Noch ist der Schweizer Aletschgletscher aus dem Weltall zu sehen, doch die Klimaerwärmung lässt ihn schrumpfen. Wer sich auf eine zweitägige Tour auf dem Eis begibt, erlebt hier beim Gehen meditative Momente.
Die Zahnradbahn stoppt auf 3.454 Meter über dem Meeresspiegel. Sie hält am Jungfraujoch, der höchsten Bahnstation Europas. Nach zwei Stunden Fahrt von Grindelwald her strömen die Touristen in Scharen aus der rotlackierten Bergbahn. Die meisten unter ihnen sind Asiaten, die das Panorama von hier oben genießen wollen. Ihr Ziel heißt Aletschgletscher – der größte und längste Gletscher der Alpen, der sich 23 Kilometer entlang von markanten Bergen wie Mönch und Jungfrau schlängelt.
Doch das Unesco-Weltkulturerbe in den Berner Alpen ist dem Untergang geweiht. Durch die steigenden Temperaturen taut sein Eis. Ständig verliert der Eisgigant an Höhe und Masse. Pro Jahr büßt der Aletschgletscher nach Angaben des Schweizer Bundesamts für Umwelt bis zu 50 Meter ein. Einst betete die Gemeinde Fiesch dafür, dass der Gletscher nicht weiter ins Tal vorrücke. Heute gelten die Gebete dem Stopp der Eisschmelze.
Vom Bergführer lässt sich die kleine Gruppe den Klettergurt anlegen und wird per Seil mit den anderen gebunden. Wir montieren die Steigeisen, gehen wackelig damit erste Schritte. Unsere zweitätige Wanderung startet. Der Tourguide wird uns zur Konkordiahütte führen, dann zum Märjelensee und zur Fiescheralp. Stundenlang stapfen wir nun hinab auf dem Jungfraufirn. Erst durch von der Sonne durchweichte Schneefelder, dann über Geröll mit rostroten, jahrtausendealten Steinen. Es sind die ersten Ausläufer des Aletschgletschers.
Dann setzen wir den Fuß auf blankes Eis. Das Seil wird jetzt straffer angespannt. Der Bergführer nimmt Unerfahrene an die kurze Leine. Er bestimmt das Schritttempo. Man muss im Tempo bleiben und auf den anderen aufpassen, sonst ruckelt es plötzlich am Seil und schon ist der Sturz über einen Felsbrocken da. Jeder muss zuerst in den Rhythmus finden – und seine Angst überwinden, denn: Überall tun sich tiefe Risse und Löcher im Eis auf. Die abgeschliffenen Steine auf dem Eis sind rutschig. Immer wieder muss man Schmelzwasser ausweichen.
Die Gedanken werden ruhiger
Hat man nach zwei Stunden Gehen seinen Rhythmus endlich gefunden, stellt sich ein Flow ein. Die Wanderung wird zur Meditation, zum reinen Genuss. Das konzentrierte Gehen schärft die Sinne. Die Gedanken werden ruhiger, man hört nur noch das rhythmische Klackern der Stöcke und der Steigeisen. Plötzlich ist der Blick frei für blasenartige Strukturen im Eis und dessen unterschiedliche Blautöne. Und man spürt die Energie, die von der Natur ausgeht.
Leider haben wir keine Drohne dabei. Würde man sich jetzt oben auf das mächtige Aletschhorn setzen, würde man sie sehen: Die zwei Linien auf dem Aletschgletscher, die von oben wie überdimensionale Reifenspuren wirken: Die Mittelmoränen, die das Eis der Hauptfirne – sie heißen Kranzberg- und Trugbergmoräne –, trennen.
Schon vom Eisfeld aus ist sie zu sehen: Die in die Felswand geschlagene Stahltreppe, die 150 Meter hinauf zur Konkordiahütte führt. Wir erklimmen die erste von 470 Stufen. Sofort macht sich ein flaues Gefühl im Magen breit. Links und rechts geht es senkrecht hinunter. Kein Blick jetzt für das gegenüberliegende mächtige Aletschhorn und die markante Lötschenlücke, die ins Oberwalliser Lötschental führt. Nur Zittern. Tiefes Durchatmen, als wir die mächtige Aussichtskanzel endlich erreichen. Kaum zu glauben: Einst reichte der Aletschgletscher bis zu dieser Klippe. In den letzten Jahrzehnten musste die Treppe immer wieder nach unten verlängert werden, was den Aufstieg immer mühsamer macht. Die Konkordiahütte ist ein gefährdeter Ort.
