Seit Jahrhunderten ist die Menschheit fasziniert von Doppelgängern. Doch wie ist es, wenn man heute einer Prominenten zum Verwechseln ähnelt? Ein Tag im Leben der zweiten Angela Merkel.
Blick in den Spiegel, Blazer richten, durchatmen. Dann tritt Angelika Sindulka aus der Garderobe ins Freie. Obwohl sie zu einem Filmdreh eingeladen wurde und jeder hier weiß, wer sie ist, sind die Reaktionen die gleichen wie draußen auf der Straße. „Hallo, Frau Bundeskanzlerin", ruft ein junger Mann. Zwei Mitarbeiterinnen der Produktionsfirma bitten um ein Selfie. Eine andere tuschelt: „Die macht ja sogar die Raute. Sicher, dass das nicht die echte Merkel ist?"
Angelika Sindulka kennt solche Sprüche. Sie hört sie auf dem Weg zur Arbeit, beim Bäcker, auf Geburtstagsfeiern und beim Einkaufen. Die 63-jährige Berlinerin hat eine Eigenschaft, die nur wenige Menschen mit der deutschen Bundeskanzlerin teilen: Sie sieht aus wie sie – und ist dementsprechend gefragt. Diesmal ist sie nach Köln geflogen, um an einem Video mitzuarbeiten, das der Fernsehsender Sat.1 im Rahmen der Fußball-WM zeigt. Die Bundeskanzlerin, so wird es später aussehen, geht vor dem Spiel in die Kabine und singt mit der deutschen Nationalmannschaft. Ein lustiges Stück, das durch die Merkel-Doppelgängerin umso spritziger wirkt.
Das Make-up ist aufgetragen, die Perlenkette Merkel-gerecht ausgewählt. Fehlt nur noch die passende Frisur. In der Maske holt Sindulka ihr Handy hervor, auf dem ein Foto der Kanzlerin gespeichert ist. Die Maskenbildnerin nickt und greift zum Glätteisen. Was Sindulka an diesem Tag tun muss? „Sei wie Mutti", instruiert sie die leitende Redakteurin. „Positioniere dich in der Kabine, mach’ die Merkel-Gesten, gib den Spielern die Hand." Ihr Manager flüstert: „Immer schön die Mundwinkel nach unten! Du sollst nicht schön aussehen – du sollst wie Angela Merkel aussehen."
Passanten winkten ihr zu
Dass sie einmal so gefragt ist, hätte sich Sindulka bis vor einigen Jahren nicht träumen lassen. Lange Zeit lächelte sie es weg, wenn Freunde und Familienmitglieder sie auf ihre prominente Doppelgängerin hinwiesen. Irgendwann häuften sich die Vorfälle: Ein Mann sprach sie im Bus an. Passanten winkten ihr zu. Ein Ehepaar verfolgte sie bis nach Hause, um den Namen „Merkel" auf dem Klingelschild zu finden. Für Sindulka gab das den Ausschlag. 2014 meldete sie sich bei einer Doppelgänger-Agentur an und steht seitdem in der Kartei. Neben ihrem Job in einem Gutachter-Büro ist sie nun eine Schauspielerin, die zwar nicht so spricht wie Angelika Merkel, aber ihr verblüffend ähnelt.
„Eigentlich sehe ich mich gar nicht so", sagt Sindulka, und doch sei sie eben da, diese Ähnlichkeit, deretwegen so viele Passanten zum Smartphone greifen. Dabei ist die Faszination mit dem menschlichen Spiegelbild beileibe kein neuzeitliches Phänomen. Schon in der Antike gab es Doppelgänger-Mythen, und im alten Rom war der doppelköpfige Gott Janus eine bekannte Figur. Janus, so hieß es, kennt die Zukunft und die Vergangenheit zugleich – einerseits eine schaurige Vorstellung, andererseits beruhigend im Angesicht der Tatsache, dass menschliches Leben vergänglich ist. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum Doppelgänger bis heute begeistern: weil sie dem Tod trotzen. Selbst wenn ein Mensch stirbt, lebt sein zweites Ich weiter.
Heute finden sich Doppelgänger nicht nur in der Religion, sondern durchaus auch im Alltag. Politiker engagieren sie als Lebensversicherung. Sowohl der irakische Diktator Saddam Hussein als auch Terrorist Osama bin Laden sollen mehrere Doubles gehabt haben, um sich vor Feinden zu schützen. Bei aktuellen Promis wird ebenfalls immer wieder spekuliert, ob sie in zwei- oder gar dreifacher Ausführung existieren. Klar, dass Hollywood es liebt, dieses uralte Motiv filmisch auszuschlachten – von „Star Trek" bis „James Bond" wird fast überall das menschliche Spiegelbild bemüht, was in Zeiten von Klonen und DNA-Manipulation nochmals schauriger anmutet. Die Deutschen scheinen einen besonderen Hang zu diesem Thema zu haben; immerhin hat es der Begriff „doppelgänger" sogar ins englische Vokabular geschafft.
