Von der Kathedrale aus dem 5. Jahrhundert übers Mittelalter in die Moderne: Nirgendwo kann man den Wandel Georgiens so gut nachvollziehen wie in der Hauptstadt Tbilissi. Und gerade die junge, offene Generation nutzt vorhandene Freiräume, um den Staat im Südkaukasus zum dynamischen Wirtschaftsstandort und gefragten Kultur-Hotspot zu machen.
Im Schnelldurchlauf scheint auf dem Kakheti Highway Richtung Stadtzentrum die jüngste Geschichte Georgiens vor dem Autofenster vorbeizufliegen. Rund eine halbe Stunde dauert die Fahrt vom internationalen Flughafen in die Innenstadt – an unserem Mercedes-Minivan rumpeln Lkw mit aserbaidschanischem Kennzeichen vorbei, glänzende SUVs deutscher Autobauer, aber auch Kleinwagen, die sichtlich einige Jahrzehnte auf dem Buckel haben. Am Rand der gut ausgebauten Schnellstraße wechseln sich Brachflächen und verlassene Industrieanlagen aus Sowjetzeiten miteinander ab; dazwischen stehen Einfamilienhäuser hinter blau oder grün gestrichenen Metalltoren, manche besser, manche schlechter in Schuss. Und dann wieder tauchen moderne Gebäude neben dem Highway auf, die wie gestrandete Raumschiffe wirken – wie die neue Zollbehörde mit ihren Glasfassaden, in denen sich die Nachmittagssonne spiegelt. Tiflis, auf Georgisch Tbilissi, ist ganz sichtlich eine Hauptstadt, die sich gerade rasend schnell verändert und doch noch reichlich offenliegende Narben der Vergangenheit aufweist.
Klarstes Indiz für diese Dynamik ist der Verkehr auf Tbilissis Straßen – für mitteleuropäische Verhältnisse geradezu chaotisch. Martialisch aussehende Verkehrspolizisten vertreiben in der zweiten Spur Parkende, die gnadenlos dort stehen, wo es sich zu Stoßzeiten eh schon ballt. Hupende Autos, Busse und Laster sorgen für einen dröhnenden Lärmteppich, die Luft ist stellenweise kaum zu atmen. Fahrradfahren? Fehlanzeige. In der Innenstadt wäre das gerade bei der forschen Fahrweise der meisten Autofahrer vermutlich lebensgefährlich. Auch die Fußgänger haben nicht immer gute Karten – wenigstens können sie die meisten breiten Boulevards im Stadtzentrum in mit kleinen Shops gespickten Passagen gefahrlos unterqueren.
Blitzende Bauten neben Altertum
„Kommt, lasst uns aussteigen und ein bisschen durch die Altstadt laufen", schlägt unsere Begleiterin Daria an einem Kreisverkehr unweit des Kura-Flusses vor. Einen kleinen Hügel geht es hier hinauf – zur Statue des Königs Wachtang I. Gorgassali, der im 5. Jahrhundert lebte. Er gilt als „Vater" der Stadt Tbilissi – er soll nach einer Legende bei einem Jagdausflug nahe dem Fluss Kura einen Platz mit heißen Schwefelquellen entdeckt und sich zur Gründung einer Stadt an diesem Ort entschieden haben. Die heißen Quellen gibt es tatsächlich, sie sind mit ihren markanten Kuppeldächern sogar von hier oben zu erkennen.
Im Mittelalter gab es im Viertel Abanotubani rund 65 Schwefelbäder – heute sind es vielleicht noch ein halbes Dutzend, bei Einheimischen wie Touristen gleichermaßen beliebt. Es kostet freilich Überwindung, in das heiße, faulig riechende Wasser zu steigen; doch Badegang und anschließende kräftige Bürstenmassage sollen unter anderem bei Haut- und Gelenkerkrankungen helfen. Der Schwefelgeruch begleitet uns noch eine ganze Weile, während wir über teilweise kopfsteingepflasterte Sträßchen durch die Altstadt laufen.
Einst führte die Seidenstraße hier hindurch. Das innerhalb der alten Stadtmauer liegende Viertel ist Anwärter auf den Unesco-Welterbe-Titel – zu Recht, denn auf relativ engem Raum finden sich hier unter anderem die Sioni-Kathedrale aus dem 5. Jahrhundert, die Metechi-Kirche der georgischen Könige aus dem 13. Jahrhundert und die Große Synagoge. Dazu kommen alte Karawansereien und die zwei- bis dreistöckigen Wohnhäuser, manchmal aus Holz, mal aus Backstein, mit ihren hervorstehenden verzierten Holzbalkonen. Längst ist der Massentourismus hier angekommen. Souvenirlädchen und Cafés reihen sich dicht an dicht, Künstler und Kunsthandwerker bieten Gemälde, Schmuck oder bunt gestrickte Wollsocken an kleinen Ständen an.
