre Chi-Cheemaun, die von South Baymouth über den Huronsee nach Bruce Island fährt. Bei Sonne ist das ein zweistündiger Spaß (www.ontarioferries.com).
Auf Anhieb gefällt auch der Zielhafen Tobermory, ein beliebter Ausflugs- und Ferienort. Die Terrasse vom „Fish & Chip Palace" ist zumeist voll besetzt. Andere Lokalitäten machen die Gäste mit saftigen Steaks, Schokoladen-Kreationen, leckeren Eiscremes und echtem Cappuccino glücklich.
Nervenkitzel mit Aussicht
Im Hafen wimmelt es von Jachten und Motorbooten. Vor allem die Fahrt mit einem Glasbodenschiff ist für viele ein Muss. Einige unterbrechen den Mini-Törn, um auf Flowerpot Island (Blumentopfinsel) zu baden, in den Felsen herumzuklettern und zu wandern. Ihren Namen verdankt sie zwei Felstürmen am Wasser. Je nach Perspektive ähnelt der eine aber eher einer Frau oder einem stehenden Bären.
Spannendere Wanderpfade warten jedoch im Nationalpark von Bruce Island, so etwa der Georgian Bay Trail. Ab dem Parkplatz geht’s zunächst auf einem simplen Waldweg zu einem Naturbadeplateau mitsamt einer Höhle (nur für schlanke Schwimmer!). Danach wird der Trail hoch über dem blauen Wasser oft zur Klettertour für Schwindelfreie. Nervenkitzel mit Aussicht.
Noch eins drauf setzt ein Hubschrauber-Flug. Kein Billig-Vergnügen, aber ein Erlebnis. Heli-Pilot John Mark zieht weite Schleifen über die unter Naturschutz stehenden Inseln im Fathom Five National Marine Park. Unter Wasser ist auch das Wrack der „Sweepstakes" zu erkennen, die 1895 unterging, und nun die Taucher begeistert. Klitzeklein wirkt aus der Höhe Tobermory und sein Hafen. Nun eine letzte Kurve und eine perfekte Landung. Wie schnell sind die teuren zwölf Minuten vorbei, doch missen möchte sie niemand und auch nicht die mystischen Erfahrungen auf der „Gottes-Insel" Manitoulin Island.