Drei Terroristen, 100 operative Einsatzkräfte und ein besetztes Gymnasium: Das Saarland übt zum ersten Mal einen „Terroranschlag mit einem Massenanfall von Verletzten."
Trotz einer Vielzahl bewaffneter Polizeikräfte, die sich um den Klassenraum der 10b des Illtalgymnasiums positioniert haben, ergreift nur ein Mann das Wort. Er ist speziell ausgebildet, weiß, welchen Ton man gegenüber Tätern bei einer Geiselnahme anschlagen muss. Die restlichen Kollegen schweigen, lassen ihm den Vortritt. „Gib uns noch etwas Zeit", richtet der Spezialist seinen Appell an den Wortführer der Terroristen. Sein Ton ist freundlich und bestimmt zugleich. Eine Zeitlang schafft es der Experte sogar, die beiden Geiselnehmer in ein Gespräch zu verwickeln. Doch die Zeit läuft gegen die Einsatzkräfte: Die Täter, die sich auf der zweiten Etage der Schule mit mehreren Geiseln verschanzt haben, werden zunehmend ungeduldiger. „Ich spreche nicht mehr mit dir", brüllt einer der beiden maskierten Männer aus dem besetzen Klassenraum in Richtung der Polizeikräfte. Kurz zuvor hatte der großgewachsene Mann in der schwarzen Kleidung mit arabischer Aufschrift noch die „Freiheit für seine Glaubensbrüder" gefordert. Jetzt blockt er komplett ab. Und auch der zweite Täter scheint zunehmend bereit, seine Drohung in die Tat umzusetzen: Mit dem linken Arm umklammert der Vermummte eine Schülerin, schiebt sie wie einen Schutzschild aus dem Klassenraum vor sich her. Mit der rechten Hand richtet er eine Waffe an den Kopf des verängstigten Mädchens. Bis 12 Uhr wollten die Terroristen mit der Ermordung der Geiseln warten, nun steht der große Zeiger auf fünf nach 12. „Das Ultimatum ist verstrichen", brüllt der Mann mit der Waffe, „ich werde die Geiseln jetzt erschießen."
Nach nur wenigen Augenblicken donnern mehrere Schüsse durch die evakuierten Räume der Schule. Diejenigen, die die Szene beobachten, ducken sich instinktiv. Die Kräfte des saarländischen Spezialkommandos (SEK) überwältigen den Geiselnehmer mit dem sogenannten „finalen Rettungsschuss" – der Terrorist, der noch kurz zuvor seine Waffe auf das Mädchen gerichtet hat, stirbt am Ort des Geschehens. Auch seinen Komplizen machen die Spezialkräfte durch einen gezielten Schuss handlungsunfähig und kümmern sich gleich um die traumatisierte Geisel. Der geht es zum Glück gut: Die junge Einsatztrainerin gehört zur Polizei und spielt bei der Terror-Übung nur die Rolle des Opfers. Auch die Terroristen sind nicht real, sondern werden von Polizeibeamten verkörpert.
Die Vorbereitung dauerte acht Monate
Bei diesem Albtraum-Szenario handelt es sich um eine großangelegte Polizei-Übung, einen „Terroranschlag mit einem Massenanfall von Verletzen", so die Erklärung des Innenministeriums. „Ich hoffe natürlich, dass es im Saarland nie zu einem solchen Szenario kommen wird", kommentiert Klaus Bouillon (CDU) die gestellte Geiselnahme. Dennoch wird es laut dem Innenminister Zeit, sich für den möglichen Ernstfall zu wappnen: „In der heutigen Zeit weiß man nie, was passiert. Wir hoffen natürlich alle, dass Ereignisse wie in Amerika nicht nach Europa überschwappen, aber wie gesagt, man weiß nicht, was passieren kann." Deswegen sei es seiner Kollegin, der saarländischen Gesundheitsministerin Monika Bachmann, und ihm auch so wichtig, die Dinge in Gang zu bringen.
