Die Saison von Kai Havertz verlief bisher komplett gegensätzlich zu der seines Vereins Bayer Leverkusen. Der Club schlitterte in die Krise, der 19-Jährige ist dagegen auf der Überholspur.
Wenn ein neues Ausnahme-Talent sich anschickt, die Fußball-Welt zu erobern, versuchen die Experten das Phänomen gerne mit Vergleichen zu erklären. So auch bei Kai Havertz. Für Bayer Leverkusens Trainer Heiko Herrlich ist der „das größte Talent, das ich seit Toni Kroos gesehen habe". Leverkusens Manager-Ikone Reiner Calmund sieht in dem 19-Jährigen dagegen „ein bisschen was von Franz Beckenbauer und ein bisschen was von Michael Ballack". Und auch Sky-Experte Dietmar Hamann fühlt sich von Havertz „an den jungen Ballack" erinnert.
Der Vergleich zum wohl besten deutschen Feldspieler der Nuller-Jahre ist in der Tat wohl der passendste. Zum einen schon optisch. Ballack, der ja auch zweimal in Leverkusen spielte, ist 1,89 Meter groß, Havertz misst 1,88 Meter. Beide haben dunkle, dichte Haare und einen ähnlichen Laufstil. Zum zweiten wegen der Position, denn wie Ballack kann Havertz im zentralen Mittelfeld defensiv und offensiv spielen. Vor allem aber ist der Leverkusener Teenager derzeit – wie einst Ballack – der Mann für die wichtigen Tore.
Erinnert an den jungen Ballack
Ein Überflieger war dieser in Aachen geborene Kai Havertz ja schon lange. Mit elf Jahren verpflichtete ihn der Bundesligist, mit 15 zog er bei Bayer-Stadionsprecher Klaus Schenkmann ein. Bei seinem Bundesligadebüt 2016 war er zum jüngsten Spieler der Leverkusener Erstliga-Historie avanciert. Mit 18 Jahren wurde er zum jüngsten Profi mit 50 Bundesliga-Einsätzen überhaupt. Und wäre es nach Herrlich gegangen, hätte Bundestrainer Joachim Löw Havertz schon mit zur WM nach Russland nehmen müssen. „Ich habe schon vor der WM gedacht, dass so ein Spieler der Mannschaft hätte weiterhelfen und lernen können", sagte Herrlich vor dieser Saison.
In den ersten Nach-WM-Kader berief Löw Havertz dann auch. Am 9. September gegen Peru kam er zu seinem (wenn auch nur zweiminütigen) Debüt, das ihn auch noch zum jüngsten Leverkusener Debütanten in der A-Nationalmannschaft machte. Löw nannte Havertz „einen der talentiertesten Spieler, die wir in Deutschland haben" und lobte ihn für „unglaubliche Spielintelligenz und seine wahnsinnige Ruhe am Ball".
Seine Reifeprüfung im Verein bestand Havertz, der in seiner ersten Saison quasi nebenbei noch sein Abitur machte, in diesen Wochen mit Bravour. Denn es hätte in dieser Saison auch ganz anders laufen können. Bayer Leverkusen, von manchen vor dieser Spielzeit als Geheimtipp eingestuft und von Hoffenheims Trainer Julian Nagelsmann sogar als Meister getippt, schlitterte nämlich vom Start weg in die Krise. Und nicht selten reißen solche Situationen die jüngsten Spieler mit. Doch stattdessen lässt sich heute feststellen: Ohne Kai Havertz, den „Goldjungen mit Weltstar-Potenzial" (bundesliga.de), würde es Bayer in diesem Jahr noch viel schlechter gehen.
Denn der 19-Jährige war der Garant für den Ansatz einer Wende. Als Leverkusen nach dem vereinshistorischen Fehlstart mit drei Bundesliga-Niederlagen in der Europa League bei Ludogorez Rasgrad in Bulgarien schon wieder mit 0:2 zurücklag, ließ Havertz mit dem 1:2 einen Ruck durch die Mannschaft gehen und erzielte auch noch den Siegtreffer zum 3:2. Drei Tage später sicherte er mit dem goldenen Tor gegen Mainz den ersten Bundesliga-Sieg. Und weitere drei Tage später leitete er beim 2:1 in Düsseldorf das erste Tor ein und bereitete das zweite direkt vor. Als Bayer dann im zweiten Europa-League-Spiel gegen den zyprischen Außenseiter AEK Larnaka plötzlich zurücklag, war es wieder Havertz, der den Ausgleich schoss. Am Ende gewann Leverkusen 4:2.
Es lässt sich also wirklich sagen, dass Havertz der Mann für die wichtigen Tore ist. Dass er nicht beim 4:0-Sieg den Schlusspunkt setzt, sondern sich mit Präsenz, Willen und oft auch mit Einzelaktionen gegen drohende Niederlagen stemmt wie kaum ein zweiter. Das muss einem Respekt abringen, nicht nur mit Blick auf sein Alter. Der Ausnahme-Techniker mit guter Physis ist auch noch ein Mentalitäts-Spieler – aus dieser Mischung werden tatsächlich Weltstars gemacht. Deshalb lobte Herrlich seinen Rohdiamanten zuletzt auch oft für seine Einstellung. „Es sind nicht nur fußballspezifische Dinge, die ihn zu so einem Klassespieler machen", sagte er. „Er weiß auch, was es heißt, dreckig zu kämpfen. Wir wollen aus ihm keinen Grätscher machen, aber dass er alles in die Waagschale wirft, hat Signalwirkung für die ganze Mannschaft."
„Er weiß auch, was es heißt, dreckig zu kämpfen"
Solch ein Lob freut Havertz besonders. „Schon in der Jugend wurde ich dafür kritisiert, dass ich keine Mentalität gezeigt habe", berichtete er nach dem Spiel in Rasgrad von einem Vorwurf, den man sich aus heutiger Sicht kaum noch vorstellen kann. „Deshalb habe ich mir vorgenommen, daran zu arbeiten." Die DFB-Nominierung habe ihm diesbezüglich noch einmal einen Schub gegeben, jetzt will er noch mehr vorangehen. „Ich habe jetzt zwei Jahre Bundesliga gespielt", sagte er. „Da kann ich langsam mal anfangen, Verantwortung zu übernehmen." Bemerkenswert. Denn von den Bayer-Stammspielern ist er immer noch mit Abstand der jüngste.
Auch die Kollegen sind voll des Lobes über Havertz. „Was er spielerisch, technisch und auch im Kopf leistet, ist teilweise grandios", schwärmte Julian Brandt. „Er ist das größte Talent, das wir in Deutschland haben." Und Kevin Volland stellte fest: „Was er in seinem Alter für eine Leichtigkeit sowie Ballsicherheit hat, und wie er sich im engen Raum bewegt, ist ganz großes Kino."
Davor, dass Kai Havertz nun überdreht oder angesichts all des Lobs abheben könnte, hat Leverkusens Kapitän Lars Bender keinerlei Angst. „Er ist intelligent genug, auf dem Boden zu bleiben", sagte der 29-Jährige. „Wir werden an dem Jungen noch sehr viel Spaß haben."
Davon ist auszugehen: Michael Ballack wurde Nationalmannschafts-Kapitän, Vize-Weltmeister und dreimaliger Fußballer des Jahres. Eine gute Benchmark.