Kampf der dicken Luft: Berlin muss einige Straßen für Dieselfahrzeuge sperren. Parallel laufen Tests mit Tempo-30-Abschnitten oder einer Begegnungszone. Wesentlich radikaler ist das Umweltbundesamt. „Geht doch!" heißt seine neue Studie zum Fußverkehr – sie fordert weniger Autos und eine geringere Geschwindigkeit in der ganzen Stadt.
Tempo 30 – und zwar noch viel öfter auf den Hauptstadtstraßen als bislang geplant: Das ist das Rezept, mit dem der Berliner Senat noch etwas gegen dräuende ausgeweitete Diesel-Fahrverbote auszurichten hofft. Andere sagen: Tempo 30 im ganzen Stadtgebiet! Allerdings stammt dieser Vorschlag keineswegs von abgasgeplagten Anwohnern, sondern – man höre und staune – vom Umweltbundesamt. Und er hängt auch nicht ursprünglich mit Abgasen zusammen, sondern: mit den Fußgängern.
Genauer gesagt: Mit der Fußverkehrsstrategie, die das Difu, das Deutsche Institut für Urbanistik, im Auftrag des Umweltbundesamts (UBA) erstellt hat. Fuß-„verkehr"? Ja, denn es geht tatsächlich darum, wie sich die Fußgänger in der Stadt bewegen. Parallel zu allen anderen, zu Autos, Bussen, Fahrrädern. Und während allmählich ins allgemeine Bewusstsein sickert, dass Fahrradfahren durchaus eine Alternative zum eigenen Auto ist, hinkt die Wahrnehmung des Laufens als Teil des Stadtverkehrs noch ziemlich hinterher.
Als Fortbewegungsart, die nicht nur von der Autotür bis zur Haustür reicht, sondern bewusst gewählt wird, die gesund, umweltschonend und natürlich auch kostensparend ist, wird das Laufen kaum gesehen. „Die Leute sollen noch viel mehr zu Fuß gehen!", fordert hingegen die Difu-Studie. Bis 2030 möglichst um die Hälfte mehr als heutzutage. Schließlich verstopfen Fußgänger weder die Straßen, noch produzieren sie Abgase. Und zugeteerte Flächen brauchen sie auch nicht. Das kleine Problem bei der Sache: Manche Strecken haben’s einfach in sich. So richtig fies wird es beispielsweise in längeren Unterführungen: Auf der einen Seite bröckelnde Wände mit abfallenden Plakat-Schwaden, unter den Füßen holprige Platten, und auf der anderen Seite erst ein ungepflegter Fahrradweg, der die Radler immer mal wieder zum Ausweichen ins Fußgängergehege zwingt, und dann eine vierspurige Straße mit dröhnenden Autos Stoßstange an Stoßstange. Laut, staubig, duster. Kein Spaß.
Anderswo ist es freundlicher – aber dann ragen mal Kneipentische in den Gehweg, mal parken Autos auf dem Bürgersteig und zwingen, schöne Ironie, die Fußgänger auf die Straße. Und wer nicht so gut laufen kann, mit Rollator oder Rollstuhl unterwegs ist, kommt entweder zwischen eng geparkten Autos hindurch nicht auf die Straße oder hängt dann ewig am Straßenrand fest. Zebrastreifen oder Mittelinseln wären hilfreich, ebenso länger getaktete Ampelschaltungen. Das fordert auch das Umweltbundesamt. Und geht gleich noch weiter: Schrittweise sollen zwei Drittel der Parkplätze weg, meinen die Fachleute. Das würde die Lage für die Fußgänger doch sehr verbessern.
Radikal? Ein bisschen – zumindest im Autoland Deutschland mit seinen autogerechten Städten. Irgendwie gilt immer noch das Motto „Freie Fahrt für freie Bürger", in den 70ern gegen Geschwindigkeitsbegrenzungen vom ADAC eingeführt. Inzwischen sieht die Welt ein bisschen anders aus, und einiges tut sich ja schon, nicht erst seit den ersten Fahrverboten: Da sind Städte stolz auf die Auszeichnung als „Fahrradstadt", die Berliner basteln sich ein Mobilitätsgesetz mit Schwerpunkt auf Fahrrad und öffentlichem Nahverkehr. Oder probieren auch mal ganz Neues: Viel Schelte gibt es für die erste Begegnungszone an der Maaßenstraße, weil man der – zugegeben – wirklich klar ansieht, dass hier ein Low-Budget-Versuch nach Vorbildern in den Niederlanden oder der Schweiz gemacht wurde.