Volle acht Monate bereiteten sich die Einsatzkräfte auf die saarländische Großübung vor. Mit von der Partie beim geprobten Terroranschlag waren auch vier Krankenhäuser: das Universitätsklinikum in Homburg, das Klinikum Saarbrücken auf dem Winterberg, das Marienkrankenhaus St. Wendel und das Marienhaus-Klinikum Saarlouis. Sie arbeiteten sogar gute eineinhalb Jahre auf das Ereignis hin.
„Die größte Schwierigkeit ist die Koordination", erklärt Innenminister Bouillon. Polizeikräfte, Rettungsverband und Kliniken müssen vernetzt werden: „Alle müssen dabei Hand in Hand zusammenarbeiten, von den Sanitätern bis hin zu den Chirurgen." Eine Riesenherausforderung, ohne Übung geht da nichts. „Auf dem Papier kann man die Dinge nicht vorbereiten."
Umso wichtiger, dass das geprobte Szenario der Wirklichkeit möglichst nahe kommt. „Begonnen hat die Übung mit einem fingierten Notruf bei der Führungs- und Lagezentrale der Polizei in Saarbrücken", erzählt Übungsleiter Gerald Stock: Der fiktive Terroralarm kommt aus einem Gymnasium in Illingen. Während der Abschlussveranstaltung einer Projektwoche stürmen mehrere maskierte Täter das Gebäude und eröffnen unmittelbar das Feuer. Das bekommen die rund 120 angereisten Übungsbeobachter aus den verschiedenen Bundesländern noch nicht live mit. Für sie beginnt die Übung mit dem ersten Blick in das Bistro der Schule, kurz nachdem die Schüler und Besucher – gespielt von insgesamt 112 Polizeibeamten und rund 100 Einsatzkräften des Deutschen Roten Kreuzes – unter dem Kugelhagel der Terroristen zu Boden gegangen sind.
Realistische Anfahrtzeiten
Doch auch ohne die vermummten Täter in der Szene wirkt das Bild erschreckend echt: Zwischen umgekippten Stühlen und Bänken harren zum Teil blutende Schüler aus. Zwölf freiwillige Helfer der „Realistischen Unfalldarstellung" des Deutschen Roten Kreuzes, unterstützt von vier Kräften der Bundeswehr, kümmern sich um eine möglichst realistische Optik der Opfer. Rund sechs Liter Kunstblut und jede Menge Theaterschminke kamen bei der Vorbereitung zur Terror-Übung zum Einsatz – auch etwas schauspielerisches Talent war vonnöten. Die täuschend echt aussehenden Verletzten rufen um Hilfe, wie sie es auch im Ernstfall machen würden. Wer noch Kraft hat, hämmert auf die umgeschmissen Stühle ein, um die Rettungskräfte auf sich aufmerksam zu machen.
„Die Rettungskräfte samt Notarzt sind schon da", kommentiert Stephan Laßotta, Pressesprecher des Landespolizeipräsidiums, die verstörend wirkende Szene. „Allerdings warten sie noch auf das Signal der Polizei, dass das Gebäude gesichert ist und sie auch unbeschadet hineinkommen können."
Orientiert an den tatsächlichen Anfahrtszeiten sind es die Kräfte des Wach- und Streifendienstes (WSD), die zuerst am Gymnasium in Illingen eintreffen. Sie sind es auch, die als erste das besetze Gebäude betreten und die Situation soweit wie möglich sichern. Anschließend folgen die Kräfte der Operativen Einheit Saarland (OpE) und das Spezialeinsatzkommando (SEK). Sie übernehmen auch gleich das Kommando vor Ort. Zusammen dringen die schwer bewaffneten Kräfte in das Bistro ein. Dabei kümmert sich ein Teil um die Verletzten und ebnet den Weg für den Rettungsdienst, der Rest durchkämmt die Schule nach den Tätern. „Die Kollegen befinden sich gerade in einer Konfliktsituation", kommentiert Übungsleiter Gerald Stock den Vorgang. „Einerseits müssen sie den Verletzen helfen, andererseits müssen sie dafür sorgen, dass die Täter nicht mehr agieren können."
