Nach dem WM-Debakel sollte rund um die Nationalmannschaft eigentlich alles auf den Prüfstand gebracht werden. Rund drei Monate später lässt sich festhalten: So richtig viel geändert hat sich bisher nicht.
Die ratlosen Blicke auf dem Podium waren bezeichnend. Dort saßen gleich drei Nationalspieler: Manuel Neuer, der Kapitän. Thomas Müller, das Schlitzohr. Und Julian Brandt, der als wortgewandt und nicht auf den Mund gefallen gilt. Sie waren die ersten, die vor dem ersten Länderspiel nach dem WM-Desaster zur Pressekonferenz erschienen waren. Und die Fragen, die dort auf sie zukommen würden, waren ihnen sicher halbwegs klar. Doch als ein Journalist die Frage stellte „an wer immer sich beflissen fühlt, zu beantworten", was sich denn eigentlich nun überhaupt konkret geändert habe nach dem peinlichen Vorrunden-Aus in Russland und der danach angeblich detaillierten und schonungslosen Aufarbeitung, da schauten alle drei hilflos in der Gegend umher. Sie hofften offenbar, einer von den anderen möge bitte antworten und möglichst eloquent sagen, dass es da doch nicht so furchtbar viel zu sagen gibt.
So ein bisschen erinnerte die Szene an das Auftreten der Nationalmannschaft bei der WM, als sich jeder darauf zu verlassen schien, dass der andere die Situation irgendwie bereinigen wird. Und sie war auch bezeichnend für die bisherige Zeit danach. Denn was sich denn nun wirklich geändert hat seit der WM, das ist schwer zu erkennen. Zumindest wenn man einschneidende Veränderungen oder ein Umdenken in gewissen Fragen als Maßstab nimmt.
Denn als die Nationalmannschaft am 6. September gegen Frankreich erstmals seit der Weltmeisterschaft spielte, standen beim Anpfiff elf WM-Teilnehmer auf dem Platz. Auf der Bank saß derselbe Trainer, neben ihm zumindest einer seiner beiden vorherigen Assistenten und auf der Tribüne derselbe Manager und derselbe Präsident.
Und auch wenn man den Maßstab etwas lockerer nimmt, hat sich seit der Schmach von Ende Juni nicht wirklich viel verändert. Mit Sami Khedira wurde nur ein wirklich prominenter Spieler aus dem WM-Kader von Löw nicht nominiert, obwohl er hätte spielen können und wollen. Hinzu kamen noch Sebastian Rudy, der verletzte Marvin Plattenhardt und Kevin Trapp, aber der war bei der WM dritter Torhüter, und Löw nominierte diesmal nur zwei. Mesut Özil und Mario Gomez waren zurückgetreten. Alle anderen 17 – Jonas Hector verzichtete später aus Belastungsgründen – hatte Löw in seinen ersten Nach-WM-Kader berufen. Im engeren Umfeld gab es die auf den ersten Blick halbwegs markante Änderung, dass Thomas Schneider kein Co-Trainer mehr sein wird. Doch der übernimmt dafür künftig die Leitung der Scouting-Abteilung des DFB.
Kein zentraler Mittelstürmer
Das passte alles irgendwie zur vorherigen Aufarbeitung des sportlichen Desasters. Schon am 30. Juni, drei Tage nach dem entscheidenden 0:2 gegen Südkorea im letzten Gruppenspiel, legten sich DFB-Präsident Reinhard Grindel und seine Präsidiumskollegen in einer Telefonkonferenz fest, dass Löw ganz sicher weiter der Richtige sei. Eine große Analyse, die für eine solche Entscheidung eigentlich die Grundlage sein müsste, hatte der 58-Jährige bis dahin weder erarbeiten noch vortragen können.
Diese Sicherheit des DFB-Präsidiums, ohne dass es Gründe für das Scheitern oder mögliche Maßnahmen gehört hatte, verwundert. Es war wohl eher so zu verstehen, dass Grindel seine Kollegen hinter sich gebracht hatte. Schließlich hatte der DFB-Boss Löws ohnehin bis 2020 laufenden Vertrag schon vor der WM ohne Not bis 2022 verlängert. Grindel erklärte im September bei Sport1, das sei passiert, weil man mit Manager Oliver Bierhoff verlängerte. Dessen Vertrag und der von Löw seien „früher immer parallel" gewesen: „Wir haben uns vor der WM gefragt, wie es wirke, wenn wir mit Bierhoff verlängern und mit Löw nicht."
Mit dieser Verlängerung und schließlich dem erneuten Vertrauens-Votum des DFB nach der WM im Rücken, ergab sich eine kuriose Situation, die Focus Online auf den Punkt brachte: „Am Ende entscheidet Löw selbst, ob er noch der richtige Mann für den Job ist. Solche Chefs wünscht man sich im echten Leben." Der Bundestrainer brauchte dann auch nur drei weitere Tage, um für sich zu entscheiden, dass er weitermachen will.
