Mit Erpressung und Betrug erzwang Hitler 1938 das Münchener Abkommen. Frankreich, England und Italien ließen sich vom deutschen Führer einlullen. Die Sudetendeutschen, die Hitlers Hartnäckigkeit zuerst bejubelten, büßten später mit dem Verlust von Heimat, Hab und Gut.
Ob in London oder Paris, Rom oder Berlin, überall die gleichen Bilder: Zehntausende jubelnde Menschen, die ihren aus München zurückkehrenden Regierungschefs zujubelten. Europa atmete auf. Englands Premierminister Neville Chamberlain, Frankreichs Ministerpräsident Edouard Daladier und Italiens Duce Benito Mussolini hatten den von Adolf Hitler gewollten Krieg in letzter Sekunde abwenden können. Die Freude in Westeuropa war überschäumend. Viele Tschechen dagegen weinten, wie das „Prager Tagblatt" am 1. Oktober 1938 schrieb.
Die Reaktionen galten dem Münchener Abkommen vom 30. September 1938, das bei einer europäischen Gipfelkonferenz in der bayerischen Metropole unterzeichnet worden war. Darin verlor die Tschechoslowakei ein Fünftel ihres Gebietes, das Sudetenland, und ein Viertel ihrer Bevölkerung, vor allem die über drei Millionen Sudetendeutschen, ans Deutsche Reich. Unter Ausnutzung der Sudetenfrage hatte der deutsche Diktator einen weiteren Gebietsgewinn erpresst.
Das „sudetendeutsche Problem" war so alt wie die nach dem Ersten Weltkrieg aus der Erbmasse des Habsburgerreiches hervorgegangene tschechoslowakische Republik. Und ebenso wenig wie die Donaumonarchie wusste der neue Prager Staat die Probleme einer Vielvölkergemeinschaft zu bewältigen. In ihm standen 6,5 Millionen Tschechen fast ebenso vielen Nicht-Tschechen gegenüber, nämlich 3,3 Millionen Deutschen, 2,5 Millionen Slowaken und einigen anderen kleineren Minderheiten.
Tschechoslowakei war der große Verlierer
Ernsthafte Versuche, die Sprengkraft des Minderheitenproblems zu entschärfen, waren unterblieben. Die Sudetendeutschen – von der ziemlich starken Sozialdemokratie bis hin zur bürgerlichen Mitte – probierten zwar die parlamentarische Zusammenarbeit mit der Prager Regierung. Doch das hinderte die Tschechen nicht daran, den Spielraum des deutschen Bevölkerungsteils langsam, aber stetig einzuengen. Die Verdrossenheit der Deutschböhmen wuchs.
Das machte sich Hitler zunutze. Er schwang sich vor der Weltöffentlichkeit zum Anwalt des Selbstbestimmungsrechtes der unterdrückten deutschen Minderheit auf. In Wirklichkeit bediente er sich der Deutschböhmen als Werkzeug, um Prag zu erobern und die tschechoslowakische Republik zu vernichten. Zum Krieg entschlossen, sprach der Diktator von Millionen unterdrückten Sudetendeutschen und dachte dabei an die Divisionen, die diese stellen würden. Ihn lockte die böhmisch-mährische Industrieregion, ihre Agrarproduktion und ihr hoher militärischer Nutzen als strategische Bastion im östlichen Mitteleuropa.
Die Sudetendeutsche Partei Konrad Henleins übernahm in Hitlers Krisenszenario den ihr zugewiesenen Part. Anfänglich erstrebte sie lediglich mehr Eigenständigkeit für die Sudetendeutschen im Prager Staat. Im Frühjahr 1938 verabredete sie mit Hitler die Strategie, von Prag immer mehr zu verlangen, als erfüllbar war. Zuletzt schließlich übernahm sie offen Hitlers Anschluss-Devise. Bereits Ende Mai 1938 verkündete der Reichskanzler in einer „Geheimen Kommandosache", seinen „unabänderlichen Entschluss", die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu „zerschlagen". Ihm lag an einer Zuspitzung der Krise. Prag blieb vorerst unnachgiebig.
Die Stimmung seiner Verbündeten geriet ins Wanken. Die Londoner „Times" widersprach am 3. Juni 1938 offen dem Prager Kurs: Die Sudetendeutschen hätten einen „unbezweifelbaren Anspruch" auf eine Korrektur der im Versailler Vertrag begründeten Ungerechtigkeit. Erst im September 1938 gab Prags Staatspräsident Eduard Benesch nach und bot den Sudetendeutschen die Selbstverwaltung an. Henlein erklärte, jetzt sei es zu spät.
Verbündete entzogen die Unterstützung
Am 19. September setzten die Gesandten aus Paris und London dem Prager Verbündeten die Pistole auf die Brust: Wenn Prag den Sudetendeutschen das Selbstbestimmungsrecht – also den Anschluss an Deutschland – verweigere, könne es nicht mehr mit Unterstützung rechnen. Das war die Wende. Prag sah sich von allen verlassen. Nun verschärfte Hitler die Gangart. Jetzt forderte er alles auf einmal, die Abtrennung der Sudetengebiete, und zwar ohne Abstimmung. Der Aufmarsch für die „Aktion Grün" – Angriff auf die Tschechoslowakei – lief an.