Sobald die Rettungssanitäter an die verletzen Schüler herankommen, geht alles relativ schnell. Nach der Erstversorgung im Gebäude bringt das SEK die Opfer in einen sicheren Bereich außerhalb des Schulgeländes, rund 100 Meter Luftlinie von dem Gebäude entfernt. Der Abstand ist wichtig: „Hier sind die Verwundeten erstmal sicher", erklärt Laßotta. Die Täter kommen an die Kinder nicht mehr heran. Hier erfolgt auch die umfangreiche notfallmedizinische Versorgung und Stabilisierung durch die Rettungskräfte. Die bereitstehenden Einsatzwagen bringen die Verletzen anschließend in die vier an der Übung beteiligten Krankenhäuser, in denen sie weiter versorgt werden können.
15 Rettungswagen, zehn Krankentransportwagen und sechs Notarztfahrzeuge stehen den Einsatzkräften an diesem Tag zur Verfügung. Sogar „Christoph 16", ein ADAC-Rettungshubschrauber, kam zu Hilfe. „Wir können hier unter realistischen Bedingungen trainieren, wie wir in extremen Gefahrensituationen die Verletzen zügig abtransportieren, ohne uns selbst in Gefahr zu bringen", betont Rüdiger Neu, Regionalleiter des Flugbetriebs. „Das sind entscheidende Dinge, die wir dann in einem Ernstfall sofort abrufen können."
Große Herausforderung für die Chirurgen
Auch Prof. Dr. Tim Pohlemann sieht die große Terror-Übung als eine gute Möglichkeit, sich zu verbessern und manche Schwachstellen aufzudecken. „Wir sind sehr froh, dass es jetzt mit der Übung in dieser Breite und Tiefe geklappt hat", sagt der Direktor der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie. „Wir wissen, dass bei drohenden Terroranschlägen ganz andere Verletzungen zu erwarten sind als sonst bei Großschadensfällen." Im Gegensatz zu stumpfen Verletzungen – beispielweise nach Verkehrsunfällen – geht es dann um sogenannte penetrierende oder offene Verletzungen. „Es sind Schussverletzungen, Explosionsverletzungen, die den Brustkorb, die großen Gefäße und den Bauch betreffen können", sagt Pohlemann. „Das Hauptaugenmerk ist hierbei also die Blutstillung." Und diese Blutstillung kann nur durch operative Maßnahmen herbeigeführt werden. Absolut kein Normalfall: Moderne Chirurgen, die gut vorbereitet und oftmals minimalinvasiv arbeiten, müssten komplett umdenken. „Aber dafür sind genau solche Schulungsmaßnahmen da. Es gibt spezielle Techniken, und die Kollegen, die jetzt gefordert sind, haben es geübt und sind darauf eingestellt."
Gegen halb eins endet die groß angelegte Übung. Die Auswertung wird noch einige Wochen in Anspruch nehmen. Dennoch reichen die ersten Eindrücke schon für eine kurze Stellungnahme: „Ich bin davon überzeugt, dass wir insgesamt gut auf solche Lagen vorbereitet sind", sagt Innenminister Bouillon. „Ich darf bereits jetzt feststellen, dass sich Abläufe zwischen Polizei, Rettungsdienst und den beteiligten Kliniken bewährt haben."
Das macht diese Polizei-Übung auch so einmalig: das Zusammenspiel der zahlreichen Akteure. „Wehrübungen haben wir öfters", sagt Gesundheitsministerin Monika Bachmann, „aber nicht in der Form, dass Krankenhäuser angeschlossen sind. Das gab es im Saarland noch nie."