Nur langsam erinnert sich Russland wieder an den Ersten Weltkrieg, der das Zarenreich zum Einsturz brachte. Zu Sowjetzeiten galt der Waffengang gegen das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn als „verlorener, imperialistischer Krieg".
Auch „Nicky" hat den Ersten Weltkrieg nicht verhindert. Vielmehr ließ der russische Zar Nikolaus II. im Sommer 1914 in persönlichen Briefen seinen Cousin „Willy", den deutschen Kaiser Wilhelm II., tagelang im Unklaren. Still und heimlich ordnete der Monarch die Mobilmachung an. Angesichts von Lügen und Heimlichtuerei, intriganten Kabinetten und kriegslüsternen Militärs hatte die enge Familienbande keine Chance.
Die Entwicklung war nach damaliger Logik nicht mehr aufzuhalten: Zwei Tage nach der russischen Mobilmachung antwortete Wilhelm am 1. August mit der Kriegserklärung. Dabei betraf der eigentliche Anlass – der Konflikt zwischen dem deutschen Verbündeten Österreich-Ungarn und dem russischen Partner Serbien – die Beziehungen zwischen Berlin und St. Petersburg kaum.
Die Konsequenzen waren für Russland verheerend. Die militärischen Niederlagen und massiven sozialen Probleme führten zum Zusammenbruch des Systems. Im revolutionären Strudel wurde der Zar hinweggefegt, an die Stelle der Monarchie rückte der Kommunismus als Staatsideologie. Das sollte das 20. Jahrhundert entscheidend prägen.
Lange galt der Erste Weltkrieg in Russland als vergessener Krieg. Stets stand der Konflikt im Schatten der Oktoberrevolution von 1917. „Der Sturz der Monarchie und der Herrschaftsaufbau der Bolschewiki schienen die Vergangenheit Russlands eindeutiger in ein ,Davor’ und ein ,Danach’ zu teilen als das unmittelbare Kriegsgeschehen", betont das Deutsche Historische Institut Moskau.
In der ideologisch aufgeladenen Sowjetzeit war der „imperialistische und erfolglose Krieg" zudem stets belastet – und das, obwohl Russland 1918 letztlich doch auf der Siegerseite gestanden hatte. Nur ein einziges Lied habe an den Ersten Weltkrieg erinnert, betonen russische Historiker. Weil viele Offiziere des Zarenreichs Adlige und damit Klassenfeinde waren, ließen die kommunistischen Herrscher erst gar keinen Heldenkult zu. Diese Rolle fiel alleine den Triumphatoren im „Großen Vaterländischen Krieg", dem Zweiten Weltkrieg, zu.
Erst seit wenigen Jahren widmet sich auch der Kreml der Aufarbeitung des weniger bekannten Teils der russischen Geschichte. Auf Geheiß von Präsident Wladimir Putin wurde der 1. August – der Tag der deutschen Kriegserklärung 1914 – zum Gedenktag der russischen Gefallenen. Kremlnahe Historiker ziehen den Ersten Weltkrieg als Beispiel dafür heran, dass Russland in schweren Zeiten stets eine starke Führung benötigt habe. Eine schwache Staatsspitze hingegen gefährde das Land.
Das Zarenreich Russland war auf den Krieg kaum vorbereitet
Besonders Nikolaus II. gilt als naiv und willensschwach. Mit seinem Mobilisierungsbefehl demonstrierte der 46-Jährige vor allem bedingungslose Unterstützung für Serbien, dem Österreich-Ungarn zwei Tage zuvor den Krieg erklärt hatte. Anders, so meinten die Diplomaten in St. Petersburg, könne Russland seinen Einfluss auf die slawischen „Brüdervölker" auf dem Balkan kaum aufrechterhalten. Damit aber geriet das Zarenreich automatisch in erbitterte Konkurrenz zu Österreich-Ungarn und – wegen der Bündnistreue von Wilhelm II. zur Doppelmonarchie – auch zum Deutschen Reich.
Wie in vielen anderen Ländern Europas war der patriotische Taumel in Russland im August 1914 gewaltig. Ein Sieg über Deutschland, so die Überlegung, würde die schändliche Schmach der Niederlage im Krieg gegen Japan 1905 endlich auslöschen. Als Fernziel galt die Eroberung der osmanischen Hauptstadt Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Damit sollten ein Zugang zum Mittelmeer gesichert und der Handel erleichtert werden. Schließlich benötigte das verarmte Riesenreich dringend Reformen. Millionen Bauern lebten noch immer wie im Mittelalter.
Doch die Euphorie hielt nicht lang an. Russland war auf den Krieg kaum vorbereitet: die Ausrüstung veraltet, der Nachschub auch wegen des schlechten Schienennetzes kaum möglich. Schon bald traten zudem enorme Versorgungsengpässe etwa in Moskau auf. Angesichts der schlechten Nachrichten von der Front machte sich schon bald Kriegsmüdigkeit breit – ein perfekter Nährboden für die Revolutionsrufe der Kommunisten um Lenin. Zar Nikolaus überlebte die Machtübernahme der Radikalen nicht. Im Juli 1918 wurden der abgesetzte Herrscher und seine Familie erschossen. Auf den Sturz des Zaren folgten neue Freiheiten und großes Chaos. Eine provisorische Regierung unter wechselnden Ministerpräsidenten konkurrierte mit dem Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat um die Macht. Russland führte weiter Krieg, doch an der Front desertierten die Soldaten. Finnland, Polen und das Baltikum spalteten sich ab. Nach dem Krieg entstand die Sowjetunion, die sieben Jahrzehnte lang in vielen Bereichen den Imperialismus des Zarenreichs fortsetzte.