Nach 36 Jahren will Deutschland wieder eine Fußball-Europameisterschaft ausrichten. Einziger Mitbewerber für die EM 2024 ist die Türkei – und das birgt viel Brisanz.
Am 27. September spannt Alexander Ceferin die Fußball-Welt auf die Folter. In langsamen Bewegungen wird der Uefa-Präsident zuerst einen Briefumschlag öffnen, daraus einen Zettel hervorholen, diesen drehen und in die vielen Kameras halten und schließlich den Namen des EM-Gastgebers für 2024 verraten. Einer wird das Prozedere besonders angespannt verfolgen: Reinhard Grindel. Der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) steht unter Beschuss. Ihm wird ein mangelhaftes Krisenmanagement nach dem WM-Debakel vorgeworfen, der zurückgetretene Weltmeister Mesut Özil hat ihm direkt Rassismus unterstellt. Und kurz vor der EM-Vergabe brachte den früheren CDU-Bundestagsabgeordneten eine pikante E-Mail-Affäre in die Bredouille. Grindel braucht diese Europameisterschaft unbedingt. Sollte der Favorit Deutschland gegenüber dem einzigen Mitbewerber Türkei den Kürzeren ziehen, wäre der in Medien und auch an der Basis wenig beliebte Grindel nicht mehr zu halten.
Doch die Entscheidung hat eine viel größere Tragweite als das Einzel-Schicksal des DFB-Präsidenten. Es geht um den gesamten deutschen Fußball, der gerade droht, international abgehängt zu werden. Das blamable wie verdiente WM-Vorrundenaus in Russland war ein Warnschuss für die Nationalmannschaft. Davon haben auch die Bundesligaclubs in den vergangenen Jahren im Europacup zuhauf kassiert.
„Es wäre für den deutschen Fußball wichtig", sagt deshalb Bundestrainer Joachim Löw über eine Heim-EM in sechs Jahren. Er selbst war beim Sommermärchen 2006 als Assistent von Jürgen Klinsmann dabei, als die Nationalmannschaft bei der WM im eigenen Land mit einem erfrischenden Fußball auf Platz drei und in die Herzen der ganzen Nation stürmte. Die Aussicht auf ein großes Turnier würde dem Fußball hierzulande einen neuen Schub geben, glaubt Löw, der der Vergabe zuversichtlich entgegenblickt: „Der DFB hat alles getan, dass die Bewerbung erfolgreich sein wird."
Lahm würde Turnierdirektor werden
Um auf der Zielgeraden den ein oder anderen Unentschlossenen noch für sich zu gewinnen, schickt der DFB frühere Stars ins Rennen. So wird HSV-Idol Uwe Seeler bei der offiziellen Präsentation vor Ort sein und seinen Charme spielen lassen. Das größte Zugpferd ist aber Philipp Lahm. Der Weltmeister ist EM-Botschafter für Deutschland und würde im Falle eines Zuschlages zum Turnierdirektor aufsteigen. Lahm sieht große Chancen, dass er die Nachfolge von Franz Beckenbauer antreten kann.
„Ich bin überzeugt von unserer Bewerbung. Ich glaube an uns, und ich bin zuversichtlich, dass wir die EM 2024 nach Deutschland holen", sagt der Ex-Nationalspieler. Als größtes Plus gegenüber Mitkonkurrent Türkei sieht Lahm die Erfahrungen der WM 2006. Damals habe sich Deutschland „als gastfreundliches, modernes Land und guter Organisator präsentiert", sagte der langjährige Kapitän der DFB-Elf und des Rekordmeisters Bayern München: „Ich bin mir sicher, dass auch die EM 2024 ein Ereignis werden kann, das die Menschen in Deutschland und Europa begeistert und zusammenbringt." Man wolle in Deutschland nach 18 Jahren „wieder ein großes Fußballfest feiern".
Bei einem Zuschlag würden die 51 Partien der 24 Mannschaften in zehn Stadien stattfinden: Berlin, Dortmund, Düsseldorf, Frankfurt, Gelsenkirchen, Hamburg, Köln, Leipzig, München und Stuttgart. „Wir haben moderne Stadien und eine gute Infrastruktur", sagt Lahm: „Bei uns ist der Fußball zu Hause."
Was aber, wenn dieses „Leuchtturmprojekt", wie Grindel die EM-Bewerbung nennt, scheitert? Was, wenn die Exekutiv-Mitglieder der Uefa bei der geheimen Wahl mehrheitlich doch für die Türkei abstimmen? „Eine Absage wäre bitter", gibt Lahm zu. Grindel gestand, dieser Rückschlag würde ihn wohl „noch trauriger" machen als das WM-Aus. Eine Niederlage wäre vor allem deshalb so brutal, weil kaum jemand damit rechnet. Aber bei Turnier-Vergaben sind schon so manche Favoriten auf den letzten Metern gestrauchelt.
Wirtschaftliche Stabilität
Die „Sport-Bild" berichtete zudem, dass Deutschland aus dem Exekutiv-Komitee zwei sichere Stimmen verlieren werde, weil der Italiener Andrea Agnelli beruflich verhindert und der Schwede Lars-Christer Olsson an Leukämie erkrankt und ebenfalls abwesend sein wird. Somit würden nur noch 16 Exko-Mitglieder über den EM-Gastgeber 2024 entscheiden. Eine einfache Mehrheit reicht, bei Unentschieden liegt es an Uefa-Präsident Ceferin.
