Sie sind die große Sehnsuchtsdestination am Ende der Profi-Saison der Tennisherren. Jeder will dort mitmischen, wo nur die acht Besten der Turnierreisegruppe 2018 hindürfen: Die ATP World Tour Finals in London, einst „Tennis Masters Cup", hat sich Deutschlands Nummer eins, Alexander Zverev, auch in diesem Jahr wieder als Endstation einer insgesamt gelungenen Saison erarbeitet.
Es ist toll, es wieder offiziell geschafft zu haben und wieder ein Teil der besten Acht zu sein. Jeder hat dieses Ziel am Beginn der Saison", freute sich Zverev, dessen Start in London nach seinem Viertelfinal-Sieg beim 1000er-Turnier in Shanghai gegen Kyle Edmund klar war. „Es ist eines der prestigereichsten Events, das wir haben. Allein schon, dabei zu sein, ist eine Ehre." Die Quasi-Weltmeisterschaft ist für den bislang relativ glücklosen Spitzenturnier-Wettkämpfer besonders wichtig: „Es ist nahe dran oder gleichwertig zu einem Grand-Slam-Sieg."
Um insgesamt acht Millionen US-Dollar Preisgeld geht es vom 11. bis zum 18. November in Englands Metropole beim Hallenturnier. Das bedeutet etwa 1,8 Millionen Euro für den Sieger des wichtigsten Turniers nach den vier Grand-Slam-Wettbewerben, die vom Konkurrenzverband International Tennis Federation (ITF) veranstaltet werden. Die letzten (Nachrücker-)Antrittsplätze kann sich – außer den aktuellen Top Sieben der Welt – sichern, wer bei den Grand Slams triumphierte und zwischen Rang acht und 20 der Weltrangliste positioniert ist.
„Dabei zu sein, ist eine Ehre"
Die Namen derer, die tatsächlich spielen, sind in diesem Jahr spannender als bei früheren Saison-Abschluss-Turnieren: Rückkehrer, Aufsteiger und verletzungsbedingte Absager machen den Wettbewerbs-Höhepunkt kurz vor der winterlichen Regenerationspause der Stars zu einem Spiegelbild der immer härter werdenden Profi-Saison, in der heftige Verletzungen und emotionsgeladene Comebacks sich besonders 2018 die Hand reichten.
In der Person Juan Martin del Potro paaren sich glorreicher, lang ersehnter Aufstieg nach verletzungsbedingten Rückschlägen und dann doch wieder ein hartes und voraussichtlich langwieriges Verletzungs-Aus. Der Argentinier wurde viermal am Handgelenk operiert und konnte lange Jahre nicht um die Top-Positionen kämpfen, an denen er mit seinem US-Open-Sieg und Gewinnerjahren 2008, 2009 und 2013 bereits kräftig gekratzt hatte. Doch in diesem Jahr lief es wieder richtig gut für den mittlerweile 30-Jährigen, der für seine neue Stärke extra seine Rückhand auf eine einhändige Spielweise umgestellt hatte.
Del Potro und Novak Djokovic („Nole") waren die beiden „Comebacker" der Saison 2018. Doch während Djokovic erst nach den French Open zu seiner alten Unbezwingbarkeit auflief, sich auf Rang zwei der ATP-Wertung zurückkämpfte, Wimbledon und US Open gewann, und das Jahr durchaus als Tour-Finalsieger beenden könnte, riss das Verletzungspech den Argentinier einmal mehr aus seinem Lauf: Ein extrem unglücklicher Sturz beim Turnier in Shanghai, bei dem seine Kniescheibe brach, bedeutet für del Potro Reha statt Ruhm in London. Sein erstes ATP Final seit 2013 fällt für die eigentliche Nummer drei der Setzliste aus. Trotz seiner Siege in Indian Wells und Acapulco, trotz seines Finaleinzugs bei den US Open, wo ihm „Nole" seinen zweiten Grand-Slam-Titel wegschnappte.
Jorge Viale, Kommunikator von del Potro, twitterte nach der heftigen Diagnose die Stellungnahme des Argentiniers: „Das ist ein schwerer Schlag, der mich kraftlos zurücklässt. Es ist sehr schwer für mich, schon wieder über Genesung nachzudenken. Ich habe nicht erwartet, dass sowas passieren würde."
Roger Federer, aktuell Nummer vier der Tenniswelt, und Sascha Zverev, der die Saison auf Rang fünf beendet, rücken bei den ATP World Tour Finals durch del Potros Absage jeweils um eine Position nach oben und machen unten beispielsweise für Kei Nishikori Platz. Oder auch für Borna Coric, den aufstrebenden, jungen Kroaten, der in diesem Jahr gleich zweimal Federer besiegte und in den Top Ten angelangt ist. Noch ist ungewiss, ob der Next-Gen-Star und Nishikori in London bei den etablierten Szene-Profis dabei sind: Die genauen Teilnahme-Fixierungen ergeben sich erst nach und nach Richtung Saisonende.
