Der 15. Oktober 1963 markierte das Ende der Ära Adenauer. Der erste deutsche Kanzler der BRD hatte entscheidend das westliche Nachkriegsdeutschland geprägt. Andererseits wurde er dafür kritisiert, dass er einen Alt-Nazi auf den Chefsessel des Kanzleramts hievte und das Ziel verfolgte, die Bundeswehr mit Atomwaffen auszustatten.
„Heute steht der Deutsche Bundestag vor Ihnen auf, Herr Bundeskanzler, um für das deutsche Volk dankbar zu bekunden: Konrad Adenauer hat sich um das Vaterland verdient gemacht." Mit diesen Worten würdigte Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, der sich geraume Zeit aus der Garde jüngerer Unionspolitiker ebenso wie Franz Josef Strauß oder Ludwig Erhard Hoffnungen auf die Nachfolge des „Alten aus Rhöndorf" gemacht hatte, das politische Lebenswerk des ersten Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland anlässlich einer Sondersitzung des Parlaments. Die Abgeordneten hatten sich am 15. Oktober 1963, einem Dienstag, im Plenum eingefunden, um im würdigen und festlichen Rahmen den Regierungschef, der trotz seiner 87 Jahre eigentlich kein bisschen amtsmüde war, offiziell zu verabschieden.
Seinen Rücktritt im Verlauf der Legislaturperiode hatte der Vollblut-Politiker Adenauer, der sich selbst für unersetzlich hielt, schon nach seiner vierten Wiederwahl nach dem für die Union verlustreichen Urnengang im September 1961 auf Druck des Koalitionspartners FDP zusagen müssen. Allerdings hatte er clevererweise vermieden, einen konkreten Termin für seinen unfreiwilligen Rückzug zu benennen und stattdessen bis zum Frühjahr 1963 mit allen nur erdenklichen Kniffen und Taktierspielchen versucht, sich doch über die komplette Amtszeit zu retten. Gestürzt wurde er schließlich durch die eigenen Gefolgsleute, die die verheerenden Auswirkungen der „Spiegel"-Affäre für das Ansehen der Adenauer-Regierung seit Ende 1962 zum Anlass genommen hatten, um ihrem Chef die erste und gleichzeitig letzte große Niederlage in der eigenen Partei zu bescheren: Am 23. April 1963 kürte die CDU/CSU-Fraktion mit 70 Prozent der Stimmen Ludwig Erhard, den „Vater des Wirtschaftswunders", zum Nachfolger Adenauers. Mit der Vorgabe, dass der Wachwechsel im Palais Schaumburg Mitte Oktober 1963 erfolgen sollte.
Adenauer ließ sich monatelang feiern
Das eröffnete dem Altkanzler die für demokratische Staaten ungewöhnliche Möglichkeit, sechs Monate lang seinen Abgang perfekt zu inszenieren. Denn statt verbittert und uneinsichtig sogleich nach der herben persönlichen Schlappe zurückzutreten, weil ausgerechnet sein Intimfeind, Wirtschaftsminister Erhard, dem er, im Rückblick völlig zu Recht, jegliche Fähigkeit zum Führen des Kanzleramts abgesprochen hatte, nominiert worden war, ließ sich Adenauer auf einem glänzend organisierten Abschiedsparcours im In- und Ausland monatelang feiern. Teilweise konnte man dabei fast von Huldigungen sprechen, ganz im Stil von Eugen Gerstenmaier, der in besagter Dankesrede Adenauer sogar auf eine Stufe mit Reichsgründer Bismarck gestellt hatte – ein fraglos etwas gewagter Vergleich. Obwohl sich Adenauer mit seiner schier unstillbaren Lust am Regieren und der Etablierung der vorwiegend auf der Richtlinienkompetenz basierenden sogenannten Kanzlerdemokratie zahlreiche, wenn auch in der damaligen deutschen Öffentlichkeit nicht gänzlich unumstrittene Meriten erworben hatte. Beispielsweise die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft, die Westbindung der Bundesrepublik, die Wiederbewaffnung und den Nato-Beitritt, den Lastenausgleich, die Rentenreform, die Aussöhnung mit Frankreich oder die Wiedergutmachung gegenüber Israel.
Selbst Zeitzeugen wie „Spiegel"-Chef Rudolf Augstein oder „Zeit"-Herausgeber Gerd Bucerius, die der vom Historiker Sebastian Haffner so getauften „rüstigen Großvaterfigur" weitgehend kritisch gegenüberstanden, zollten Adenauer im Oktober 1963 ihren Respekt. Bucerius kommentierte die Verabschiedung des politischen Grandseigneurs wie folgt: „So hart kann kein Herz sein, dass es nicht der Schmerz ergriff, als der Alte jetzt doch ‒ sehr spät ‒ den Platz verließ, den er so lange rechtens gehalten hat. Mancher Kummer der letzten Jahre ist vergessen. Adenauer braucht das Urteil der Geschichte nicht zu scheuen. Er war der Größte unserer Zeit."
Auch 55 Jahre nach Ende der Ära Adenauer fällt das historische Urteil über die Arbeit des ersten Bundeskanzlers nach wie vor insgesamt positiv aus. Die Forschung attestiert Adenauer, der entscheidende Weichensteller für den Erfolgsweg der Bundesrepublik Deutschland gewesen zu sein. So formulierte beispielsweise der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer einmal treffend: „Die Bundesrepublik ist im weiteren Gang ihrer Geschichte auf dem Kurs geblieben, den Adenauer eingeschlagen hatte, und sie ist gut damit gefahren."
