Alice In Chains hat bis heute weltweit mehr als 30 Millionen Alben verkauft. William DuVall ist seit 2006 ihr Co-Leadsänger und Rhythmusgitarrist. Auch mit dem neuen Frontmann klingt die Band noch immer dunkler und düsterer als die anderen Gruppen aus Seattle. Auf dem aktuellen Album „Rainier Fog" singt DuVall mit großer Hingabe über sein neues Leben.
Herr DuVall, der Titelsong „Rainier Fog" ist eine Hommage an Grunge-Bands wie Nirvana, Soundgarden und Pearl Jam. Manche meinen, Rockmusik sei etwas von gestern, weil die Zeit, in der wir leben, eine Zeit sei, die keine Subversion mehr brauche.
Wir denken nicht in Begriffen wie „zeitgemäß" oder in Schubladen wie „Grunge". Wir machen einfach Musik. Keine einzige Gruppe aus Seattle würde sich selbst als Grungeband bezeichnen. Alice In Chains macht zwar Rockmusik, aber unser Klangspektrum reicht von heavy bis akustisch. Die Beatles, Queen oder Led Zeppelin, mit denen wir aufgewachsen sind, waren ähnlich geartet wie wir.
„Rainier Fog" ist Alice In Chains’ dritte Zusammenarbeit mit Foo-Fighters-Produzent Nick Raskulinecz. Warum haben Sie ihn wieder mit ins Boot geholt?
Nick ist ein sehr enthusiastischer Mensch, der eine positive Energie verströmt. Im Studio spielt er dauernd Luftgitarre und Luftschlagzeug, um einen anzufeuern. Er liebt die Musik wirklich. Wir erwarten von einem Produzenten in erster Linie, dass er Enthusiasmus verbreitet. Es ist eine ungemein ehrliche Zusammenarbeit, weil wir unsere Stärken und Schwächen mittlerweile sehr gut kennen. Zwischen Nick und uns gibt es keine Geheimnisse und auch keine falsche Höflichkeit. Für den Mix zeichnet sich diesmal Joe Barresi verantwortlich, der mit Queens Of The Stone Age gearbeitet hat. Er hat das Album aus Sicht eines Produzenten abgemischt. Wir haben einen klar definierten Sound.
„The One You Know" stammt aus der Feder von Jerry Cantrell und wurde angeblich von David Bowies 1975er-Hit „Fame" inspiriert.
Jerry hat sich lediglich von dem Rhythmus bei David Bowie inspirieren lassen. Klanglich hat unser Stück überhaupt nichts mit „Fame" zu tun. Das ist ja gerade das Tolle an dem Beruf des Songschreibers: Man kann sich von etwas ganz Konkretem inspirieren lassen, aber wenn der Song dann fertig ist, würde niemand darauf kommen, was ihn ursprünglich ausgelöst hat.
Sind die 70er-Jahre für Sie die wichtigste Ära der Rockmusik?
Schwer zu sagen, wir lieben auch viel Musik aus den 60er-Jahren. Ohne Hendrix wäre ich kein Musiker geworden; er hat die 70er gar nicht mehr erlebt, aber sie trotzdem sehr geprägt. Wir mögen auch Black Sabbath, Led Zeppelin, die Beatles, Elton John, David Bowie und Motown-Musik. Ich bin mit dieser Band inzwischen ein paar Mal um die Welt getourt. Das ist sehr cool! Manchmal fühlen diese zwölf Jahre sich an wie eine Ewigkeit, manchmal wie fünf Minuten.
Wie haben Sie sich nach Layne Staleys tragischem Tod in Alice In Chains hineingearbeitet?
Als ich 2006 zur Band stieß, musste alles sehr schnell gehen. Ich habe mich quasi auf Tour in die Band eingearbeitet und musste vor Publikum beweisen, dass ich der
Richtige bin. Hätte ich es nicht geschafft, hätte ich es vergessen können. Zum Glück habe ich früher viel in Bars und Clubs gespielt. Die vielen Konzerte haben uns zu einer Einheit gemacht, was dann der Antrieb war, in ein Studio gehen zu wollen. In diesem Sinne habe ich meinen Platz in der Gruppe ziemlich schnell gefunden. Andererseits ist eine Band ein fragiler Organismus, der sich ständig verändert.