„Das ist ein schwerer Schlag"
Dabei sein ist viel. Die Siegeschancen bei den Finals sind eine andere Sache. Vor allem eine konditionelle Frage: Wer hält durch am Ende der Saison, physisch und mental? Siehe die deutsche Nummer eins, die erst 21 Jahre alt ist. 2017 war London für den jüngeren der Zverev-Brüder zwar Hauptziel der Saison. Doch schied er dort bereits in der Gruppenphase aus. Denn November ist für viele Spieler äußerste Härtezeit.
In Shanghai, einem der letzten Turniere der Saison, erklärte der gebürtige Hamburger, warum er bei einem Davis-Cup-Finale ab 2019 im letzten November-Drittel, noch nach dem Masters-Finale, nicht teilnehmen werde: „Es tut mir leid, aber ich kann nicht Tennis für elfeinhalb Monate spielen. Ich brauche etwas Pause … Ich liebe den Davis Cup … Letztlich wollen wir uns bestmöglich auf die neue Saison vorbereiten … Bis Dezember zu spielen, das ist lächerlich für mich."
Mitte November „Weltmeister" bei den ATP World Tour Finals zu werden, wäre gerade noch drin im Plan. Federer wurde in den 2000er-Jahren viermal der Beste in den Finals, Djokovic in den 2010er-Jahren bereits viermal. In diesem Jahr ist „Nole" in besserer Form als Roger.
Sogar fünfmal gewann in den 80er-Jahren Ivan Lendl das Finale der Saisonbesten. Ebenjener Lendl, den Zverev vor den US Open als neuen Strategiecoach in sein Team holte, in dem seit jeher Papa Alexander als Trainer den Grundton vorgibt. Physisch hat Sascha kaum mehr Ausbaubedarf: Vier Kilogramm Muskelmasse hat der fast zwei Meter große Wuchtaufschläger in dieser Saison zugelegt. Er trainiert extrem diszipliniert, teilt sich auch seine Turnierteilnahmen mittlerweile sehr fokussiert ein.
Sehr dezent absolvierte der 21-Jährige in diesem Jahr seine Erfolgstour: Seine Fans klagten in den sozialen Medien, ihn so selten zu sehen. Dabei gewann kein anderer Profi 2018 so viele Matches auf der ATP-Tour. Stolze 49 Siege waren es mit dem Viertelfinale beim 1.000er-Turnier in Shanghai gegen Edmund, das Sascha lässig herunterspielte. Wie so einige Matches in diesem Jahr, selbst die French Open, sein bislang bestes Grand Slam, wo er gegen Dominic Thiem im Viertelfinale durch eine Muskelverletzung gestoppt wurde. Fünfmal katapultierte sich der junge Top-Five-Spieler ins Halbfinale der hochrangigen Masters-Turniere.
Ivan Lendl neuer Strategiecoach
Auch Fünf-Satz-Siege sind für den Wahl-Monegassen körperlich und technisch kein Problem mehr. Das variantenreich und strategisch ideenreich durchgeplante Spiel des erfahrenen Philipp Kohlschreiber, der deutschen Nummer zwei, in der dritten Runde der US Open war allerdings eine Lehrstunde in taktischem Spielaufbau und spontaner Flexibilität. In Shanghai, nach etlichen Trainingseinheiten mit Lendl, spielte Sascha dann sichtbar vielfältiger als bislang in seiner Karriere. Erst gegen Djokovic gingen ihm im Halbfinale die Einfälle aus. Variantenreichtum und Überraschungsmomente sind mit Sicherheit Aspekte des Spielaufbaus, die Lendl mit seinem Schützling weiter ausbaut. Vielleicht auch die mentale Seite: Der Schläger, den Sascha im Match gegen Nole aus Frust in künstlerische Kurven bog, half dem Deutschen mit russischen Wurzeln nur kurzzeitig mental nach oben.
In den Tour Finals steht Alexander Zverev auf Platz vier, zumal er in diesem Jahr die BMW Open in München, das Masters in Madrid und das ATP-Turnier in Washington gewann. Nummer drei der Weltrangliste war der 21-Jährige seit November 2017 über viele Monate. Bevor del Potro und Djokovic den Youngster wieder verdrängten. In London wird sich zeigen, ob sich der unbeirrbare Rafael Nadal, als amtierende Nummer eins der Welt, der neu inspirierte Djokovic oder der frisch von Lendl motivierte Zverev schlauer durchschlägt. Federer überlegt indes, ob nicht auch andere Städte mal eine Chance auf die Tour Finals bekommen sollten. Der jüngst leicht in seinen Leistungen schwankende Maestro hat übrigens den perfekten Plan für ein erfolgreiches Karriereende: nur noch den Bällen hinterherlaufen, die sich lohnen.