Hendrik Weydandt brauchte für den Sprung von der Kreisliga in die Bundesliga vier Jahre – ohne Ausbildung in einem Nachwuchsleistungszentrum. Die Geschichte erinnert an die eines Weltmeisters von 2014.
Die Zukunft war eigentlich schon geplant. Betriebswirtschaftslehre studieren, danach Wirtschaftsprüfer werden. Im günstigsten Fall sollte Hendrik Weydandt dann die Kanzlei des Vaters übernehmen. Wie bei vielen anderen Studenten auch sollte der nötige Ausgleich dann auf dem Fußballplatz stattfinden – damals beim Barsinghausener Kreisligisten TSG Groß Munzel. So sah es zumindest im Jahr 2014 aus. Vier Jahre später stellt sich die Sachlage aber komplett anders dar. Der einstige Kreisliga-Kicker ist so etwas wie ein kleiner Shootingstar der Bundesliga geworden.
Eigentlich wurde der 1,95-Meter-Hüne von Hannover für die Zweite Mannschaft verpflichtet, um gegen Teams wie Lupo Martini Wolfsburg, SSV Jeddeloh II, VfL Oldenburg, BSV SW Rehden oder seinen Ex-Verein 1. FC Germania Egestorf/Langreder anzutreten. In seiner Vita stehen aber Einsätze gegen Werder Bremen und Borussia Dortmund. Bei seinem Ex-Verein, dem FC Germania, war er im Sommer 2015 gewechselt. In der Oberliga traf er dann 13 Mal und sorgte in den Aufstiegsspielen mit zwei Toren maßgeblich für den Aufstieg. In der Regionalliga wurde munter weiter getroffen. Mit 26 Treffern in zwei Spielzeiten wurde Hannover aufmerksam und gab ihm einen Amateurvertrag.
Weil Bundesliga-Trainer André Breitenreiter im Sturm Sorgen hatte und den Spieler als ortskundiger Cheftrainer selbst kannte, wollte er in der Vorbereitung „mal schauen, ob er auch bei uns seine Torjägerqualitäten zeigen kann". Weydandt konnte – und hat sich dann auch „als Typ gut präsentiert". Die Einwechslung am ersten Spieltag in Bremen sei ein „klares Signal" gewesen: „Seine Geschichte ist Wahnsinn, aber das hat er sich hart erarbeitet. Das ist kein Zufall." Möglich wurde das vor allem durch starke Auftritte in der Vorbereitung. In neun Spielen traf er zehn Mal. Harte Arbeit ist Weydandt nicht fremd. „Der Schritt von der Kreisliga in die Fünfte Liga war nicht zu verachten", sagt sein alter Jugendtrainer über den ersten großen Karrieresprung des Stürmers. Aber „Henne" sei ein zielstrebiger Mensch, der drangeblieben sei, „ein paar Kilo abgenommen" und sich ständig weiterentwickelt habe.
Nach der Vorbereitung ging das Toreschießen munter weiter. Im Erstrundenspiel des DFB-Pokals beim Drittligisten Karlsruher SC kam der gebürtige Gehrdener in der 82. Minute für Niclas Füllkrug in die Partie und erzielte in der Schlussphase noch die beiden letzten Treffer zum 6:0-Endstand. Danach dann das nächste Highlight. Am ersten Spieltag in Bremen wurde er beim Stand von 0:0 eingewechselt – und schoss nach 77 Sekunden seinen ersten Treffer im deutschen Oberhaus. Sprechen wollte er danach nicht. Das taten andere. „Solche Geschichten schreibt nur der Fußball", schwärmte 96-Kapitän Waldemar Anton. „Er hat jetzt die Latte ganz schön hoch gehängt. Ich bin gespannt, was jetzt noch kommt", orakelte Torhüter Michael Esser. Altbundeskanzler und 96-Aufsichtsratsvorsitzender Gerhard Schröder befand: „Das ist eine wunderbare Geschichte. Jeder würde sich das wünschen."
„Das wäre vermessen"
Nur ziemlich aufgeregt ist der Fleißarbeiter vor seinem ersten Einsatz vor ungewohnt großer Kulisse dann doch gewesen. „Er hat beim Anziehen einiges durcheinandergebracht", witzelte Heldt. Beispielsweise die Schienbeinschoner fast vergessen. Als dann alles geordnet war, dauerte es nicht lange, um nach Zuspiel von Ihlas Bebou freistehend zu vollstrecken. In seinen ersten Profispielen traf er bei insgesamt drei Torschüssen drei Mal. Es gibt schlechtere Debüts auf professioneller Ebene.
Viele Worte will der Stürmer jedoch nicht um sich selbst machen. Sämtliche Interviewanfragen laufen ins Leere. Der erste öffentliche Auftritt fand vor Kurzem auf einer Pressekonferenz statt –
er hatte seinen ersten Profivertrag unterschrieben. Und wie immer werden ganz schnell Parallelen zu ähnlichen Geschichten gebildet. Zu Jonas Hector, der nie in einem Nachwuchsleistungszentrum spielte, oder zu Miroslav Klose. Der Weltmeister von 2014 spielte lange für die SG Blaubach-Diedelkopf, ehe er über den FC Homburg dann beim 1. FC Kaiserslautern landete. Der Rest ist Geschichte. „Miro Klose ist ein wahnsinnig netter Vergleich, der aber viel zu hoch gegriffen ist", sagte Weydandt vor zwei Wochen auf seiner ersten Pressekonferenz als Profi. „Ich sehe schon die Parallelen. Aber Miro hat alles erreicht, was er erreichen konnte. Das wäre vermessen, sich damit vergleichen zu lassen", ergänzte er. Den neuen Kollegen mit der besonderen Vita stufen Kapitän Waldemar Anton und seine Mitspieler als sympathischen Typen und eiskalten Stürmer ein. Der smarte Weydandt hat sich vorgenommen, lieber erst ein paar Mal mitzuspielen, um dann darüber zu reden, wie es sich ganz oben im Sport anfühlt. Wahrscheinlich ist es auch erst einmal schwer zu verarbeiten, in einem Stadion plötzlich vor 50.000 Leuten zu spielen.
Die Medien hätten natürlich gern mehr von dem Shootingstar: Geschichten aus seiner Jugend, über seinen Weg. Sogar seine WG-Mitbewohner wurden schon ausgequetscht. Lediglich einmal äußerte sich der Hüne öffentlich. Bodenständig und ruhig wirkt der 23-Jährige. Dinge die im großen Fußballzirkus einfach keine großen Schlagzeilen machen. Für Horst Heldt ist dieser Stürmer ein Glücksfall. Anstatt auf der ganzen Welt herumzukurven, fand Hannover diesen Stürmer in der Provinz der Nachbarschaften. Aus Kreisliga wurde Bundesliga. Aus 400 Euro im Monat wurden jetzt mehrere Tausend. Anstatt Jeddeloh II heißt es jetzt Borussia Dortmund. Hätte ihm das jemand vor zwei Jahren erzählt, hätte er ihn wohl für verrückt erklärt. Die Zukunft war geplant, jedoch kommt es jetzt ganz anders. Ein Kindheitstraum geht in Erfüllung, und ganz Hannover gönnt es dem Sturmtank.