Kritik gibt es in der Geschichtswissenschaft vor allem an Adenauers Absichten einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr und noch mehr an seiner schon von Zeitgenossen monierten Unbedenklichkeit im Umgang mit NS-Belasteten oder Kollaborateuren der Hitler-Zeit bei Besetzung einiger Spitzenpositionen in der Bundesrepublik. Man denke nur an Hans Globke, den Adenauer zum Chef des Kanzleramtes ernannt hatte, obwohl er aus der NS-Epoche als willfähriger Kommentator der Nürnberger Rassengesetze unrühmlich bekannt war. Die Wiedervereinigung im Jahre 1990 wird hingegen allgemein als langfristige Konsequenz der von Adenauer eingeschlagenen Politik angesehen. Obwohl Adenauer sich sehr wohl bewusst darüber gewesen sei, dass seine Westbindung gegenüber dem diktatorischen Osten die Spaltung kurzfristig kaum würde beheben können, so sei sich der erfahrene Staatsmann doch sicher gewesen, dass sich die nationale Einheit auf lange Sicht doch in Frieden und Freiheit würde verwirklichen lassen. Wie es Adenauer in seiner Bundestags-Abschiedsrede am 15. Oktober 1963 geradezu hellseherisch auf den Punkt gebracht hatte: „Ich bin fest überzeugt, dass dieser Tag einmal da sein wird."
Erhard als der ideale Adenauer-Erbe
Das Ende der Ära Adenauer wurde beileibe nicht erst im Frühjahr 1963 eingeläutet, sondern spätestens im Jahr 1959, als sich der innerparteiliche Kampf ums Kanzleramt immer mehr zugespitzt hatte. Viele in der Union sahen in Erhard den idealen Adenauer-Erben. Der asketische Kanzler selbst hielt seinen schärfsten Kontrahenten für einen ewig zigarrerauchenden Lebemann und vor allem für außenpolitisch völlig talentfrei. Um Erhard als Thron-Prätendenten auszuschalten, wollte Adenauer den populären Wirtschaftsminister als Nachfolger von Theodor Heuss ins Amt des Bundespräsidenten fortloben. Nachdem sich Erhard auf diesen Winkelzug nicht eingelassen hatte, hatte Adenauer zur allgemeinen Überraschung am 7. April 1959 seine eigene Kandidatur für das oberste Staatsamt angemeldet. Er hatte geplant, das bis dahin allein repräsentative Präsidialamt eigenmächtig zur obersten Kontrollinstanz des Kanzlers auszubauen. Nachdem er jedoch eingesehen hatte, dass es für dieses Vorhaben keine verfassungsmäßige Basis gab, zog er seine Kandidatur am 5. Juli 1959 wieder zurück. Sein parteipolitisches Spiel mit dem höchsten Staatsamt stieß auf Unverständnis und Ablehnung in weiten Teilen der Öffentlichkeit und auch in der eigenen Partei.
Auch Adenauers gescheiterter Versuch, neben der ARD in den Jahren 1960/1961 einen zweiten Fernsehsender zu etablieren, der allerdings vom ihm nur als regierungstreuer Hofberichterstatter konzipiert war, fügte seinem Ansehen weiteren Schaden zu. Im April 1961 hatte eine Emnid-Umfrage ergeben, dass zwei Drittel der Bundesbürger ihn nach der anstehenden Wahl nicht mehr als Kanzler sehen wollten. Seine zögerliche Reaktion auf den Mauerbau ab dem 13. August 1961, als er sich erst mit reichlich Verspätung am 22. August 1961 auf den Weg nach Berlin gemacht hatte, ließ seine Popularitätswerte weiter sinken. Die Quittung erhielt er mit der Union bei der Bundestagwahl am 17. September 1961. Zwar blieben CDU/CSU weiterhin stärkste Kraft im Lande, waren aber auf die FDP, die im Wahlkampf die Ablösung Adenauers versprochen hatte, als Koalitionspartner angewiesen. Zwar konnten die Liberalen zu einem Deal überredet werden, aber spätestens mit der „Spiegel"-Affäre und der daraus resultierenden Regierungskrise, die im Dezember 1962 nur durch die Entlassung von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß notdürftig behoben werden konnte, waren die Tage des Kanzlers gezählt. Am 16. Oktober 1963 wählte das Parlament Ludwig Erhard schließlich zu Adenauers Nachfolger.
Parallele zwischen Merkel und Adenauer
Als Angela Merkel im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 nach langem Zögern schließlich doch ihren Anspruch auf eine vierte Amtszeit als Bundeskanzlerin angemeldet hatte, wurden in diversen Publikationen sogleich Parallelen zu den letzten Jahren der Adenauer-Ära gezogen. Inzwischen scheint auch ihr die letzte Amtszeit zunehmend zur Qual zu werden, sie wirkt zusehends angeschlagen und kaum mehr handlungsfähig. Man darf gespannt sein, ob sie die gesamte Legislaturperiode durchstehen wird. Wenn man aus der Geschichte Lehren ziehen möchte, spricht eigentlich alles dagegen. Denn keiner der bislang sieben Regierungschefs der Bundesrepublik Deutschland ist bislang glücklich aus dem Amt ausgeschieden. Nur zwei Kanzler, nämlich Kurt Georg Kiesinger und Helmut Kohl, konnten ihre Amtszeit regulär nach einer Wahlniederlage beenden.