Baseler Forscher haben einen Test zur Frühdiagnose von Krankheiten entwickelt, die Menschen der Fähigkeit berauben zu erkennen, was andere denken und fühlen. Gemeinsam mit Film- und Theaterschauspielern von East End Film setzten sie Basit um.
Der Umgang mit Emotionen gehört für Sabine Lorenz und Sebastian Schäfer zum Handwerk. Zorn, Verzweiflung, Hass, „alles, was dramatisch ist – das liegt mir", sagt die Film- und Theaterschauspielerin und lacht. Sebastian Schäfer fügt hinzu: „Ob vor der Kamera oder im Alltag: Du solltest deine Gefühle immer so ausdrücken, dass dich andere verstehen."
Just mit dem Verstehen jedoch hapert es bei Menschen, die von der Verhaltensvariante der Frontotemporalen Demenz betroffen sind. Anders als die meisten Demenzpatienten, von denen es in Deutschland rund 1,6 Millionen mit steigender Tendenz gibt, verlieren sie nicht ihr Gedächtnis. Stattdessen ändern sich ihre Persönlichkeit und ihr Sozialverhalten. Sie können möglicherweise nicht mehr unterscheiden, ob ihr Partner gerade traurig oder wütend ist, sie werden stumpfsinnig oder verlieren gänzlich das Interesse an anderen – und das, ohne die Veränderung wahrzunehmen. „Ich erkenne ihn gar nicht wieder", klagen Angehörige dann gegenüber Ärzten und berichten von Missverständnissen, Streit und Verzweiflung.
Nicht nur Fronto-temporale Demenz
Das Phänomen beschränkt sich nicht allein auf die Verhaltensvariante der Frontotemporalen Demenz. Es kann auch bei anderen neurodegenerativen Hirnerkrankungen auftreten; Krankheiten, die zu einem Abbau von Nervenzellen im Gehirn führen oder solchen nach einem schweren Unfall mit Schädelhirntrauma. Das Problem: Die Symptome sind mehrdeutig. Sie können denen einer depressiven oder bipolaren Störung oder einer Schizophrenie ähneln. Standardisierte Tests für die Diagnose gibt es im deutschsprachigen Raum nicht. Der Baseler Verhaltensneurologe Marc Sollberger will das ändern – und klopfte bei Sabine Lorenz und Sebastian Schäfer an.
Marc Sollberger erlebt in der Memory Clinic des Felix-Platter-Spitals in Basel seit Jahren die Auswirkungen der Hirnkrankheiten. „Wenn du Rückenschmerzen hast oder im Alter die Kraft verlierst, bist du trotzdem noch du selbst. Hier verändert sich aber deine Persönlichkeit, und du realisierst es nicht einmal. Das ist teilweise dramatisch und eine belastende Situation sowohl für die Betroffenen als auch ihre Angehörigen, die gar nicht verstehen, warum sie sich plötzlich behandeln lassen sollen", sagt der 47-Jährige.
Die Memory Clinic in Basel, in der er arbeitet, ist eines der größten Zentren für die Diagnostik von Hirnleistungsstörungen in der Schweiz mit rund 500 neuen Patienten pro Jahr. Eine vollständige Heilung ihrer Leiden ist in vielen Fällen nach wie vor unmöglich und Sollberger rechnet nicht damit, dass in absehbarer Zeit ein Durchbruch gelingt. Zumal sich die Beschwerden mit zunehmendem Alter multiplizieren und vermischen und es innerhalb der einzelnen Krankheitsbilder feine Unterschiede geben würde. „Das lässt sich nicht so simpel mit einem einzigen Medikament lösen." Wohl aber helfe eine Früherkennung und Strategien zu entwickeln, um besser mit den Problemen umzugehen. Vor drei Jahren startete Sollberger deshalb ein Forschungsprojekt und suchte an ungewöhnlicher Stelle nach Unterstützung. Er zog die Stuttgarter Produktionsfirma East End Film und professionelle Schauspieler wie Lorenz und Schäfer zurate.
