Mit dem 2019 startenden Projekt Icarus, einer Tierbeobachtung aus dem All, möchten Forscher nicht nur die Wanderungsbewegungen von Tieren genauer kennenlernen, sondern auch ein weltweites Frühwarnsystem für Epidemien und Naturkatastrophen aufbauen.
Mit der achtstündigen Montage eines Mastes samt Antenne an der Außenhülle des russischen ISS-Moduls durch die Raumfahrer Oleg Artemjew und Sergei Prokopjew unter Aufsicht des deutschen ESA-Astronauten Alexander Gerst am 15. August 2018 trat das internationale Mammutprojekt Icarus in seine heiße Phase. Es wurde vor 16 Jahren durch Martin Wikelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell erdacht und konzipiert. Wikelski wollte für sein wissenschaftliches Lebenswerk anfangs die Nasa, die beim Ende der 70er-Jahre gestarteten und satellitengestützten Vorgängerprojekt Argos federführend gewesen war, mit ins Boot holen. Da die Amerikaner eine Beteiligung abgelehnt hatten, wandte er sich an die Russen und deren Raumfahrtbehörde Roskosmos. Die zählt daher gemeinsam mit der Max-Planck-Gesellschaft, dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, der Europäischen Raumfahrtagentur ESA und der Universität Konstanz heute zu den wichtigsten Partnern der Icarus-Mission. Die deutschen Beteiligten zeichneten dabei für die Entwicklung der Technik verantwortlich, während den Russen die wesentliche Aufgabe des Transports und die Montage der Technik anvertraut wurden.
Das Kürzel „Icarus" steht für „International Cooperation for Animal Research Using Space", also für eine Internationale Kooperation zur Beobachtung von Tieren aus dem Weltraum. Ornithologen und Naturschützer erhoffen sich davon nützliche Aufschlüsse über die weltweiten Wanderungsbewegungen von Tieren, was zum Artenschutz, zu neuen Erkenntnissen über die Auswirkungen des Klimawandels und auch zu besseren Einblicken für die Übertragung von Krankheiten wie der Vogelgrippe beitragen kann. Ihre Kollegen aus anderen Wissenschaftsbereichen möchten mit Hilfe von Icarus ein globales Frühwarnsystem für Epidemien wie Ebola oder für Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Vulkanausbrüche etablieren.
Dabei wollen sie den vermeintlich siebten Sinn der Tiere nutzen, die laut diverser Berichte schon geraume Zeit vor Ausbruch vergangener Katastrophen ungewöhnliche Verhaltensauffälligkeiten gezeigt oder gar die Flucht vor dem jeweiligen Krisenherd gesucht hatten. So ist etwa bekannt, dass sich die Ziegen im Umfeld des Ätna in Sizilien vor jedem Vulkanausbruch auffällig bewegen oder dass sich indonesische Elefanten im Jahr 2004 vor dem Tsunami im Indischen Ozean rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatten. Wikelski geht fest davon aus, dass sich durch die genaue Beobachtung der Tiere Naturkatastrophen vorhersehen lassen: „Wir haben seit dem Altertum Hinweise darauf, dass so etwas funktionieren kann. Selbst wenn so eine Vorhersage nur in einem Bruchteil der Fälle klappen würde, wäre das ein Riesending."
Ziel des Icarus-Projekts ist es, die genauen globalen Wanderbewegungen von Tieren zu beobachten. Dafür werden die Tiere mit Minisendern ausgerüstet und die Messdaten an eine Empfangsstation im All übertragen – und zwar an die Raumstation ISS. Diese übermittelt die Daten an eine Bodenstation, die die Resultate in der für jedermann frei zugänglichen Datenbank namens Movebank speichert und veröffentlicht. Bei den Mini-Sendern handelt es sich um Spezialanfertigungen, die fünf Gramm wiegen, zwei Kubikzentimeter groß sind (was etwa dem Format einer Ein-Euro-Münze entspricht), über eine 15 Zentimeter lange Drahtantenne verfügen und eine Speicherleistung von 500 Megabyte bieten. Im Laufe der nächsten drei Jahre soll das Gewicht der Sender auf nur noch ein Gramm reduziert werden, damit auch kleinste Tiere ohne Behinderung ihrer körperlichen Funktionen damit ausgestattet werden können. Generell soll ein Sender nicht mehr als fünf Prozent des Körpergewichts eines damit versehenen Tieres ausmachen dürfen – von Vögeln über Fledermäuse oder Meeressäugern bis hin zu Schmetterlingen.
