Miriam Dovermann gibt seit fünf Jahren den „Vintage Flaneur" heraus. Im Interview spricht sie über ihr Magazin, die Faszination für vergangene Jahrzehnte, authentische Vintage-Looks und gibt Tipps für vintageinspirierte Winter-Outfits.
Frau Dovermann, was fasziniert Sie am Vintage-Stil?
Vintage, wie ich es verstehe, gibt jedem die Möglichkeit, das Beste aus sich zu machen. Nehmen wir das Äußere: Ich habe noch nie einen Figurentyp gesehen, für den es im Vintage-Bereich nicht die Kleidung gäbe, die alle Vorteile der Figur betont. Egal aber, ob es um das Äußere oder die innere Einstellung geht: Vintage lässt sich hervorragend dosieren, und kann so jedes Leben ganz nach Gusto des Einzelnen bereichern. Und für die meisten Geschmäcker ist etwas dabei, weil er wahnsinnig vielfältig ist.
Wie kam es dazu, dass Sie mit „Vintage Flaneur" ein eigenes Vintage-Magazin ins Leben gerufen haben?
Eigentlich ist Max Raabe schuld. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, ihn einmal live sehen zu wollen und stieß bei meiner Suche im Internet darauf, dass er bei einem Vintage-Festival namens „Twinwood" in England auftreten würde. Das sah spannend aus und ich und mein heutiger Mann beschlossen, es zu besuchen. Es war ein großartiges Erlebnis. Es ist nicht nur ein sehr schönes Festival, sondern es zeigte uns auch, dass Vintage nicht in eine Szene-Schublade muss. In England durchdringt Vintage alles und ist vollkommen alltäglich, die Briten haben einen sehr entspannten Umgang mit diesem Thema. Das begeisterte mich nachhaltig. So stand ich nun da mit meiner Begeisterung, aber in Deutschland gab es nicht wirklich einen Platz dafür. Ein halbes Jahr später weckte ich nachts meinen Mann und fragte, ob wir nicht ein Vintage-Magazin machen wollten. Viele alte Hasen schütteln da vielleicht den Kopf über den blauäugigen Start, den wir sicher hatten – aber ich hatte ja nichts zu verlieren. Ich stand kurz vor Abschluss meines Germanistik-Studiums und wusste, dass die Arbeitswelt auf so typische Geisteswissenschaftler wie mich nicht wartet. Mein heutiger Mann war selbstständig und hatte daher die Freiheit, ein solches Projekt zu starten – also taten wir es einfach. Wir bemühten uns, uns alle Informationen und Hilfen zu holen, derer wir habhaft werden konnten, ignorierten standhaft alle Zweifler und etwa ein halbes Jahr später kam der erste „Vintage Flaneur" aus dem Druck. Mit Ausgabe 4 sind wir in den Zeitschriftenvertrieb gegangen – das heißt, dass seither der Zeitschriftenhandel mit dem „Vintage Flaneur" beliefert wird. Seitdem wächst und gedeiht er und mit der aktuellen Ausgabe 30 feiern wir fünf Jahre „Vintage Flaneur".
Was findet die oder der Interessierte alles im „Vintage Flaneur"?
Der „Vintage Flaneur" zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass er kein Szene-Magazin ist. Grundsätzlich bietet er jedem die Möglichkeit, sich so viel Vintage, wie er eben möchte, in sein Leben zu holen – in vielerlei Hinsicht.
Da wäre zum einen die Mode. Wir zeigen in jedem „Vintage Flaneur" zwei Fashionstrecken mit vintageinspirierter Kleidung zu einem jeweils bestimmten Thema. Die gezeigte Mode bietet eine große Bandbreite: Sie finden wirkliche Retro-Kleider, die sind dann schon auffällig, wenn Sie in die Stadt gehen. Aber wir stellen auch Kleider vor, die zwar an Vintage angelehnt sind, aber so modern, dass jeder sie im Alltag tragen kann. Dazwischen ist dann noch das eine oder andere Original fürs Herz. Um das zu erreichen, arbeiten wir sowohl mit ganz normalen großen Brands zusammen wie auch mit speziellen Retrolabels und -läden. Für das perfekte Auftreten gibt es dann noch Frisurentipps und aktuelle Make-up-Trends in jedem Heft oder Pflegetipps für Herren. Wir lassen uns dabei etwa von den 20er- bis 50er-Jahren inspirieren, in den 60ern wurde der Einschnitt mit Twiggy und dem Minirock so groß, dass er eine neue Zeitschrift bräuchte.