Dabei ist die Idee dahinter bestechend: Es geht um einen kleinen umrissenen Raum in der großen Stadt, innerhalb dessen sich alle, auch die Fußgänger, gleichberechtigt bewegen.
Zu Fuß gehen ist oft Hindernislauf
Hinten und vornedran steht „Begegnungszone", aber das war’s fast schon an Regeln – innen drin sollen sich die Leute, egal ob mit Blech außenrum, Rädern drunter oder auf Schuhsohlen, gütlich einigen. Ja, es gibt quasi als Orientierungshilfe eine leicht krumme Straße mit Lieferzonen für die Cafés nebendran und Radwege. Aber auch über die muss man ja nicht brettern wie von der Tarantel gestochen. Und dass parkende Autos die Lieferzone zustellen, die Lieferwagen die Straße blockieren und andere wütend hintendran hupen – so schnell geht’s dann eben doch nicht mit dem Neu-Denken. Wahrscheinlich würde das Konzept „Fußgängerzone" für weniger Ärger sorgen als eines, das allen gerecht werden will.
In Sachen „parkende Autos" schließt sich der Kreis wieder zur Fußverkehrsstrategie: Die geforderte geringere Zahl an Parkplätzen führt ja gleichzeitig zu weniger Autos in der Innenstadt. Und auch, wenn sich das stau- und parkplatzsuch-geplagte Berliner kaum vorstellen können: In anderen deutschen Städten würde sich so eine Umstellung sogar noch deutlicher auswirken als in Berlin. Hier gibt es 340 Autos auf 1.000 Einwohner gerechnet – damit liegt Berlin weit abgeschlagen hinter Stuttgart (540 Autos) oder München und Düsseldorf (jeweils 480). Eine Umstellung weg von so vielen Pkw kann allerdings tatsächlich nur funktionieren, wenn andere Möglichkeiten offenstehen, allen voran ein guter öffentlicher Nahverkehr. Schon jetzt, so die Difu-Studie, machen die Leute in Städten mit gutem ÖPNV fast jeden zweiten Weg zu Fuß – zumindest, so man den Weg eben zum Bus oder zur U-Bahn mitzählt. Hingegen ist die Hälfte aller Autofahrten kürzer als fünf Kilometer, jede zehnte sogar kürzer als einer.
Ein paar Monate hat der Berliner Senat noch Zeit, vielleicht Alternativen zu den Diesel-Fahrverboten zu finden und sich für die am meisten belasteten Straßenabschnitte, auf denen die Verbote auf alle Fälle kommen werden, Regelungen für Lieferverkehr oder Anwohner auszudenken. Immerhin geht es darum, im Auftrag des Verwaltungsgerichts Lösungen an satten 117 Stellen in der Stadt zu finden. Das ist viel – und ob es Sinn macht, dass Autofahrer nach einer Dreißigerzone genervt Gas geben bis zur nächsten, lässt sich bezweifeln. Von daher kommt der Vorschlag des Umweltbundesamtes, auch wenn das wohl gar nicht so geplant war, gerade zur rechten Zeit. Untersuchungen des Senats an der Begegnungszone Maaßenstraße – dort ist übrigens Tempo 20 für Autos vorgeschrieben – belegen, dass der Verkehr flüssiger läuft, man aber quasi gleichschnell vorankommt. Und dass Fußgänger nur noch halb so lang am Straßenrand warten müssen, um auf die andere Seite zu gelangen. Ein relaxteres Miteinander könnte so möglich werden. Und auch alltägliche kurze Wege „bloß mal so ums Eck" würden zu Fuß mehr Spaß machen.
Studie „Geht doch!": www.umweltbundesamt.de/publikationen/geht-doch