Häufig sind Doppelgänger, ganz wörtlich, ein Spiegel der Gesellschaft. Wie eine Fieberkurve lässt sich an ihnen ablesen, welche Politiker, welche Stimmung, welche Trends die Menschen gerade bewegen. Oder auch nicht. „Am beliebtesten sind Musiker", sagt Jürgen Tebbe, Geschäftsführer der Doppelgänger-Agentur „New Lookalikes" aus Troisdorf bei Bonn. Natürlich sollten künstlerische Doubles nicht nur wie die Originale aussehen, sondern möglichst auch so singen können – was die Auswahl schon wieder einschränkt. Rund 2.000 Alter-Egos hat Tebbe laut eigenen Angaben in seiner Datenbank, von Daniel Craig bis DJ Ötzi. Wer so etwas bucht? „Zu 80 Prozent Firmen", sagt Tebbe. Von Betriebsfeiern über Messeauftritte bis hin zu Werbeshootings sei alles dabei.
Politiker-Doubles füllen eher eine Nische. Aber auch daran lässt sich ablesen, wer gerade in ist: Bill Clinton und George W. Bush werden kaum noch gebucht; Barack Obama, Kim Jong-un und Donald Trump hingegen schon. Oder Angela Merkel. Woran sich auch zeigt, dass Doppelgänger nicht nur ein lustiger Zeitvertreib, sondern durchaus ein lukratives Geschäftsmodell sind. Angelika Sindulka verrät nicht, wie viel sie damit verdient. Agenturchef Tebbe spricht von „Tagesgagen weit über dem Hartz-IV-Satz". Im Ausland sind die Doppelgänger schon auskunftsfreudiger. So verriet das amerikanische Trump-Double John Di Domenico einem TV-Sender, dass er bis zu 5.000 Dollar pro Veranstaltung erhalte.
Politiker-Doubles füllen eine Nische
So sind die Einsatzmöglichkeiten für politische Doubles eher begrenzt, denn kaum jemand kann sich seine Geburtstagsparty mit einem 5.000-Dollar-Stargast versüßen. Auch Angelika Sindulka wurde bislang ausschließlich für TV-Aufnahmen engagiert. Einmal machte sie bei einer Was-wäre-wenn-Dokumentation über die Rückkehr zur D-Mark mit. Ein anderes Mal spielte sie bei einem Werbeclip für den kuwaitischen Telekom-Konzern Zain mit. „Dafür war ich eine Woche im Libanon", erzählt die Merkel-Mime. „Das war eine ganz andere Welt mit supernetten Leuten und einem internationalen Team, aber auch mit Soldaten an jeder Ecke."
Seit 2014 wurde Sindulka insgesamt viermal gebucht. Trotz der guten Bezahlung kann sie nicht davon leben, sondern arbeitet weiterhin in einem Gutachterbüro. Die Engagements in der Filmbranche sind für sie eine willkommene Abwechslung vom Alltag. „Es macht Spaß und ist in der Umsetzung ganz einfach. Alle kümmern sich um einen, zwischendurch gibt es gutes Essen." Die echte Merkel müsse bei der Arbeit wohl „deutlich mehr nachdenken". Fühlt sie sich der CDU-Politikerin auch politisch nahe? Sindulka winkt ab: „Mit Politik habe ich nichts am Hut."
Dass Doppelgänger überhaupt so beliebt sind, erklärt sich der Berliner Philosoph und Kulturwissenschaftler Antonio Lucci mit der menschlichen Psyche. „Solche Comedy-Shows sind immer auch der Versuch, mit dem Unheimlichen klarzukommen." Denn genau das seien Doppelgänger trotz aller Komik noch immer: „Sie sind uns nah und fremd zugleich." Gerade in den westlichen, individualistisch geprägten Gesellschaften käme Doppelgängern eine interessante Rolle zu. „Sie helfen, die Einsamkeit nicht zu spüren, weil man eben doch nicht alleine ist", sagt Lucci. Natürlich könne die Erkenntnis, wie ein Promi oder Politiker auszusehen, aber auch einfach nur Spaß machen.
Angelika Sindulka hat nicht das Gefühl, ihre eigene Persönlichkeit zu verlieren. „Ich bin ja nur für einen Tag nicht ich", sagt sie selbstbewusst. „Im Alltag würde ich zum Beispiel nie einen Blazer tragen. Schon das unterscheidet mich von der echten Angela Merkel." Dass sie die Hände manchmal instinktiv zur Merkel-Raute formt, ist ihr nicht unheimlich: „Hab’ ich schon immer so gemacht." Auch sonst wirkt die falsche Merkel ganz anders als die Bundeskanzlerin: die Stimme höher, die Stimmung gelöster, fröhlich und einem Plausch nicht abgeneigt. Doch das kann sich auf Knopfdruck ändern: Kurz vor der Aufnahme steht Angelika Sindulka mit ernstem Blick und durchgedrücktem Rücken vor der Kamera. Ihre Mundwinkel zeigen nach unten.