Im Café Laila treffen wir den Schriftsteller Archil Kikodze. Der Endvierziger schreibt, seitdem er 21 Jahre alt ist und hat bereits mehrere Preise gewonnen. Er gehört zu den Autoren, die Georgien auf der Frankfurter Buchmesse vertreten. Gerade ist sein Roman „Der Südelefant" auf Deutsch bei Ullstein erschienen – eine manchmal melancholisch angehauchte Hommage an seine Heimatstadt Tbilissi. Die habe sich gerade in den letzten paar Jahren enorm verändert, sagt Kikodze, so wie die georgische Gesellschaft überhaupt. Vieles sei im Umbruch, man suche nach Stabilität. Schon jetzt merke er, dass traditionelle Werte wie die berühmte georgische Gastfreundschaft nicht mehr den gleichen Stellenwert wie früher hätten, vieles sei mittlerweile kommerzialisiert. Gespannt sei er, wie sich das weiterentwickle – er setze auf die „neugierige und offene junge Generation".
Raum für kreative Geschäftsideen
Unsere Begleiterin Daria schaut auf die Uhr, sie hat es eilig, will uns noch so vieles zeigen. Die Ukrainerin kam vor sieben Jahren nach Tbilissi, lernte hier Georgisch, überwiegend im Selbststudium und arbeitet nun als freiberufliche Reiseveranstalterin und Autorin. Sie könne sich momentan gar keinen spannenderen Ort zum Leben vorstellen, sagt die Endzwanzigerin. Vieles sei in Bewegung, ständig eröffneten neue Läden, Cafés, Bars, Restaurants. Noch gebe es den Freiraum, Geschäftsideen einfach auszuprobieren. Zumal sich auch junge Unternehmer die Gewerbemieten – zumindest außerhalb des Stadtzentrums – noch leisten könnten.
Von den etwas ausgetretenen Pfaden in der Altstadt geht es nach Sololaki, das erst langsam von Touristen entdeckt wird. Im 19. Jahrhundert war das Viertel sehr wohlhabend. Hier hatte die erste Bank Georgiens, die Kaukasische Kreditgesellschaft, ebenso ihren Sitz wie die erste Zeitung in georgischer Sprache, in der der junge Stalin Anfang des 20. Jahrhunderts seine Gedichte veröffentlichte. Die einst prunkvollen zwei- und dreistöckigen Wohn- und Geschäftshäuser kommen heute größtenteils reichlich ramponiert daher. Roh liegt der Backstein unter dem abgefallenen Putz, die früher üppigen Verzierungen der Fassaden sind oft nur noch in Fragmenten vorhanden. Doch mitunter erlebt man Überraschungen beim Blick in hochherrschaftliche Treppenhäuser: Auch wenn die Marmorstufen von Rissen durchzogen sind, lässt sich erahnen, wie es hier vor gut 100 Jahren wohl aussah – Wände und Decken sind in Rot- und Türkistönen gestrichen, das Dekor ist einem maurischen Palast nachempfunden. Kein Wunder, dass die Straßenzüge im Sololaki-Viertel Tbilisi einst zu seinem Ruf als „Paris des Kaukasus" verhalfen.
Einst das „Paris des Kaukasus"
Und trotz verrosteter schmiedeeiserner Balkone und bröckelnden Stucks tut sich etwas. So ist in einem der so typischen Innenhöfe das erste „Farm-to-Table"-Restaurant der georgischen Hauptstadt eröffnet worden. Giorgi, Irakli und ihre Familien bringen im „EZO" traditionelle georgische Küche auf den Tisch, zubereitet mit Lebensmitteln aus Bio-Anbau. Für Georgien, das mit seinem Obst- und Gemüseanbau eigentlich als Gewächshaus des Südkaukasus gilt, immer noch ein Novum. Dementsprechend mühselig ist es noch für die Restaurantbetreiber, Kunden und Lieferanten gleichermaßen von ihrer Philosophie zu überzeugen.
Mittlerweile betreibt „EZO" ein eigenes Treibhaus und arbeitet mit Biobauern aus der Bergregion Swanetien zusammen. Die können durch den Verkauf an das Restaurant zusätzliche Einnahmen erzielen. Und die Betreiber von „EZO" sind noch einen Schritt weitergegangen: Sie bieten erstmalig Touren zu ihren Zulieferern, unter anderem in der Weinregion Kachetien, an. Der Versuch, ausländischen Besuchern ein Stückchen authentisches Leben auf dem Land näherzubringen ist ein weiteres Mosaiksteinchen in ihrem Nachhaltigkeitskonzept. Eines, das bei Erfolg sicher auch Nachahmer fände.