Die Bewerbung aus Deutschland hat neben der oft nachgewiesenen Organisationskraft einen weiteren großen Vorteil gegenüber der türkischen: die wirtschaftliche Stabilität. Die Bundesregierung gab diverse Garantien, zudem ist mit steuerlichen Vorteilen zu rechnen. Die aktuelle Wirtschaftskrise in der Türkei soll der Uefa dem Vernehmen nach große Sorgen bereiten. Die türkische Lira verliert enorm an Wert, die mittel- und langfristigen Folgen sind unabsehbar.
Dass die Sport-Organisationen wenig Skrupel haben, große Events an politisch fragwürdige Autokratien zu vergeben, hat die Vergangenheit bereits gezeigt, siehe die WM 2018 in Russland oder die WM 2022 in Katar. Doch dort konnte man sich zumindest sicher sein, dass die Ausführung des Turniers aus finanzieller Sicht nicht gefährdet ist. Bei der Türkei gibt es Zweifel, auch wenn Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die Europameisterschaft zur Chefsache erklären würde.
Es geht der Uefa aber nicht nur um Absicherung, sondern vor allem um Profitmaximierung. Denn die Europameisterschaft vier Jahre vorher, die auf dem gesamten Kontinent verteilt stattfindet, soll eine Kostenfalle sondergleichen sein. Um das aufzufangen, pocht der Verband bei der EM 2024 auf einen ähnlichen Erlös wie 2016 in Frankreich mit rund 800 Millionen Euro Gewinn.
Unklar ist, inwieweit die Affäre um Mesut Özil dem DFB geschadet und der Türkei geholfen hat. „Die Özil-Story ist für Erdogan wie ein Sommermärchen", meint FDP-Bundestagsabgeordneter Alexander Graf Lambsdorff: „Damit kann er von der katastrophalen Wirtschaftslage und neuen Korruptionsvorwürfen ablenken." In der Tat schlachteten Erdogan und andere türkische Politiker die Geschichte um den zurückgetretenen Nationalspieler, der sich Rassismus im deutschen Fußball ausgesetzt sah, für ihre Zwecke aus.
Große Angst vor dem Scheitern
„Man kann diese rassistische Haltung gegenüber diesem jungen Mann nicht hinnehmen, der so viel Schweiß für den Erfolg der deutschen Nationalmannschaft vergossen hat", sagte Erdogan, mit dem sich Özil und auch Ilkay Gündogan vor der WM hatte ablichten lassen – der Ausgangspunkt des ganzen Ärgers.
Servet Yardimci, der Chef des türkischen Bewerbungskomitees, glaubt, dass sich die unschönen Folgen der Özil-Affäre als Eigentor für Deutschland erweisen werde. „Es ist eine internationale Geschichte geworden und sehr unglücklich", sagte Yardimci dem Magazin „Inside World Football". „Ich hoffe, das wirkt sich zu unseren Gunsten aus, denn Özil hat das alles nicht verdient."
Die deutschen Macher wissen, dass sie zuletzt keine gute Figur abgegeben haben. Deshalb beschlossen Grindel und die Bayern-Bosse Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge, die verbal heftig aneinander geraten waren, bei einem Treffen in München eine Art Friedensvertrag. Außerdem gab es rund um das Länderspiel gegen Frankreich eine Charme-Offensive, rund 20 internationale Journalisten weilten in München und wurden bei einem Gala-Dinner von EM-Siegern von 1972, 1980 und 1996 freundlich und in ungezwungener Atmosphäre auf die Vorzüge der deutschen Bewerbung hingewiesen.
Wie groß die Angst vor einem Scheitern ist, zeigt die jüngste E-Mail-Affäre. Nach Recherchen des Nachrichten-Magazins „Der Spiegel" sollte das Länderspiel der deutschen Nationalmannschaft am 9. September gegen Peru (2:1) zunächst in Frankfurt am Main stattfinden, doch Grindel soll aus Sorge vor möglichen Störungen der berüchtigten Frankfurter Ultra-Szene auf eine Verlegung nach Sinsheim gedrängt haben. Das geht aus einem E-Mail-Verkehr mit seinem Vize Rainer Koch und Generalsekretär Friedrich Curtius hervor, die der „Spiegel" anschließend auch veröffentlichte. Grindel nannte das jedoch eine „ziemlich absurde Diskussion". Er betonte, dass der Hauptgrund für die Verlegung der Wunsch gewesen sei, ein ausverkauftes Stadion zu haben.
Wie auch immer: Dass brisante E-Mails aus dem inneren Führungskreis an die Öffentlichkeit geraten, sagt viel über den besorgniserregenden Zustand innerhalb des weltweit größten Sportfachverbandes aus. Das Fachmagazin „Kicker" hatte kürzlich über die offenbar schlechte Stimmung in der DFB-Zentrale in der Frankfurter Otto-Fleck-Schneise berichtet, zu der Grindel mit seinem Führungsstil beitragen würde. Der Nachfolger von Wolfgang Niersbach weiß, dass er bei einem Scheitern der EM-Bewerbung so gut wie keine Argumente mehr hat.