Personalkarussell bei der Union, Debatten-Camp bei der SPD, Harmonie bei den Grünen – die Wege sind unterschiedlich, das Ziel dasselbe. Die Parteien suchen nach Markenkernen und eigener Identität.
Ungläubiges Kopfschütteln. „Was soll man da noch sagen?", meint ein gestandenes SPD-Mitglied, fernab von Berlin, wo sich seine Partei ins Debatten-Camp begeben hat. Dass dabei viel rauskommen würde, vermag man an der Basis auf dem Land kaum zu glauben. Der Ortsverein Sitterswald hat zuletzt fünf neue Mitglieder aufgenommen. Sitterswald ist eine traditionelle SPD-Hochburg, die SPD eine echte Volkspartei, die sich um alles kümmert. Vor der Kommunalwahl ist den Genossen hier nicht bange. Nur ist der Ortsteil mit seinen gut 1.500 Einwohnern nicht repräsentativ, nicht einmal für die Gesamtgemeinde, zu der er gehört.
Wenn die Berliner Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe auf dem Debatten-Camp berichtet, die Botschaft der Basis an die Partei sei „linker werden, ökologischer werden, weiblicher werden, vielfältiger werden", mag im ländlichen Ortsverein niemand widersprechen, nur klingt der Wunsch dort schlichter: Die SPD muss wieder klar und eindeutig werden.
An der Basis ist man des ständigen Hickhacks müde, das aus Berlin via Schlagzeilen und Fernsehbildern übermittelt wird. Es wirkt wie zwei Welten: An der Basis wünscht man sich endlich wieder Ruhe in der Parteispitze, dort freut sich Vorsitzende Andrea Nahles über eine diskussionsfreudige Partei, die sich „mit Enthusiasmus" einbringt.
Selbstfindung im Polit-Camp
Für Nahles mag das Debatten-Camp nicht unbedingt der große Befreiungsschlag aus dem Dauerdruck sein, aber Grund genug, durchzuatmen. Das neue Format jenseits von Parteitagsroutinen hat offensichtlich seine atmosphärische Wirkung getan. Ein Einstieg in eine Selbstvergewisserung nach desaströsen eineinhalb Jahren, die gepflastert waren von bitteren Wahlergebnissen und dem Gang in die ungeliebte Groko. Antworten, wie sich die SPD künftig inhaltlich orientiert, hat das Camp nicht gegeben, sollte es auch nicht. Dass die Partei ihr soziales Profil schärfen will, war schon in den Tagen zuvor klar geworden, als Generalsekretär Klingbeil eine Neuausrichtung der sozialen Sicherungssysteme andeutete.
Während bei der SPD die interne Diskussion zum Traditionsbestand gehört, ist die CDU gerade dabei, mit Richtungsauseinandersetzungen, verbunden mit einer echten Auswahl bei Personalentscheidungen, ganz ungewohnte Erfahrungen zu sammeln. AKK, Merz oder doch Spahn? Eine auf offener Bühne ausgetragene Personalentscheidung machen manche in der Partei als eine Art „Sauerstoffzufuhr" aus. Auf Erfahrungswerte kann die Partei dabei nicht zurückgreifen. Zuletzt hatte die CDU bei der Wahl des Parteichefs vor fast einem halben Jahrhundert eine echte Wahl. Auf einem Parteitag in Saarbrücken setzte sich 1971 Rainer Barzel gegen keinen Geringeren als Helmut Kohl durch. Kohl machte die Schlappe aber schon zwei Jahre später wett.
Ob nun eine Saarländerin an die Spitze rückt, ist noch nicht ausgemacht. Kramp-Karrenbauer, die erst im Frühjahr das Ministerpräsidentenamt gegen das Parteiamt (Generalsekretärin) tauschte, setzt alles auf eine Karte. Ähnliches hat sie 2012 gemacht, als sie die erste Jamaika-Koalition auf Landesebene platzen ließ, mit zunächst kaum kalkulierbaren Folgen. Die vorgezogene Neuwahl gewann sie mit Bravour. Fünf Jahre später behielt sie im Schulz-Hype eisern die Nerven, läutete mit ihrem Wahlsieg auf Landesebene das Ende der „Schulzomanie" ein, und erzielte das bislang letzte 40-Prozent-Ergebnis für die Union. In der Partei hat sie sich ein Standing erarbeitet. Ob es gegen Friedrich Merz reicht, ist noch nicht ausgemacht.
AKK mit Standing an der Basis
Merz kam fast daher wie ein Quereinsteiger, der frischen Wind mit bekannter Programmatik bringt. Spahn scheint in diesem Zweikampf aktuell eher zurückzustehen. Das Werben um die Truppen in den Parteigliederungen samt Vorstellungs-Regionaltour ist im Gang. Die Basis, so weit sie sich nicht schon auf die eine oder andere Seite geschlagen hat, nimmt diesen Prozess in großen Teilen wie eine angenehme Überraschung auf, auch wenn sie selbst nur indirekt über die Delegierten mitentscheiden kann. Für AKK kann das ein Vorteil sein, hatte sie doch mit ihrer „Zuhörtour" schon begonnen, Wege aus der zuletzt spürbaren Müdigkeit der Partei zu eröffnen. Die Wahl wird zwar gemeinhin als innerparteiliche Richtungsentscheidung gedeutet und wird sicher auch die Kräfteverhältnisse der parteiinternen Vereinigungen (Frauen, Junge Union, Wirtschaft, Arbeitnehmer, Mittelstand, Kommunalpolitik, Senioren) spiegeln. Die werden aber auch nach der Wahl ihren Einfluss für das neue Grundsatzprogramm geltend machen. Dann wird sich auch zeigen, wie pragmatisch-flexibel sich die Partei aufstellt. Hat es Merkel geschafft, klassische SPD-Themen aufzusaugen, deuten Äußerungen der vergangenen Wochen darauf hin, dass die CDU sich nun auch an traditionell grüne Themen macht.
Über die Grünen sagen Spötter, sie machten zur Zeit alles richtig: nämlich nichts. Kein Streit, keine Richtungskämpfe. Die alten Alphatiere halten sich weise zurück. Die Harmonie auch auf dem Europaparteitag in Leipzig wirkt ebenso echt wie gewöhnungsbedürftig. Mit dem Duo Robert Habeck und Annalena Baerbock haben die Grünen eine Parteispitze, die sich wohltuend vom Politbetrieb der „Berliner Republik" abhebt. Zudem haben sie den Vorteil, derzeit ohne Belastung einer Regierungsbeteiligung im Bund agieren zu können. Dass sie die Oppositionsrolle fast schon staatsmännisch auszufüllen versuchen, unter Verzicht auf überzogene bis unrealistische Forderungskataloge, lässt wenig Angriffsfläche zu. Dass sie mit ihren derzeitigen Wahl- und Umfrageergebnissen überbewertet sein könnten, dürfte sie angesichts der derzeit eher spannungsarmen inneren Verfasstheit wenig stören. Für den Europawahlkampf mag ihre Konzentration auf alte Kernkompetenzen tragen. Für eine Partei, die schon mal gern auf dem Weg zur neuen Volkspartei gesehen wird, werden sie sich aber breiter aufstellen müssen.