Wieder versuchte Englands Premier Chamberlain auf dem Obersalzberg und in Bad Godesberg Hitler von seinen radikalen Forderungen abzubringen. Vergeblich. Der „Führer und Reichskanzler" blieb entschlossen zum Angriff. Am 26. September 1938 erklärte er vor 20.000 Zuhörern im Berliner Sportpalast: Er habe Herrn Benesch ein Angebot zur Lösung der Sudetenfrage gemacht. Entweder werde er es annehmen und den Sudetendeutschen jetzt endlich die Freiheit geben „oder wir werden diese Freiheit uns selbst holen". Die Entscheidung liege in Beneschs Hand: „Frieden oder Krieg!"
Da schaltete sich überraschend Mussolini ein. Sein Vorschlag: Eine sofort nach München einzuberufende Viererkonferenz – Deutschland, England, Frankreich, Italien – solle die Krise beenden, und das ohne Hinzuziehung von Prag. Hitler akzeptierte, vielleicht auch im Wissen um die Kriegsunlust der Deutschen. Als am Spätnachmittag des 27. September eine motorisierte Division in feldmarschmäßiger Ausrüstung durch Berlin rollte, blieb der erhoffte Beifall der Bevölkerung aus.
Auch Chamberlain willigte ein. Damit brachte er den ihm bekannten Plan einer deutschen Offiziersrevolte gegen Hitler für den Fall des Angriffs auf die Tschechoslowakei zum Scheitern. Die Rettung des Friedens war dem Verständigungspolitiker wichtiger. So kam es dann am 30. September 1938 zu der Münchener Vereinbarung zwischen Chamberlain, Daladier, Mussolini und Hitler. Kern der Vereinbarung: Die an der Konferenz nicht beteiligte Tschechoslowakei musste das überwiegend deutschbesiedelte Sudetenland an Hitlerdeutschland abtreten.
Hitler hatte alle erfolgreich getäuscht
Einen Tag später rückten dort unter dem Jubel der Sudetendeutschen die deutschen Truppen ein. Der Wettlauf gegen den Krieg schien gewonnen. Chamberlain gab sich bei seiner Rückkehr nach London erleichtert: „Friede in unserer Zeit!" Noch klang die Beteuerung Hitlers in den Ohren, dass er über das Sudetenland hinaus keine weiteren Gebietsforderungen habe. Eine Lüge. Am 21. Oktober 1938 befahl er, die „Erledigung" der abwertend titulierten „Rest-Tschechei" militärisch vorzubereiten. Fünf Monate später, im März 1939, war mit der Besetzung der Tschechoslowakei und der Proklamation des „Protektorates Böhmen und Mähren" auch dieses Ziel erreicht, wieder mit erpresserischer Gewalt.
Die britische Politik des „Appeasement", der Versuch, den mit Drohungen und Erpressungen agierenden deutschen Diktator durch Entgegenkommen zu zähmen, war gescheitert. Neville Chamberlain sei jedoch kein Schwächling gewesen, wie es ein hartnäckiges Klischee wolle. Vielmehr verkörperte er, wie Professor Hans-Peter Schwarz in seiner Analyse „Das Gesicht des 20. Jahrhunderts" schreibt, den „Prototyp des verantwortungsvollen Realisten an der Spitze einer Demokratie, die ihre Ruhe haben möchte." Chamberlain habe nicht erkannt, dass er es bei Hitler mit „einem der gefährlichsten Ungeheuer der Weltgeschichte" zu tun hatte. Winston Churchill, der seit 1934 hartnäckig vor einer Politik des Nachgebens gegenüber Hitlerdeutschland gewarnt und die englische Öffentlichkeit irritiert hatte, war hellsichtiger.
Chamberlain und Daladier dagegen registrierten erst nach Hitlers Einmarsch in Prag, dass hier kein nationalistischer Revisionspolitiker am Werk war, sondern ein rassistischer Eroberer. Unter dem Eindruck pazifistischer Strömungen und einer falschen, von ihren Militärs genährten Selbsteinschätzung hatten es Paris und London jahrelang an einer energischen, den Kampf nicht ausschließenden Zurückweisung der vertragsbrüchigen Aktionen Hitlers fehlen lassen.
Vertreibung aus der Heimat nach dem Krieg
Zu den vielen Leidtragenden des Münchener Abkommens gehörten letztlich auch die Sudetendeutschen. Hitler hatte sie für seine expansive Ostpolitik missbraucht. Das mussten sie nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Verlust ihrer jahrhundertelangen Heimat und dem Unrecht der Vertreibung bezahlen. „München" gilt bis heute als zeitloses Symbol für das Versagen demokratischer Mächte gegenüber Tyrannen.