Überhaupt der Ausblick. Hier wird klar, warum der Konkordiaplatz, den wir jetzt in seiner ganzen Pracht unter uns sehen, unter Einheimischen auch „Platz der Götter" heißt: Hier vereinen sich die Firnfelder der angrenzenden Vier- und Fastviertausender zum Großen Aletschgletscher. Noch immer wird an dieser Stelle eine Eisdicke bis zu 900 Metern gemessen. Zählt man die Nebenarme mit, liegt hier ein Viertel der Eisreserve der Schweiz. Eine Info-Tafel informiert an der Konkordiahütte darüber, dass im Vergleich zur vorindustriellen Zeit vor rund 150 Jahren die Temperaturen hier um 1,8 Grad gestiegen sind.
Um 5 Uhr früh ist Tagwache. Müde schälen sich die Wanderer aus den Decken und streifen sich ihre Kletterhosen, Steigeisen und Helme mit Stirnlampen über. Die Stimmung ist angespannt, denn: Der Abstieg über das Geröllfeld der Moräne zum Gletscher wird Oberschenkel und Knie stark beanspruchen. Während andere Wanderer die Route hinüber zur Finsteraarhornhütte mit dem gleichnamigen Berg – er ist mit 4.274 Meter über dem Meeresspiegel der höchste Gipfel der Berner Alpen – nehmen, steigt unsere Gruppe den steilen Pfad auf der Seitenmoräne ab. Schweigend gehen wir über eine Mondlandschaft. Nichts als Stille und die tanzenden Lichter der Stirnlampen vor einem. Ab und zu begegnen wir Arnika und Alpen-Rispengras, das neuerdings hier oben wächst.
Dann setzt der Fuß wieder auf dem Eis des Aletschgletschers auf. Nur von oben wirkt er wie ein stabiler gefrorener Fluss, doch seine Spalten sind tückisch. Ständig entstehen neue, weil 26 Milliarden Tonnen Eis langsam bergab rutschen. Dann passiert es: Ich versinke erst bis zur Hüfte im Eis, dann ist unter mir nur noch gähnende Leere. Eine Schneebrücke über einem Gletscherspalt ist eingebrochen. Doch die Gruppe hat das Seil gut gespannt gehalten. Ich kann mich aus dem Loch herausarbeiten und stehe wieder. Nicht nur die Spalten zeugen davon, dass der Gletscher ständig in Bewegung ist, auch Gletschertische. Wir sehen große erratische Steine, die auf Eissockeln stehen.
Wie durch eine Mondlandschaft
Nach sechs Stunden Wanderzeit über den Aletschgletscher ist der Märjelensee erreicht. Sein Blau leuchtet fast überirdisch schön. Auch hier hat sich die Landschaft durch den Klimawandel fundamental verändert. „Noch vor 30 Jahren lag der Aletschgletscher hier so hoch, dass große Eisschollen auf dem Märjelensee trieben", sagt er. Ein Hauch von Antarktis. Die vom Eis befreiten Hänge sind heute sumpfig und teils mühsam zu begehen. Tief bleiben die Wanderschuhe im Morast stecken. Ein Stopp, der Blick geht noch mal zurück über den Eisstrom, der sich sanft das Tal hinabschlängelt. Weiter geht es über einen steilen Pfad hinunter, wo wir endlich das Bergrestaurant „Gletscherstube" auf der Märjelenalp erreichen. Müde werden die Beine ausgestreckt und die Steigeisen abmontiert. Das tun auch die Wanderer, die die Hütte von der Riederalp, Bettmeralp, Eggishorn, Kühboden/Fiescheralp und Fieschertal erreicht haben.
Nicht nur am Märjelensee verändert sich die Landschaft, sondern auch an den Grashängen und in den Wäldern. Richtig was los in der Erde ist auch an der Moosfluh mit der 2.333 Meter hohen Aussichtsplattform, die die Gruppe jetzt anpeilt. Weil immer weniger Eis gegen den Felsen drückt, gerät der Berg hier regelmäßig in Bewegung und droht, ins Tal zu rutschen. Beim Gehen muss man aufpassen, mit dem Fuß nicht in einer der Fels- und Erdspalten hängenzubleiben. Wir sehen hier Geologen bei Führungen, die Touristen Wissenswertes über die vom Eis befreite Zone mitgeben.
Trotz Klimawandel gehört das Aletschgebiet nach wie vor zu den Top-Ten-Destinationen der Schweiz. Der Eisriese hat nichts von seiner Faszination verloren. Wer auf ihm wandert, erlebt beinahe meditative Momente. Einmal im Leben sollte man den Großen Aletsch überqueren. So lange er noch da ist.