Aber Schönheit kommt nicht nur von außen! Deswegen umfasst der „Vintage Flaneur" immer auch Denkanstöße zu Themen wie Selbstwert, respektvollem Umgang oder Nachhaltigkeit. Do-it-yourself-Tipps und Rezepte sollen anregen, sich Zeit zu nehmen und etwas mit den eigenen Händen herzustellen. Besonders teuer ist mir unser Think-it-yourself. Auch Geschichte – natürlich in einem Vintage-Magazin – und Kultur kommen mit Hinweisen zu Ausstellungen, Büchern und aktuellen Filmen nicht zu kurz.
Das ist vielleicht der Teil, mit dem viele nicht rechnen, dass Vintage eben nicht nur an Mode gekoppelt ist. Unsere Leser sind nachdenklich. Der „Vintage Flaneur" steht in keiner Weise dafür, dass „früher alles besser war". Aber wir glauben, dass man überlegen sollte, was man sich aus früheren Tagen an Positivem abschauen kann, wie persönlichen Kontakt (versus E-Mails und SMS) oder respektvollem Umgang (Stichwort Benehmen).
Subversiv damit einher geht eine kritische Auseinandersetzung mit dem Heute, aber auch mit der Vergangenheit. Ein Beispiel: Viele Frauen schätzen das feminine, aber nicht so hypersexuelle äußere Frauenbild von damals, das so viel toleranter gegenüber der weiblichen Figur ist als aktuelle Mode. Gleichzeitig sind sich aber auch alle bewusst, dass das frühere gesellschaftliche Frauenbild keineswegs erstrebenswert ist. Der „Vintage Flaneur" versucht unter anderem immer wieder ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was unsere heutige Zeit alles für Errungenschaften bereithält, und dass diese nicht selbstverständlich sind und im Zweifel weiter erstritten werden müssen, wie beispielsweise Frauenrechte. Und wenn man sich mit dem Machtgefälle zwischen Frauen und Männern befasst, steckt man plötzlich mitten in der erst kürzlich stattgefundenen „#Metoo"-Debatte.
Ebenso sind sich, glaube ich, viele unserer Leser in den aktuellen politischen Debatten um Flüchtlinge der historischen Vergangenheit bewusster als viele andere. Der Nationalsozialismus und seine Gräuel sind uns sehr gegenwärtig, und so betrachten wir jeden Rechtsruck mit Sorge. So nimmt der „Vintage Flaneur", der an und für sich überhaupt kein politisches Medium ist, sondern klar ein Unterhaltungs- und Freizeitmagazin, schon auch eine Rolle im aktuellen Geschehen ein.
Die Cover des Magazins sind immer sehr stilvoll. Werden bereits existierende Bilder verwendet oder shooten Sie eigene Fotostrecken?
Bis auf ganz wenige Ausnahmen stammen unsere Cover aus den oben erwähnten Modestrecken. Diese stellen wir selbst her. Sie sind recht aufwendig in der Planung, aber es macht natürlich auch großen Spaß, seine Kreativität so ausleben zu können. Die Themen wählen wir passend zur Jahreszeit aber auch zu aktuellen Modetrends aus. Salopp könnte man sagen: Wenn die ganze Modewelt sagt, dass man gerade „Rot" trägt, zeigen wir, wie man es mit Vintage-Flair tut.
Dahinter steckt dann weiterhin viel Arbeit und ein großes Team aus Fotografen, Hair- und Make-up-Experten, Helfern und natürlich Models, wobei wir bekannt und beliebt für unseren unkonventionellen Modelbegriff sind. Alles muss gefunden und koordiniert werden. Besonders aufwendig ist immer die Suche nach einer passenden Location. Und die Organisation der vielen Mode braucht auch ihre Zeit – und immer wieder Recherchearbeit, um unseren Lesern zu zeigen, was die vintageinspirierte Modewelt aktuell bereithält.
