Lydia Korte ist Selfie-Forscherin an der Universität Siegen. Ein Gespräch über die Selbstinszenierung mit dem Smartphone, über Unterschiede, wie Männer und Frauen sich selbst fotografieren – und warum Selfie-Sticks gerade bei Asiaten beliebt sind.
Frau Korte, sind Menschen, die Selfies von sich machen, eigentlich versteckte Narzissten?
Dann wären wir doch fast alle narzisstisch. Wer macht denn heutzutage keine Selfies? Das sind häufige Vorurteile, die aber nicht haltbar sind. Denn ein Narzisst beschäftigt sich ausschließlich mit sich selbst, ihm sind in der Regel die Anderen relativ egal. Er fragt sich nicht, wie er auf andere wirkt. Aber einer, der Selfies macht, möchte Anerkennung von den Anderen, möchte sein Bild teilen und in der Gruppe gut ankommen. Das ist eher nicht typisch für Narzissten.
Warum fotografieren wir uns denn selbst? Kameras haben wir doch schon länger, aber früher spielten Selfies keine Rolle.
Wir tun es, weil wir damit unmittelbar kommunizieren können. Und weil es so einfach ist. Ein Selfie ist kein Selbstporträt im fotografischen Sinne, es ist mehr eine Kommunikationsform. Man macht es in der Regel, um es zu veröffentlichen und mit einer Gruppe zu teilen. Diese Möglichkeit bieten Fotoapparate nicht. Tatsächlich begann der Siegeszug der Selfies mit dem ersten Apple-Handy, das eine Kamera integriert hatte. Als die sozialen Netzwerke aufkamen, waren sie ein zusätzlicher Beschleuniger für diese Art der Fotografie.
Das heißt, nur weil es technisch so einfach ist, tun wir es?
Ja, in gewissem Maße schon. Mit Smartphones ist es kinderleicht, ein Selfie zu machen, es zu teilen und es mit Likes bewerten zu lassen. Eine neue Interaktionsform. Und wir können auf diese Weise den fremden Blick eines Fotografen umgehen.
Also wollen wir immer nur das Bild produzieren, das wir von uns haben?
Noch bis vor wenigen Jahren haben wir es eher einem anderen überlassen, dass er ein Bild von uns macht. Wir mussten ihm vertrauen, geduldig warten und am Ende hat er vielleicht etwas anderes in uns gesehen, als wir es gerne hätten. Mit einem Selfie können wir diesen Schritt komplett umgehen. Wir entscheiden, wie wir aussehen wollen, wie wir uns darstellen. Wir haben die Macht über unser Bild. Das ist für viele unheimlich reizvoll.
Sie haben sich Tausende Selfies zu Forschungszwecken angesehen. Gibt es Unterschiede, wie Männer und Frauen sich da zeigen?
Oh ja, die gibt es. Männer zeigen sich oft gerne frontal und von unten. Sie wollen so Stärke und Dominanz ausdrücken, vielleicht auch größer wirken. Frauen fotografieren sich gerne von oben, nutzen oft kindliche und niedliche Posen. Tatsächlich ist es so, so bestätigen es auch die Forschungen von Nicola Döring, Wissenschaftlerin für Medienpsychologie, dass Selfies Stereotyp-Verstärker sind. Die auf Instagram oder Facebook gezeigten Selfies bedienen deutlich mehr veraltete Rollenmuster als etwa die in der Werbung. Und die Werbung ist ja nicht gerade bekannt als stereotypfreie Zone.
Es heißt immer, die Menschen schauen am liebsten anderen beim ganz normalen Leben zu. Aber authentische Selfie-Aufnahmen mit Doppelkinn, Bauch und langweiligen Alltagsszenen sind doch rar in den Netzwerken.
Es gibt Selfies, auf denen sich zum Beispiel besonders dicke Menschen fast nackt öffentlich zeigen. Aber auch das sind Inszenierungen oder ironische Statements auf die oberflächlichen Bildwelten in den Netzwerken. Wirklich authentisch ist da wenig, selbst Privatheit und Nähe werden oft nur inszeniert.
Fragt sich, was heute privat ist. Man sieht Menschen, die etwa im Zug ununterbrochen Fotos von sich machen. Sie posen und zupfen zurecht – eigentlich sehr intime Momente in der Öffentlichkeit. Oder nicht?
Eine Generationsfrage. Ich glaube, dass der Wert des Privaten sich verändert hat. Jüngere Menschen sind mit dem Smartphone groß geworden, sie kennen es nicht anders. Sie leben immer mit der Möglichkeit, alles medial zu teilen. Dieser Wert steht vielleicht über dem Wert des Privaten.
Auf Ältere mag diese öffentliche Zurschaustellung befremdlich wirken, weil sie in Zeiten sozialisiert wurden, in denen es diese soziale Bühne nicht gab.
Eine Bühne, die einige scheinbar völlig skrupellos für sich nutzen. Vor einiger Zeit hat ein Mann in Italien vor einem schwer verletzten Unfallopfer am Bahngleis ein Selfie mit Victory-Handzeichen gemacht. Wie lässt sich das erklären?
Menschlich gar nicht. Nun, ich bin keine Psychologin, aber eine mögliche Erklärung ist, dass die Motivation darin besteht, mit dem Bild zu schocken und dadurch Aufmerksamkeit in der täglichen Bilderflut zu bekommen. Das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit ist bei so einem Menschen derart übersteigert, dass es mögliche empathische Regungen überlagert.
Ob das in Bezug auf den Narzissmus eine Entwicklung ist, die in bedenklichem Maße zugenommen hat, dazu gibt es widersprüchliche Studienergebnisse.
Gibt es denn Erkenntnisse zum Gebrauch des Selfie-Sticks? Ich habe den Eindruck, dass vor allem Asiaten sie gerne nutzen. Warum hat sie sich denn da besonders durchgesetzt?
Tatsächlich sieht man mehr Selfie-Stangen-Bilder aus dem asiatischen Raum. Es könnte damit zu tun haben, dass das Accessoire eine größere Distanz zwischen Kamera und Objekt ermöglicht. Eigentlich ist ein Selfie ja dafür prädestiniert, die Emotionen in den Vordergrund zu stellen. Aber viele Asiaten, das kann man an den Reisegruppen beobachten, wollen lieber eine gewisse Distanz zur Kamera wahren. Extreme Emotionalität und Nähe wird in dem Kulturkreis oft als unangenehm empfunden.
Außerdem kommt mit der Selfie-Stange mehr Hintergrund auf das Foto. Das bietet eine bessere Orientierung, wo man überall so war. Manch Reisender, der Europa in drei Tagen macht, kann da ja schnell den Überblick verlieren.