Gefangen zwischen Gefühl, Gefahr und Verstand: „Juliet, Naked" ist ein sensibel romantisches Drama über den bitteren Beigeschmack von unerfüllten Träumen und Sehnsüchten nach dem gleichnamigen Roman von Nick Hornby.
Keine Frage, Idole sind wie Kuchenrezeptsammlungen, beide versprechen Idealprodukte, die im wahren Leben selten perfekt gelingen. Und gerade angebetete Vorbilder krachen allzu gern und allzu oft aus ihrem Rahmen. Diese Erfahrung muss auch die 40-jährige Annie Platt (Rose Byrne, „Sieben verdammt lange Tage") aus dem südbritischen Seeort Sandcliff machen. Darbt sie doch seit Jahren unfreiwillig in einer Menage à trois: Mit ihrem langjährigen Lebensgefährten Duncan (Chris O’Dowd, „Get Shorty"), vor allem unfreiwillig unsichtbar mit dem ominösen Indie-Folk-Rocker Tucker Crowe (Ethan Hawke, „Maudie"). Annie leitet ein kleines Heimatmuseum, Duncan ist vor allem damit beschäftigt, sein Idol Tucker Crowe 24 Stunden am Tag in seiner Fan-Community zu lobpreisen. Umso unerträglicher für Annie, weil niemand weiß, ob der verschollene Musiker, der mit „Juliet" inklusive Live-Konzertmitschnitte, genannt „Juliet, Naked" seinen letzten Coup landete, überhaupt noch unter den Lebenden weilt. Tucker Crowe verschwand nämlich einst spurlos während seiner Konzerttour von der Bildfläche und ward seitdem nie mehr gesehen. In der virtuellen Walhalla freilich halten ihn wildeste Storys am Leben. Duncan klebt aber weiter beharrlich in seinem virtuellen Tucker-Eldorado. Eines Tages fällt Annie ein Umschlag in die Hände, der eigentlich an Duncan adressiert ist. Sie öffnet ihn heimlich. Die für Duncan heilige Post enthält die Originalversionen der Songs des legendären „Juliet, Naked"-Albums von Tucker Crowe. Das sorgt in Duncans fanatischer Fangemeinschaft natürlich für einen Riesenhype. Er verfasst sogleich reine Lobeshymnen über seinen mäßig erfolgreichen Gitarren-Gott, der plötzlich so unmittelbar real geworden ist. Annie platzt hingegen endgültig der Kragen: „‚Juliet, Naked‘ ist doch nichts anderes als ein erbärmlicher und verzweifelter Versuch, eine tote Karriere noch weiter auszuschlachten", postet sie daraufhin wutentbrannt in Duncans Forum. Mit fatalen Folgen, denn Duncan rastet aus. Die Hass-Mail bleibt jedoch nicht ohne Folgen: „Du hast völlig ins Schwarze getroffen, ich hätte es nicht treffender ausdrücken können", postet völlig unerwartet Tucker Crowe höchstpersönlich in Duncans Fan-Forum.
Damit beginnt er mit Annie einen zarten Dialog, der über eine vertrauliche Internetfreundschaft in eine gefährliche Liaison mündet. Die Rockikone reist nämlich alsbald nach London, um seine Tochter Lizzy (Ayoola Smart, „Trendy") und ihr neugeborenes Kind zu besuchen. Klar will er sich auch mit Annie treffen. Warum nicht, denkt Annie, schließlich ist sie mittlerweile nach 15 lähmenden Jahren von Duncan getrennt: Duncan wiederum ist zwischenzeitlich mit seiner Kollegin Gina (Denise Gough, „Colette") verbandelt, weil die Neue dessen Tucker-Leidenschaft, die Annie so viel Leiden verschaffte, doch „viel besser" verstehe als sie es jemals getan habe. Das Treffen gestaltet sich jedoch als äußerst desillusionierend, dem Kick von vorgeträumten Bildern und prickelndem Miteinander folgt der knallharte Kater in der ruchlosen Realität: Tucker haust nämlich seit Urzeiten im heimeligen Ambiente einer zugigen Garage seiner Ex, um zumindest seinem Sohn Jackson (Azhy Robertson, „Furk") ein guter Papa zu sein. Seine vier anderen unehelichen Kids von häufig wechselnden Frauenbekanntschaften pflegen verständlicherweise keinen Kontakt zu ihrem Erzeuger. Verantwortung? Nein danke, lautete stets Tucker Crows Liebesdevise und blieb damit dem Klischee umtriebiger Klampfen-Gurus treu. Annie steht nun am Scheideweg, mit Blick in den Abgrund. Kann es überhaupt eine gemeinsame Zukunft mit ihrer unsicheren Neu-Errungenschaft geben?
Absolut sicher visualisiert Musikvideospezialist Jesse Peretz („The Chateau") den ergreifenden Roman von Nick Hornby als profunde Mixtur aus Selbstironie, pointierten Dialogen und feinfühligen Charakteren als durchdachtes Dekor in seiner beeindruckenden Romantik-Dramedy. Ergreifend ist aber vor allem die stetige Befreiung und Emanzipation einer nie verstandenen Frau, die in allen Bereichen ihres Lebens weit unter ihren Möglichkeiten, Fähigkeiten, Wünschen und Gefühlen leiden musste. Bis sich ihr durch eine brisante Schicksalsfügung aus dem anonymen Netz zufällig ein konkreter Neustart bietet. Nicht ohne gefährliche Tücken, denn der von Alkohol und Drogen gezeichnete Neue ist alles andere als der sichere Fels in der Brandung. Traumtypen kommen gänzlich anders daher. Am Ende wird doch alles einigermaßen gut, irgendwie, irgendwo, irgendwann. Aber irgendwie schön, geheimnisvoll und spannend, wie eine wuchtig arrangierte Rockoper, in der nichts den alltäglichen Gesetzen, sondern den packenden und kreativen Instinkten des Zufalls folgt.
Zufällig ist jedoch nicht der irreführende Filmtitel: An einem grauen Novembertag des Jahres 2003 erschien das sechste Album aus dem Beatles-Nachlass mit dem Titel „Let it be … Naked". Ein Versuch von Phil Spector mit Orchester und Chor, das letzte Opus der Beatles zu rebooten. Aber schon die Proben sorgten in der Band für reichlich Zündstoff. Während Paul McCartney frugale Arrangements agitierte, weil die Spector-Version „schrecklich" klänge, war John Lennon absolut für dessen Arrangements eingestellt. Erfolgsautor Nick Hornby („High Fidelity", „Fever Pitch", „About a Boy") ist ein wandelndes Musiklexikon. Und das ist in dieser von meisterlich komponierten Tönen getragenen Kinoperle zu hören und zu spüren. Wie auch die melancholische Gemengelage der Gefühle zwischen den Protagonisten Rose Byrne und Ethan Hawke. Ein Hauch von Nostalgie und Nihilismus in Sachen Liebe wabert dabei durch die sepiafarbene Szenerie und entlässt den Zuschauer dennoch mit einem wehmütigen, aber dennoch wohligen Bauchgefühl aus dem Kinosaal.