Wie oft erscheint das Magazin und wo kann man es kaufen?
Der „Vintage Flaneur" erscheint alle zwei Monate. Man bekommt ihn in allen Bahnhofs- und Flughafenbuchhandlungen, ausgewähltem Einzelhandel und Kiosken und natürlich online bei uns unter www.vintage-flaneur.de. Er wird in Deutschland, Österreich und der Schweiz vertrieben.
Wie sieht Ihr Leben als Herausgeberin des „Vintage Flaneur" aus?
Mein Leben wird von zwei Faktoren bestimmt: Erstens bin ich selbstständig, zweitens Mutter von zwei kleinen Kindern von ein und drei Jahren. Damit bin ich eine ziemlich klischeehafte „working Mom". Beruflich verbringe ich den Großteil meiner Zeit vor dem Computer und mit Mails, der Versorgung der sozialen Medien oder Texten. Das ist die vielleicht etwas langweilige Wahrheit, auch wenn natürlich einige spannende Reisen wie die zur Berliner Fashion Week, zu Vintage-Veranstaltungen oder zu Präsentationen von Produkten und Kollektionen dazukommen.
Inwiefern leben Sie privat das Thema Vintage?
Ich lebe jeden Tag genauso viel Vintage, wie ich es eben gerade haben mag. Ich liebe es, mich für Veranstaltungen hübsch zu machen. Im Alltag bleibt es aber auch mal bei einem hektisch aufgetragenen Mascara. Meine Alltagskleidung ist an Vintage angelehnt, ich trage viele Kleider. Aber diese sind oft aus pflegeleichtem, bequemem und bügelfreiem Jersey, ich habe weder Zeit noch Lust, viel zu bügeln. Ich liebe es, wenn Kleidung praktisch ist, Taschen hat und unaufwendig, aber trotzdem schön ist. Dazu kommen einige Vintage-Möbel in unserer Wohnung, gemischt mit modernen Teilen. Was bleibt noch? Musikalisch hängt es von meiner Stimmung ab, da wird es schon mal Vintage mit Swing oder Rock’n’Roll, aber ich höre auch vieles andere.
Was haben Sie beobachtet: Was hat sich im Bereich Vintage in den letzten Jahren verändert?
Das Interesse für Stilelemente der 50er ist stabil und ich denke auch nicht, dass sich das so bald ändern wird. Neu ist das zunehmende Interesse an den 20er-Jahren. Weniger modisch als es bei den 50ern der Fall ist. Kein Wunder, eigentlich sind 20er-Jahre-Schnitte nicht sehr schmeichelhaft. Aber insbesondere das Berlin der Roaring Twenties fasziniert derzeit wirklich Massen von Menschen, vielleicht auch wegen des eh vorherrschenden Berlin-Booms. Sie müssen sich nur die zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen wie „Babylon Berlin" anschauen oder die Partys im Bereich Electroswing und die vielen Bücher, die zu dem Thema erscheinen.
Gibt es neue Trends im Bereich Vintage?
Die Trends im Vintage-Bereich entwickeln sich ähnlich zu denen der sonstigen Modewelt: Derzeit sind es an Mustern Blumen auf dunklem Grund –
daher finden Sie auch eine Modestrecke in unserer aktuellen Ausgabe 30 dazu –
und Karos. Die gefragten Winterfarben bleiben dunkles Grün, Bordeaux und Pflaume, nachdem diesen Sommer und Herbst Gelb und Senftöne sehr angesagt waren. Im Interieurbereich schlägt sich gerade sehr der 20er-Trend nieder: Sie finden Samt an allen Ecken, Cocktailsessel mit muschelförmigen Lehnen, Jugendstilmuster auf Porzellan und so weiter.
Was, würden Sie sagen, lässt einen Vintage-Look authentisch wirken?
