Einen gut bezahlten Job von der Ausbildung bis zur Rente: Den hatten schon viele der heutigen Ruheständler nicht. Knapp die Hälfte von ihnen bekommt weniger als 800 Euro. Forderungen nach Garantie- oder Mindestrente werden lauter.
Wenn eins ist sicher: die Rente." Mit diesem Wahlkampf-Slogan warb der CDU-Politiker Norbert Blüm im Jahr 1986 für seine Partei. Gut 20 Jahre später war vieles gar nicht sicher im Leben der Wahl-Berlinerin Edith Blücher (Name von der Redaktion geändert). Schon gar nicht ihre Rente.
Nach einem abgeschlossenen Studium, mehreren Berufswechseln und Jahren der Doppelbelastung als Alleinerziehende und Sozialarbeiterin war die heute 58-Jährige gesundheitlich am Ende. Edith Blücher kommt aus einer leistungsorientierten Familie in Mecklenburg-Vorpommern. Wer öfter mit ihr zu tun hat, merkt, wie diszipliniert sie selbst ist. Ursprünglich wollte die zweifache Mutter bis Mitte 60 in Vollzeit weiter arbeiten. Doch ihr Immunsystem machte ihr immer wieder einen Strich durch die Rechnung, ständig fiel Blücher krankheitsbedingt aus. Burn-out, so die Diagnose ihres Arztes. Er riet der damaligen Mittvierzigerin, eine Erwerbsminderungsrente zu beantragen. Fast drei Jahre dauerte Blüchers Kampf, bis sie endlich ihre Rentenbezüge erhielt. „Das war so demütigend", erinnert sie sich. „Ich musste immer wieder Widersprüche einreichen, es wurden immer wieder neue Gutachten erstellt." Ihr Immunsystem sei immer noch durch, sagt die Ruheständlerin. Eine kleine Erkältung reiche schon aus, dann liege sie wochenlang flach. „Außerdem werde ich nicht jünger", sagt die Akademikerin.
Unter dem Existenzminimum
Edith Blücher ist kein Einzelfall. „Annähernd jede fünfte neu bewilligte Rente wird heute an chronisch Erkrankte ausgezahlt", bestätigt auch Christine Hagen, Soziologin beim Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA) in Berlin. Blüchers Rente liegt bei 896 Euro monatlich – und damit immerhin noch um einiges höher als die anderer Frührentner. Laut Angaben der Deutschen Rentenversicherung erhielten Arbeitnehmer, die 2017 erstmalig eine Erwerbsminderungsrente zugesprochen bekamen, im Durchschnitt 716 Euro pro Monat.
Große Sprünge kann selbst Edith Blücher nicht machen. Ein Drittel geht für die glücklicherweise niedrige Miete ihrer kleinen Einzimmerwohnung im Plattenbau drauf, der Rest muss zum Leben reichen. Diesen Monat wird es knapp für die Berlinerin. Ihre Hosen waren so zerschlissen, dass sie neue kaufen musste. Ihr kaputtes Fahrrad musste repariert werden. Außerdem hat sie sich im Oktober den seltenen Luxus geleistet, auswärts essen zu gehen. „Ich habe meinen jüngsten Sohn und seine Frau zum ersten Hochzeitstag ins Restaurant eingeladen", erzählt sie. „Damit waren zusätzlich 70 Euro weg."
Liegt es an der Frührente? Oder anders herum: Wie ergeht es regulären Ruheständlern? Knapp die Hälfte von ihnen bezieht eine gesetzliche Rente von weniger als 800 Euro monatlich, die unter dem Existenzminimum liegt – das geht aus einer Antwort des Bundeswirtschaftsministeriums auf eine Anfrage der Sozialexpertin Sabine Zimmermann (Die Linke) hervor. „Die Zahlen zeigen, dass die gesetzliche Rente allein schon heute bei vielen nicht mehr ausreicht, um den Lebensstandard zu sichern", moniert Zimmermann die Lücke. „Das ist eine dramatische Entwicklung", bestätigt auch Armutsforscherin Christine Hagen. Denn während in anderen Lebensphasen noch Möglichkeiten da sind, etwas dazuzuverdienen, sei dies jenseits der 67 oft nicht mehr möglich.