100.000 Tiere sollen Sender erhalten
Die Haltbarkeit der jeweils 500 Euro teuren Sender wird auf zwei bis fünf Jahre taxiert. Sie verfügen über GPS, sechs Sensoren, einen Lithium-Ionen-Akku und Solarzellen, mit denen der Akku ständig wieder aufgeladen werden kann. Sie können bei jeglichem Wetter Daten an eine bis zu 800 Kilometer entfernte Empfangsstation im Weltall funken. Da die ISS die Erde 16-mal pro Tag umkreist, kann sie die Daten problemlos auf einem jeweils rund 800 Kilometer breiten Streifen ablesen und damit insgesamt die Fläche zwischen den 56. Breitengraden Nord und Süd abdecken. Damit können alle Landmassen auf der Südhalbkugel erfasst werden, im Norden alle Regionen bis etwa auf die Höhe von Kopenhagen oder Moskau. Die Sender übermitteln nicht nur die genaue Position der Tiere, sondern auch deren Beschleunigung, die Ausrichtung zum Magnetfeld der Erde, die Umgebungstemperatur sowie Luftdruck und Feuchtigkeit. Das Icarus-System auf der ISS kann alle drei Sekunden Signale von etwa 120 Sendern empfangen.
Beginnen will man das Projekt Anfang 2019 mit 1.000 Sendern beziehungsweise Tieren, die Zahl soll aber schnell erhöht werden. Wikelski: „Letztlich wollen wir 100.000 tierische Spürhunde für die Menschheit. Wir fangen jetzt damit an, Tiere an Orten zu besendern, wo Naturkatastrophen auftreten." Beispielsweise Pagageien in der Nähe eines Vulkans in Nicaragua, Ziegen im erdstoßgeplagten Mittelitalien oder Bären als Erdbeben-Indikatoren auf der ostsibirischen Halbinsel Kamtschatka.
Dass auch die Medizin bei der Bekämpfung oder Eindämmung von Epidemien davon profitieren kann, möchte Wikelski mit einem Forschungsprojekt zeigen. Dafür sollen Flughunde, die in Afrika in riesigen Schwärmen über den Kontinent ziehen und häufig Ebola-Antikörper besitzen, mit Sendern ausgestattet werden. Die Tiere sind nach Meinung vieler Forscher zwar nicht die Überträger des Virus, müssen aber mit dem Erreger irgendwo in Kontakt gekommen sein. Im Falle einer Ebola-Epidemie könnte man womöglich anhand der Wanderungsbewegungen ermitteln, wo der jeweilige Erreger herstammt – und so sogar bislang vielleicht unbekannte Ebola-Reservoire aufspüren.
Auch Enten, die Infektionskrankheiten wie die Vogelgrippe und auch gegen Antibiotika resistente Bakterien übertragen können, werden mithilfe der Sender beobachtet. Dafür werden Enten in Sibirien entsprechend präpariert, um durch die anschließende Dokumentation der Flugrouten die Ausbreitung der Krankheitserreger unter den Tieren ermitteln zu können. Wie dieses letzte Beispiel schon zeigt, sollen zunächst vor allem deutsche und russische Versuchsprojekte Priorität haben, auch wenn inzwischen angeblich schon Tausende Anfragen aus der ganzen Welt vorliegen. Welche Vorhaben letztlich zum Zug kommen werden, soll ein derzeit im Aufbau befindliches und international besetztes Ethik-Komitee entscheiden. Zum Problem könnte die zeitliche Beschränkung der Icarus-Mission wegen der ungewissen ISS-Zukunft werden. Denn die Existenz der internationalen Raumstation ist bislang nur bis zum Jahr 2024 garantiert. Doch auch diesbezüglich ist Wikelski optimistisch: „Ob andere Länder bis zum Jahr 2024 aussteigen, ist nicht so wichtig. Die Russen wollen die Raumstation bis 2028 betreiben."