Authentisch und „gut" ist ein Look immer nur dann, wenn er zu seiner Trägerin oder seinem Träger passt. Man muss sich wohlfühlen, sonst sieht man auf jeden Fall verkleidet aus. Das müssen Sie sich immer klarmachen. Wenn Sie aber einfach ratlos sind, wie Sie einen vintageinspirierten Look zaubern können: Besonders einfach ist es, einen Rock – entweder einen glockenförmigen oder einen eleganten engen – zu einer Schluppenbluse zu tragen. Je kürzer der Rock, desto weniger Vintage wirkt er. Wenn Sie Hosen bevorzugen, wären High-Waist-Hosen die Vintage-Wahl, sowohl als weite Marlene-Hose als auch als enge Capri.
Letzten Endes ist es vor allem eine Frage der Silhouette: Die derzeitige Silhouette schreibt sehr schlanke Beine vor, darüber kommen weite Oberteile. Im Vintage-Bereich aber liegt der Fokus auf der Taille – außer in den 20ern, aber die waren, wie gesagt, modisch auch schwierig.
Mit Perlenketten und Broschen lässt sich auch einfach ein Vintageflair vermitteln. Etwas für Frauen, die keine Angst haben aufzufallen, ist der Hut. Übrigens ein überaus praktisches Accessoire.
Herren können mit Hosenträgern (dann aber bitte keinen Gürtel dazu!) und Westen, Hüten und zum Beispiel Halstüchern oder Fliegen eigentlich sehr leicht einen gepflegten Vintage-Touch erreichen.
Wie sieht für Sie das perfekte Vintage-Make-up für den Winter aus? Können Sie uns Schminktipps und Tipps für die optimalen Farbtöne geben?
Sehr typisch für ein Vintage-Make-up sind die „Wings", der über die Augenwinkel hinaus nach außen gezogene Lidstrich. Und fast unverzichtbar sind rote Lippen, am besten matt. Jetzt im Winter bieten sich dunkle, beerige Töne an. Da sie sowieso gerade sehr gefragt sind, bekommt man dementsprechende Lippenstifte auch sehr gut überall, wo es Make-up gibt.
Welche Vintage-Frisuren sehen in der kalten Jahreszeit toll aus? Wie kann man sie selbst machen?
Vintage-Frisuren sind ein Kapitel für sich. Die Frauen damals haben sehr viel Zeit und Können auf ihre Haare verwendet. Ich kann hier nur empfehlen, bei Interesse einschlägige Literatur oder einen auf Vintage spezialisierten Friseur zu Rate zu ziehen – Youtube geht auch, und in jedem „Vintage Flaneur" gibt es natürlich ein Haar-Tutorial.
Retro-Frisuren sind wahnsinnig vielfältig, insofern ist für jeden Haartypen etwas zu finden. Und auch, wenn man kein Meister des Frisierens ist, lassen sich einfache Alternativen finden, wie einen schön geschmückten Bob oder einen klassischen Dutt.
Wo sollte man sich umschauen, wenn man auf der Suche nach einem tollen 50er-Jahre-Kleid ist?
Sie finden in so ziemlich jeder größeren Stadt einen oder mehrere Vintageläden und Google wird Ihnen die verschiedensten Onlineshops ausgeben, die Sie zu Rate ziehen können. Die einen punkten mit einem charmanten Aufenthalt und toller Beratung, die anderen mit einer riesigen Auswahl.
Einen wirklich guten Tipp kann ich Ihnen aber geben, der Ihnen Geld und blöde Erlebnisse ersparen wird: Lassen Sie die Hände von billiger, nachgemachter Kleidung. Wenn Sie im Internet ein Kleid sehen, das auf dem Foto toll aussieht, aber nur 20 Euro kostet, kann da etwas nicht stimmen, und Sie werden nicht glücklich damit werden.
Wie kann man ein winterliches Vintage-Outfit zaubern?
Ein schöner, taillierter Mantel, vielleicht ein Filzbarett, verziert mit einer Brosche, und schmale Schnürstiefel. Ein Muff sieht toll aus – ist aber nicht irre praktisch.
Weitere Infos: www.vintage-flaneur.de