Danach zog sich Löw zurück, äußerte sich wochenlang nicht, und kehrte Ende August schließlich in einer Pressekonferenz zurück, die letztlich fast zwei Stunden dauern sollte. Darin zeigte er Power-Point-Präsentationen über die Entwicklung des Spiels. Und lieferte als Ergebnis seiner tiefgehenden Analyse am Ende vor allem zwei Gründe für das Scheitern. Man habe zu sehr auf Ballbesitz geachtet und zu wenig Feuer gehabt. Letzteres ist zweifelsohne immer ein Trainer-Problem. Und es ehrt Löw, dass er in Sachen Ballbesitz sehr selbstkritische Worte wählte. „Das war meine größte Fehleinschätzung, dass wir mit diesem dominanten Spiel zumindest die Vorrunde überstehen", hatte er gesagt und fügte hinzu: „Das war fast schon arrogant, ich wollte das auf die Spitze treiben und noch weiter perfektionieren."
Löws voreilige Vertragsverlängerung
Letztlich bot Löws als Befreiungsschlag gedachter Auftritt aber wenig Erhellendes. Von Aufbruchstimmung war an diesem Tag wenig zu spüren, weder auf dem Podium noch bei allen Beobachtern. Auch, weil der an Löws Seite sitzende Bierhoff noch ein wenig blasser rüberkam als der Bundestrainer selbst. Der Manager, der für viele das Gesicht der Entfremdung der Fans von der Nationalmannschaft ist, versprühte wenig Hoffnung auf eine Änderung. Und so schimpfte zum Beispiel Ex-Nationalspieler Stefan Effenberg Anfang September bei „T-online.de" über die bemühte neue Fannähe: „Sie versuchen beim DFB, den Eindruck zu vermitteln, dass sie etwas ändern wollen – aber bisher ist das einfach nicht ehrlich. Es muss von Herzen kommen – und das kommt es noch nicht. Die Wahrheit ist: Es wird Jahre dauern, bis die Fans wieder so richtig Bock auf ein Länderspiel haben." Wann der angekündigte Beirat kommt, wer darin sitzen wird und was er bewirken kann, ist noch offen.
Doch die Wahrheit liegt im Fußball immer auf dem Platz. Und nüchtern-realistische Beobachter verweisen gern darauf, dass dort auch immer Kleinigkeiten entscheiden. Hätte Manuel Neuer 2014 im Achtelfinale gegen Algerien nicht so gut gehalten und das DFB-Team sich am Ende zu einem Sieg in der Verlängerung gequält, hätte es das 7:1 gegen Brasilien und den WM-Titel nie gegeben und Löw hätte vielleicht 2014 zurücktreten müssen. Und hätte Mats Hummels 2018 gegen Südkorea aus kurzer Distanz getroffen, wäre Deutschland wohl nicht in der Vorrunde gescheitert und nicht allerorten die große Krise des deutschen Fußballs ausgerufen worden. Das alles ist wahr und gilt es, zu bedenken. Es ist aber doch auch eine arg verfälschende Analyse. Denn das entscheidende Problem 2018 war, das auch einige Nationalspieler immer wieder durchblicken ließen: Diese Mannschaft, die seit 2015 ja auch „Die Mannschaft" heißen soll, war keine Mannschaft. Es passte außerhalb des Feldes an vielen Stellen nicht und auch nicht auf dem Feld, wo sich beispielsweise Mats Hummels häufig wort- und gestenreich über die mangelnde Defensivarbeit seiner Kollegen beschwerte.
Wie Löw mit solch wenigen personellen Änderungen das Innenleben der Mannschaft wieder herstellen will, bleibt abzuwarten. Sportlich hieß die Antwort: mehr Stabilität. Dies führte dazu, dass Deutschland im ersten Länderspiel nach der WM gegen Weltmeister Frankreich wieder mit vier Innenverteidigern in der Abwehr spielte und sich am Ende über ein 0:0 freute. Das Selbstvertrauen, als Weltmeister jeden Gegner beherrschen und schlagen zu können, war damit aber offiziell zu den Akten gelegt. Wenige Tage später mühte sich das DFB-Team trotz einer schwachen zweiten Halbzeit und dank eines Glückstors zu einem 2:1 gegen Peru, das aber auch keinen Fortschritt darstellte.
Effenberg übt scharfe Kritik
Die größte sportliche Änderung, die Löw auch als Modell der Zukunft präsentierte, war die Versetzung von Joshua Kimmich von der rechten Abwehrseite als Stabilisator in die Zentrale. Das Stabilisieren gelang Kimmich auf seiner Lieblingsposition.
Doch zum einen spielt er sie im Alltag beim FC Bayern nicht. Zum anderen öffnete Löw wieder die endlich geschlossen geglaubte Baustelle des rechten Außenverteidigers und sorgte für noch mehr Gedränge im ohnehin reichhaltig besetzten defensiven Mittelfeld. Zudem fehlt, spätestens nach den Rücktritten von Sandro Wagner und Mario Gomez – auf die Löw ohnehin immer nur zögerlich setzte –, immer noch ein Mittelstürmer. Den brauche man nicht, weil die Spanier auch mit einer falschen Neun alles gewonnen hatten, lautete jahrelang auch Löws Credo. Nun standen in Frankreich und Kroatien zwei Teams mit echtem Mittelstürmer im WM-Finale. Deutschland hat aber auch mangels Qualität immer noch keinen. In den beiden September-Spielen begann Marco Reus als vorderste Spitze und blieb ohne Wirkung.
Es bleibt also in jeder Hinsicht spannend, wo der Weg dieser Mannschaft hinführt. Die grundsätzliche Qualität ist zweifelsohne vorhanden. Doch das war sie auch schon bei der WM.