Die Wirtschaft brummt – aber wie lange noch? Die Arbeitskammer sieht dringenden Handlungsbedarf in der Arbeitsmarktpolitik des Saarlandes. Es fehle an der Weiterqualifikation von Mitarbeitern. Und die Möglichkeiten für Langzeitarbeitslose, wieder in Arbeit zu kommen, seien im Saarland besonders ungünstig.
Die deutsche Wirtschaft floriert allen Unkenrufen zum Trotz. Monat für Monat melden die Arbeitsagenturen sinkende Arbeitslosenzahlen im Vergleich zu den Vorjahren. Nie zuvor gab es so viele sozialversicherungspflichtige Beschäftigte in Deutschland wie derzeit. Obwohl das Saarland im Vergleich zum Bund unterdurchschnittlich wächst, vermelden die Jobcenter auch hierzulande positive Zahlen. Fachkräfte sind in der Industrie stark nachgefragt, Auszubildende können sich ihre Lehrstelle mittlerweile aussuchen. Arbeit müsste demnach reichlich vorhanden sein. Also rosige Zeiten für Arbeitslose im Saarland.
Mitnichten. Beim genauen Hinsehen zeigt sich die gesamte Problematik auf dem Arbeitsmarkt seit Beginn der sogenannten Hartz-Reformen vor 15 Jahren. Der Politik sei es nicht gelungen, insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit nachhaltig zu senken. Im Gegenteil: Sie habe sich im Saarland sogar verfestigt trotz einiger Reformbemühungen, sagt der Vorstandsvorsitzende der Arbeitskammer des Saarlandes, Jörg Caspar. Die Probleme im Bereich prekärer und Niedriglohn-Beschäftigung hätten sich sogar verschärft. Ein wesentliches Grundübel sieht die Arbeitskammer in der sträflichen Vernachlässigung der Qualifizierung. „Die Qualifikation der Arbeitslosen und die Anforderungen bei den offenen Arbeitsstellen passen immer weniger zusammen", sagt Caspar weiter. Die Schere geht weiter auseinander, und das hat Folgen. Wer es nicht schafft, binnen zwölf Monaten eine neue Beschäftigung zu finden – wer mindestens 50 Jahre alt ist, hat längeren Anspruch –, rutscht ab in das Grundsicherungssystem Hartz IV, zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Inzwischen beziehen laut Arbeitskammer 70 Prozent der Arbeitslosen Hartz IV und nur 30 Prozent erhalten Arbeitslosengeld (ALG I).
Gerade Ältere mit nur noch geringen Wiederbeschäftigungsmöglichkeiten, Langzeitarbeitslose, Aufstocker, Alleinerziehende, Geringqualifizierte und Ungelernte sind zunehmend stärker von Altersarmut bedroht. Das Problem verschärft sich allein schon wegen der ungünstigen demografischen Entwicklung im Saarland und aufgrund des sinkenden Rentenniveaus seit der Agenda 2010. Nicht einmal in Betracht gezogen sind an dieser Stelle die zusätzlich entstehenden externen Kosten. Das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, am Arbeitsmarkt nichts mehr wert zu sein, die soziale Ausgrenzung, die Zunahme psychischer Erkrankungen, die nachlassende Motivation – ein Teufelskreis, aus dem das Entkommen immer schwerer wird, wie Monika Steffen-Rettenmaier von der Neuen Arbeit Saar, einer Diakonie-Einrichtung, feststellt. „Selbst Menschen, die etwas gelernt haben, trauen sich diese Arbeit irgendwann nicht mehr zu." Beschämend für ein reiches Land wie Deutschland nennt das auch Wirtschaftsstaatssekretär Jürgen Barke und betont, dass die öffentliche geförderte Beschäftigung weiter ausgebaut werden müsse.