Wollten Sie die Band in eine neue Richtung führen?
Eigentlich nicht. Das Besondere an dieser Platte ist, dass wir sie in Seattle aufgenommen haben, wo die Band einst startete. Ich musste mir in diesen drei Monaten die Frage stellen, welches mein Platz in der Band und dieser Szene ist, während die anderen mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wurden.
Was zeichnet das Seattle von heute aus?
Seattle ist nicht mehr so wie in den 80ern, als Nirvana und Alice In Chains anfingen. Aber nach wie vor ein wunderschöner Ort mit interessanten kreativen Menschen. Der Sommer in Seattle ist herrlich. Das Wetter, die Landschaft, das Meer – all das hat einen Effekt auf die Moleküle in der Luft. Diese wiederum beeinflussen das Denken und ergo auch den Sound, den du spielst. Einen Song auf der Platte haben wir direkt in Studio X geschrieben, er heißt „Never Fade". An dem Tag saß ich im Studio herum und sinnierte über mich, die Band und diesen Ort, an dem Acts wie Neil Young, Pearl Jam, Johnny Cash und die Foo Fighters gearbeitet haben. Chris Cornell war einen Monat zuvor gestorben, und auch der Tod meiner Großmutter lag noch nicht lange zurück. All diese Gefühle konnte ich nur dort haben. Das ist ein Beispiel, wie ein Ort deine Arbeit direkt beeinflussen kann.
Hatten Sie in Seattle auch Zeit, Jimi Hendrix’ Grab zu besuchen?
Das habe ich diesmal nicht getan. Aber meine Mutter kam mit meinem kleinen Sohn und meiner Freundin vorbei, und wir fuhren raus, um Wale zu beobachten. Das hatte ich noch nie getan. Wir besuchten auch das Museum der populären Kultur. Die haben dort einen riesigen Imax-Screen, wo sie regelmäßig das Benefizkonzert zeigen, das ich für Jimmy Page und Led Zeppelin gespielt habe. Ich stand dabei mit Leuten von Guns N‘ Roses, Mudhoney, den Black Crowes, den Screaming Trees und Free auf der Bühne. Page saß direkt vor mir, während wir seine Songs spielten. Eigentlich sollte ich nur drei Stücke performen, aber tags zuvor wurde ich gebeten, doch das ganze Konzert zu spielen. Es war nervenaufreibend! Jedenfalls gingen meine Familie und ich um 11.55 Uhr in das Imax-Kino, und dort lief genau dieser Konzertfilm! Es war echt cool!
Was ist Jimmy Page für ein Mensch?
Er ist wundervoll! Was für eine Ehre, ihn getroffen zu haben, oh mein Gott! Jimmy Page ist ein visionärer Gitarrist und Produzent. Er hat Weltmusik und Rock’n’Roll miteinander verschmolzen wie kein anderer. Jimmy Page ist für mich eine lebende Legende und ein Idol. Ich weiß noch, wie mir bei dem Tribute-Konzert gesagt wurde, ich solle auf keinen Fall erwarten, dass Jimmy Page auf die Bühne kommt. Er wird auf keinen Fall mitspielen, sondern nur zuschauen. Diesen Satz hörte man dort den ganzen Tag. Als es dann endlich soweit war und ich mitten im Konzert einen Scherz machte, indem ich sagte: „Jimmy, du kannst jederzeit zu uns auf die Bühne kommen!", nahm er meine Aufforderung ernst und spielte tatsächlich „Rock’n’Roll" mit uns. Es war verrückt! Er stand direkt neben mir und machte all diese legendären Page-Posen. Ich konnte es nicht fassen. Und genau in dem Moment, wo Jimmy und ich uns angrinsen, hat jemand Klick gemacht und mir dann das Foto geschickt. Ich finde, als Musiker sollte man immer auch Fan bleiben.
Die Grunge-Generation war eine eher traurige Generation. Welche Einstellung zum Leben haben Sie heute?