Und noch etwas wird klar: Es gibt Risikogruppen. „Betroffen von Altersarmut sind vor allem alleinstehende Frauen im Westen, besonders Alleinerziehende, die die durch Kindererziehung und Teilzeitarbeit nicht genügend in die Rentenkassen einzahlen konnten", sagt der rentenpolitische Sprecher der Grünen, Markus Kurth. Das bestätigt auch der letzte Altersbericht der Bundesregierung. Der verweist darauf, dass auch Männer aus Ostdeutschland, Menschen mit prekären Beschäftigungsverhältnissen und gebrochenen Berufsbiografien sowie Zugewanderte in Gefahr sind, in Armut zu geraten. Letztere haben es besonders schwer, sagt Christine Hagen vom Zentrum für Altersfragen: „Etwa knapp zehn Prozent der deutschen Rentner sind armutsgefährdet, bei Migranten sind es knapp 30 Prozent."
Gebrochene Berufsbiografien
Auch das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln bestätigt, dass fast die Hälfte der gesetzlichen Monatsrenten unter dem Hartz-IV-Niveau eines Singlehaushalts liegen. „Aber nur drei Prozent der über 64-Jährigen beziehen Grundsicherung im Alter", macht der IW-Wirtschaftswissenschaftler Jochen Pimpertz aufmerksam. Ein Widerspruch? Tatsächlich spiegelt die gesetzliche Rente die wirkliche Versorgungslage der Ruheständler nur unscharf wider.
Denn zusätzliche Puffer etwa aus betrieblicher oder privater Altersvorsorge oder aus Vermietungen hat das Ministerium bei dieser Berechnung nicht mit auf dem Schirm. „Seit 2002 hat es einen Paradigmenwechsel gegeben: Das Rentenniveau wurde absenkt", erklärt Soziologin Christine Hagen. Gefordert wurde, stattdessen zusätzlich betrieblich und privat vorzusorgen. „Davon profitieren aber nicht alle", kritisiert sie. „Es zeigt sich, dass gerade diejenigen, die sowieso schon über höhere gesetzliche Rentenbezüge verfügen, auch in der Lage sind, privat vorsorgen zu können. Aber die anderen werden abgehängt."
Wer einmal in die Altersarmut abgerutscht ist, hat mit vielen Beeinträchtigungen zu kämpfen. „Es bedeutet auch häufig soziale Benachteiligung", sagt Hagen. „Die eigenen finanziellen, gesundheitlichen und psychosozialen Reservekräfte sind in der Regel niedriger und die Lebensbedingungen problematischer." Die Menschen kommen oft aus Wohnungen, die beengt, unkomfortabel und nicht altersgerecht seien, nicht mehr heraus. Im Wohnumfeld selbst gebe es häufig eine schlechtere Infrastruktur – eine geringe Ärztedichte, weniger Grünanlagen und weniger Freizeitmöglichkeiten –, dafür oftmals mehr Verkehr und eine höhere Umweltbelastung. „Damit steigt das Risiko der sozialen Ausgrenzung und Isolation, insbesondere bei Pflegebedürftigen."
Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus dem Jahr 2017 sieht die Zukunft nicht besser aus. Demnach wird jeder Fünfte, der zwischen 2031 und 2036 in Rente geht, von Armut bedroht sein. Für diese Prognose haben die Forscher außer der gesetzlichen Rente auch andere Einkommensformen einbezogen. Als Gründe für die alarmierende Entwicklung nennen sie unter anderem den Trend zu prekärer Beschäftigung und flexiblere Lebensläufe.
Tatsächlich ist das gesetzliche Rentensystem auf einen Prototyp von Mensch zugeschnitten, der inzwischen eher in der Minderheit ist. Es geht nach wie vor aus von einem männlichen Vollzeit-Angestellten, der weder längere Zeiten der Arbeitslosigkeit, Krankheit, Kinderziehung, Pflege, Weiterbildung noch sonstige Lücken in seinen Beitragsleistungen hat.