Saarland im Vergleich der Bundesländer weit abgeschlagen
Die gesellschaftlich Abgehängten, das weiß die Politik nur zu genau, sind anfälliger für Populisten – eine Gefahr für die Demokratie und den sozialen Frieden. Es ist eine höchst explosive sozialpolitische Gemengelage, die sich am Horizont zusammenbraut, wenn nicht schleunigst gegengesteuert wird, zumal die Digitalisierung diese gefährliche Situation noch befeuern wird. Die vermeintlich heute noch sicheren Arbeitsplätze in der saarländischen Industrie und selbst im Dienstleistungsgewerbe geraten zunehmend unter Druck, denn das Saarland mit einer Vielzahl von Industriearbeitsplätzen dürfte von Entwicklungen wie Industrie 4.0, Anwendungen von Künstlicher Intelligenz und der einhergehenden Rationalisierung von Arbeitsplätzen besonders betroffen sein. Hinzu kommen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, der internationale Wettbewerbsdruck sowie die weltpolitische Lage mit all ihren Unsicherheiten, die den international tätigen Unternehmen das Leben zunehmend schwerer machen, sagt der Personalchef von Dillinger Hütte und Saarstahl, Jörg Disteldorf. Zwar sollte die Digitalisierung durchaus als Chance gesehen werden, das bedinge aber ständige Qualifikation und Weiterbildung aller Arbeitnehmer aller Branchen über alle Hierarchiestufen hinweg. Die heute 50-Jährigen in Betrieben und Unternehmen müssten sich ebenso auf die Herausforderungen der Digitalisierung einstellen. Schon aufgrund des demografischen Wandels und des daraus resultierenden Fachkräftemangels können viele Firmen es sich künftig nicht mehr leisten, ihr älteres Personal auszusortieren, auch „wenn viele Ältere auf einen vorzeitigen Ruhestand spekulieren, um aus der Tretmühle rauszukommen", sagt ein Vertreter des Betriebsrats von Bosch Homburg.
Also alles in allem keine allzu rosigen Aussichten für den Arbeitsmarkt des Industrielands Saarland, wenn nicht gezielt gegengesteuert wird. Das Saarland sei mit Blick auf die Arbeitsmarktsituation im Vergleich der Bundesländer weit abgeschlagen, beklagt Jörg Caspar. „Wir sind maximal regionalligatauglich." Die Arbeitskammer des Saarlandes hat daher einen Maßnahmenkatalog erstellt und fordert nachdrücklich, die berufliche Qualifizierung wieder ins Zentrum zu rücken. Die abschlussbezogene berufliche Qualifikation müsse wieder einen höheren Stellenwert bekommen, sagt Caspar. Die Jobcenter und Arbeitsagenturen bräuchten dafür mehr Geld und mehr Personal, um die Menschen im Sinne des Förderns intensiver zu betreuen und um Weiterbildungen zu finanzieren. Dabei galt die berufliche Qualifizierung von Arbeitslosen lange Zeit als das Herzstück der Arbeitsmarktpolitik. Mit Beginn der Hartz-Reformen drehte sich alles nur noch um die Vermittlung ganz gleich in welche Beschäftigungsverhältnisse frei nach dem Motto „Hauptsache raus aus der Statistik". Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Während im Jahr 2000 im Saarland noch 4.100 Personen an der arbeitsmarktpolitischen Weiterbildung teilnahmen, sind es 2017 nur noch knapp 2.000 gewesen. Gleichzeitig fordert Caspar die Betriebe unter Einbindung der Betriebs- und Personalräte auf, sich stärker in der Weiterbildung zu engagieren. Obwohl die Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik zu 90 Prozent durch die Bundesebene erfolgt, sollte zudem die Landespolitik die Arbeitsmarktpolitik flankierend begleiten. Zwar seien die landespolitischen Steuerungsmöglichkeiten begrenzt, aber das „Zukunftsbündnis Fachkräfte Saar" unter Beteiligung von Kammern und Sozialpartnern, das Programm „Frauen in Arbeit" und das „Aktionsprogramm für Geringqualifizierte und Ältere" seien bereits verabschiedet und zum Teil auf den Weg gebracht.
Dass die Arbeitskammer einen besseren Schutz in der Arbeitslosenversicherung anmahnt, liegt wohl in der Natur der Sache. Es gebe eine ganze Reihe von Stellschrauben wie Rahmenfristen, Anwartschaftszeiten und Bezugsdauer, an denen neu justiert werden müsste. „Allein schon, um den nahtlosen Übergang in Hartz IV zu verhindern, denn Hartz IV oder Grundsicherung ist heute leider immer mehr ein Auffangbecken für viele Lebenslagen" – und ein unrühmlicher Zustand für eines der reichsten Länder der Welt.