Ich finde, man sollte das Leben nicht als Selbstverständlichkeit ansehen. Wir sind eigentlich nur für einen Wimpernschlag auf der Erde. Was nach uns kommt, wissen wir nicht. Das Leben ist ziemlich hart, und es passieren gerade viele unschöne Dinge auf unserem Planeten. Ich glaube, dass wir geboren werden, um in der kurzen Zeit unserer Existenz etwas Bleibendes zu erschaffen. Deshalb sollten wir das Beste aus unserem Leben machen. Ich habe in meinen 50 Jahren schon einige Menschen viel zu früh gehen sehen. Deshalb möchte ich das Leben feiern. Einige unserer Songs sind ziemlich düster, aber sie haben einen reinigenden Effekt. Man kann damit Dampf ablassen und das Publikum ebenso.
Warum leben viele Musiker auf Messers Schneide? Liegt das in der Natur ihres Berufs?
Das Leben als Musiker ist ziemlich hart. Man kann mit dem Finger auf die Musik- und Entertainment-Industrie zeigen, aber am Ende des Tages liegt dein Schicksal allein in deiner Hand. Jeder zu früh verstorbene Musiker hat seine eigene, spezifische Geschichte, dazu kommen sicher auch allgemeine Aspekte. Leider treffen manche Musiker die falschen Entscheidungen und sind dann gefangen in einem Kokon, der ihnen nicht gut tut. Das ist immer sehr traurig. Aber wir hier sind noch da, und das wollen wir jetzt feiern.
Sie haben Philosophie studiert. Welches waren Ihre Schwerpunkte?
Religion und spirituelle Praxis. Weil ich wissen wollte, warum wir alle hier sind und wie man es besser machen kann. Wie kann ich die Wahrheit über unsere Existenz herausfinden? Mich hat schon immer interessiert, wie die Menschen in der Antike ihre Zeit und ihr Leben interpretiert haben, die Griechen, die Römer, die Ägypter. Ich glaube, dass niemand eine befriedigende Antwort auf diese philosophischen Fragen hat, aber wenn man sich einmal damit beschäftigt, findet man immer etwas, das für einen persönlich funktioniert. Meiner Großmutter war es sehr wichtig, dass ich auf die Uni gehe. In unserer Familie war ich der erste. Schon als Student habe ich Musik gemacht und bin auf Tour gegangen. Ich weiß noch, wie ich meine Arbeiten immer nachts im Tourbus geschrieben habe und damit direkt zur Uni gefahren bin, damit ich sie noch rechtzeitig abgeben konnte.
Warum haben Sie nicht gleich Musik studiert?
Weil ich den Begriff Musik mit größtmöglicher Freiheit verbinde. Ich wollte nie reglementiert werden. Das funktioniert mit mir nicht. Ich will lieber mein ganz eigenes Ding machen.
Ihre erste Band Neon Christ gilt als Pionier des Hardcore-Subgenres Powerviolence. Ist das in die Musik von Alice In Chains mit eingeflossen?
Man findet sicher einige dieser Elemente bei Alice In Chains wieder. Und zwar vor allem in der Haltung. Uns ist Unabhängigkeit sehr wichtig. Deshalb nehmen wir unsere Alben immer auf eigene Rechnung auf und suchen uns erst nach Fertigstellung eine Plattenfirma. Und nach ein paar Jahren bekommen wir die Rechte am Master zurück. Das alles ist Teil der Punk-Philosophie, nach der ich immer gehandelt habe. Platten fallen ja nicht vom Himmel; man muss dafür ein Studio buchen und sie im Schweiße seines Angesichts aufnehmen. Am Ende werden sie in einem Presswerk auf eine Scheibe gepresst. Mit Neon Christ haben wir schon viele Jahre vor der Erfindung des Internets mithilfe von weltweiten Underground-Vertrieben unsere Musik unter die Leute gebracht. En Retour bekamen wir handgeschriebene Briefe aus Japan, Italien und Polen. Wie toll das war für einen jungen Menschen. Erst als ich zu Alice In Chains stieß, kam ich mit einem Majorlabel in Kontakt. Diese Band arbeitet vielleicht mit einer größeren Maschinerie, aber sie kontrolliert so viel wie möglich selbst. Das ist für mich Punk.