Dass das jetzige Rentensystem auf viele Menschen nicht mehr passt, kritisieren auch die Oppositionsparteien im Bundestag. „Wir müssen das Rentensystem fit machen für die moderne Arbeitswelt", fordert Arbeitsmarkt-Fachmann Johannes Vogel von der FDP. Dazu zähle beispielsweise eine Berücksichtigung vielfältiger Lebensläufe, die zwischen Anstellung und Selbstständigkeit wechseln. Im Vordergrund müsse mehr Transparenz stehen –
und dass nicht mehr die Politiker entscheiden, wann die Menschen in Rente gehen, sondern die Beschäftigten selbst. „Das Modell eines flexiblen Renteneintrittes muss fair gestaltet sein: Wer früher in Rente geht, erhält weniger Geld, und wer später geht, erhält mehr." Die Liberalen wollen außerdem die Möglichkeiten der privaten Vorsorge ausbauen. „Wir brauchen mehr Anlageformen dafür, etwa Investitionen in Aktien", sagt Vogel.
Die Grünen wollen das bisherige gesetzliche Rentensystem nicht verdammen. Es sei unzweifelhaft das Fundament der Alterssicherung, so Rentenexperte Kurth. In Deutschland erziele die Rente Renditen zwischen zwei bis drei Prozent. „Keine private Versicherung bietet ein solches Leistungsspektrum bei derart hoher Sicherheit und vergleichsweise geringen Beiträgen."
Kommunen bieten Älteren neue Möglichkeiten
Um Armut aufzufangen, setzen die Grünen auf eine steuerfinanzierte Garantierente. Zwar hat die Regierungskoalition beschlossen, dass das Rentenniveau bis 2025 nicht unter 48 Prozent fallen soll. Kurth gibt aber zu bedenken: „Die Vereinbarung zwischen Union und SPD hilft Rentnerinnen und Rentnern, die heute aufstocken müssen, gar nichts." Insgesamt werde das jetzige Problem zunehmen, „sowie unstete Erwerbsbiografien, die Zunahme von Niedriglöhnen, Teilzeitbeschäftigungen in den letzten Jahrzehnten zugenommen haben". Er fordert: Wer 30 Versicherungsjahre habe, soll nach heutigem Stand mindestens rund 1.000 Euro erhalten. „Dafür sollten alle Versicherungszeiten anerkannt werden, auch Arbeitslosigkeit, Ausbildungszeit, Kindererziehung, Pflege oder Erwerbsminderung."
Eine ähnliche Idee vertreten die Linken mit der „solidarischen Mindestrente" aus Steuermitteln. „Sie gewährleistet, dass niemand im Alter von weniger als 1.050 Euro im Monat leben muss, auch nicht bei einer gebrochenen Erwerbsbiografie", erklärt Sabine Zimmermann. Dies sei ein zusätzliches Sicherungsinstrument, das im geltenden Recht bislang noch nicht existiert und neu geschaffen werden sollte.
Das wäre wohl ganz im Sinne von Edith Blücher: An private Vorsorge war bei ihrem geringen Einkommen nie zu denken. Aber auch wenn es finanziell alles andere als rosig aussieht – für Alte in der Armutsfalle gibt es an anderer Stelle den einen oder anderen Lichtblick. „Es passiert viel auf kommunaler Ebene", berichtet DZA-Forscherin Christine Hagen. So etwa sei die Wohnungswirtschaft sehr aktiv. „Es gibt immer mehr alternative Wohnkonzepte jenseits des klassischen Altenheims." Dazu zählen unter anderem Senioren-Wohngemeinschaften.
Auch für die Mobilität der Älteren tun Kommunen und Bürgerinitiativen so einiges. Hagen nennt als Beispiel Mitfahrbanken und Bürgerbusse. Vor allem in ländlichen Gebieten, wo die öffentlichen Nahverkehrsverbindungen oft schlecht sind, helfen solche Lösungen, die medizinische Versorgung zu gewährleisten. Je mehr mobile Angebote es in kleineren Orten gibt, desto eher kommen auch Ruheständler ohne eigenes Auto zum Arzt. Auch können sie dann öfter mal in den nächsten Ort fahren, um Freunde zu besuchen oder Freizeitangebote wahrzunehmen. Soziale Kontakte sind auch für Edith Blücher von großer Bedeutung. Momentan überlegt sie, nach Brandenburg zu ziehen. Dann würde sie in der Nähe von Sohn und Enkelkindern leben.