Die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Kultur bestand darin, eine Woche lang Dialoge mit Alltagssituationen zu drehen, in denen die Darsteller Emotionen zum Ausdruck bringen und aufeinander reagieren. Die daraus entstandenen 30- bis 50-sekündigen Clips will Sollberger noch bis Endes des Jahres 240 gesunden Testpersonen jedes Alters zeigen, um herauszufinden, was sie darin erkennen. Die ersten Ergebnisse überraschten das Forschungsteam teilweise. „Wir haben einige Antworten erhalten, die wir so nicht auf dem Schirm hatten", berichtet Valentina Rebecca Arnold, eine von Sollbergers Versuchsleiterinnen. Sobald eine ausreichend verlässliche Stichprobe vorhanden ist, will der Verhaltensneurologe die Antworten der Testpersonen mit denen von Patienten vergleichen, bei denen der Verdacht auf eine neurodegenerative oder verwandte Erkrankung besteht. Die Annahme ist, dass Kranke sich signifikant schwerer tun als Gesunde, wenn es darum geht, Emotionen zu erkennen oder Reaktionen zu erklären.
Filmsequenzen als Diagnosewerkzeug
Es ist ein ungewöhnliches Projekt, aber die Idee ist nicht neu. Die australische Wissenschaftlerin Skye McDonald publizierte 2003 unter dem Titel „The Awareness of Social Inference Test" (Tasit) ebenfalls Filmsequenzen als Diagnosewerkzeug. Der Tasit hat sich als valide und verlässlich erwiesen, aber eben nur im englischsprachigen Raum. Zudem wurde er explizit für Patienten mit Schädelhirntrauma entwickelt – die möglichen Auswirkungen neurodegenerativer Hirnerkrankungen auf die Perspektivenübernahme, also die Fähigkeit von Menschen, Emotionen und Absichten bei anderen zu erkennen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, waren damals noch unterschätzt. Die Baseler Version, Kurzname Basit, will in diese Lücke vorstoßen. Läuft alles nach Plan, könnte er kommendes Jahr erstmals versuchsweise zum Einsatz kommen. Später soll er dann im gesamten deutschsprachigen Raum als Werkzeug dienen.
In der Entstehung des Basit siebten Masterstudentinnen des Fachbereichs Klinische Psychologie und Neurowissenschaften an der Universität Basel Szenen des Originals aus, passten Dialoge sprachlich an und casteten gemeinsam mit der Regisseurin Elaine Niessner von East End Film Schauspieler, die sonst in Fernsehkrimis, Kinofilmen oder auf größeren Bühnen zu Hause sind. „Unser Ziel war es, alles realistisch erscheinen zu lassen, ohne dass es überladen wirkt", sagt Marianne Jarsch, eine der Psychologinnen. Das Setting in einem Hinterhofbüro im Stuttgarter Osten und die Kleidung sollten zeitgemäß sein, aber der alleinige Fokus galt den Emotionen und dem Verhalten der Darsteller. Entsprechend reduziert präsentierte sich das Drehbuch. Um es den Schauspielern leichter zu machen, sich auf ihre Rolle einzulassen, ersannen Jarsch und ihre Kollegin Isabelle Ryf Hintergrundgeschichten zu den Figuren.
Die Filmschaffenden standen vor der Herausforderung, ohne Effekte und größere Rahmengeschichte nuanciert ihre Aufgabe im Dienst der Wissenschaft zu erfüllen – und fanden Gefallen daran. Körperhaltung, Gesichtsausdruck, Sprachtempo: Sie schöpften die Klaviatur ihrer darstellerischen Instrumente aus. „Das Projekt war reizvoll, weil es um ganz konkrete gemeinmenschliche Probleme der Wahrnehmung ging, die zu Konflikten führen können", berichtet Sebastian Schäfer. Regisseurin Elaine Niessner spricht von „einem interessanten Austausch" mit der Wissenschaft und Lisa Wildmann sagt: „Als Schauspielerin fragst du dich manchmal nach dem Sinn deines Schaffens. Du veränderst schließlich nicht gerade die Welt durch dein Tun. In diesem Fall hat sich die Frage nicht gestellt."