Diplom-Physiker Lars Miersch erforscht am Marine Science Center in Rostock die Navigationsfähigkeiten von Robben. Im Interview spricht er über die Arbeit mit den Tieren, Erkenntnisse über deren Barthaare und die Bedeutung für Unterwasserroboter.
Herr Miersch, wie darf ich mir den Inhalt Ihrer Forschung vorstellen?
Der Inhalt der Forschung hat übergeordnet das Thema Orientierung. Also wie sich insbesondere Meeressäuger, das sind unsere Forschungsobjekte, auf dem offenen Meer, also in einem strukturarmen Lebensraum, zurechtfinden, ohne GPS, ohne Kompass und was wir Menschen so als Hilfsmittel benutzen. Wie machen die Tiere das? Wie fangen sie zum Beispiel einen Fisch, wenn sie gar nichts sehen können, weil es sehr trüb ist im Wasser? Solche Geschichten. Oder wie finden sie bei Nacht über zig Kilometer ihre Sandbank oder ihren Paarungsort. Das sind so die großen, übergeordneten Fragen.
Wie funktioniert das? Fangen Sie Robben ein oder begleiten Sie sie?
Wir haben Zoogeburten, also Tiere, die in Gefangenschaft gezeugt wurden und die dann nach und nach zu uns gekommen sind. Die haben wir in unserer Forschungsanlage, und die bleiben auch in unserer Forschungsanlage. Die Tiere sind trainiert darauf, mit uns zu arbeiten. Und in dieser Zusammenarbeit werden die entsprechenden Fragestellungen angegangen.
Wie sieht diese Zusammenarbeit konkret aus?
Wir arbeiten nicht-invasiv, also mit Trainingsmethoden. Der Fachbegriff ist die operante Konditionierung.
Das heißt?
Das heißt, dass die Tiere Aufgaben lösen müssen, die wir ihnen stellen. Sie werden, wenn sie es richtig machen, mit Futter belohnt. Wenn sie es nicht richtig machen, gibt es keine Strafe, aber es gibt dann kein Futter in dem Moment, in dem was falsch gemacht wird. Und wenn etwas richtig gemacht wird, gibt es wieder Futter. Auf diesem Weg kann man quasi den Tieren beibringen, Aufgaben zu lösen. Anhand dessen, ob und wie gut sie die Aufgaben lösen, können wir wieder lernen, was die Tiere für Informationen benutzen, wie sie die kognitiv verarbeiten.
Wie sehen solche Aufgaben aus?
Ich nenne Ihnen ein einfaches Beispiel: Wenn ich ein Unterwasseraudiogramm erstellen will, um das Hörvermögen der Tiere festzustellen, dann muss ich das Tier in einem festen Abstand zu einem Lautsprecher platzieren. Das wäre die erste Aufgabe. Das Tier muss merken, an einem bestimmten Punkt zu warten. Das machen wir, indem wir ein Target, also einen Ball, im einfachsten Fall an einer Stange positionieren. Das Tier lernt dann, mit seiner Nase an diesen Ball zu tippen und dort zu warten. Wenn das Tier das macht, kriegt es schon mal einen Fisch für diese Teilaufgabe. Dann wird ein Ton abgespielt aus diesem Lautsprecher. Jetzt soll das Tier „sagen", ob es den Ton gehört hat oder nicht, indem es zum Beispiel an einen anderen, daneben liegenden Ball tippt. Wenn es den Ton hört, tippt es dagegen, wenn es ihn nicht gehört hat, bleibt es an seinem Warteball. Wenn er das richtig macht, gibt es einen Fisch und wenn nicht, dann eben nicht. Nun kann man sowohl Frequenz als auch Lautstärke variieren und hat im Anschluss ein Audiogramm und kann sagen, wie gut die Tiere unter Wasser hören.
Können Sie ein zweites Beispiel nennen?
Es gibt verschiedenste Sachen. Mustererkennung zum Beispiel. Sie zeigen dem Tier zwei Tafeln mit einem Kreis und einem Dreieck, und es soll immer das Dreieck auswählen, indem es dagegen tippt. Dann findet man raus, ob Tiere Muster erkennen können. Wenn sie es richtig machen, gibt es einen Fisch.
Können Robben Muster erkennen?
Ja, können sie. Wobei man witzigerweise immer auf Phänomene trifft. Es ist nicht immer das, was für einen Menschen einfach ist, auch für das Tier einfach. Also gerade Kreis gegen Dreieck, da denkt man ja, das kann jedes Kind. Aber Kreis und Dreieck sind für die Tiere unter Umständen gar nicht relevant. Das sind keine relevanten Objekte, die ihnen in ihrem natürlichen Lebensraum begegnen. Und dann stellen sie sich manchmal etwas an. Sie tun sich schwer. Bei anderen Sachen, die uns kompliziert erscheinen, können sie die Aufgabe mit Bravour lösen, ganz schnell. Wir fragen uns dann immer: Wie machen die das? Aber das ist einfach deshalb der Fall, weil es in ihrem Lebensraum eine viel höhere Relevanz hat. Solche Sachen muss man beachten. Aber grundsätzlich können sie das schon. Sie können Muster erkennen.
Sehen die Tiere unter Wasser besser als über Wasser, so wie wir unter Wasser schlechter sehen?
So kann man es nicht sagen. Was man weiß und zeigen konnte, ist: Die Tiere können sowohl unter Wasser als auch an Land scharf sehen, weil sie ihren dioptrischen Apparat, die Linse, daran angepasst haben, das zu können. Sie haben quasi eine amphibische Lebensweise. Sie verbringen einen Teil des Tages an Land und einen Teil unter Wasser und müssen in beiden Medien natürlich scharf sehen.
Was können wir als Menschen konkret von Robben lernen?
Jetzt gehen wir konkret in Richtung Bionik. Man muss unterscheiden: Wir machen als Hauptarbeit Grundlagenforschung. Und bei dieser Grundlagenforschung gibt es hin und wieder ein Phänomen, das man bearbeitet, oder ein Ergebnis, das man dann sieht und wo man denkt, dass man das auch für den Menschen nutzbar machen könnte.
Da hätten wir, was am weitesten vorangeschritten ist, die Vibrissen zu nennen. Das sind die Barthaare der Tiere. Mit diesen Barthaaren können die Tiere feinste Wasserbewegungen erfassen, also spüren. Und sie können sie lesen, also interpretieren.
Wie funktioniert das?
Ein Beispiel wäre: Ein Fisch schwimmt vorbei und hinterlässt eine Spur aus Wirbeln, die sich bei den Flossenschlägen ablösen. Diese Spur bleibt bestehen, wenn nicht zu viele Störungen im Wasserkörper sind. Das ist ein gewisser Zeitraum im Minutenbereich. Der Fisch ist also schon längst weg, und der Seehund trifft diese Spur und kann sie dann lesen und dadurch den Fisch verfolgen. Er hätte insofern die Möglichkeit, den Fisch zu verfolgen und zu fressen, ohne etwas sehen zu müssen oder ohne, dass der Fisch in der Nähe ist.
Erstaunlich, dass die Tiere das können. Wie ging es weiter?
Dieses sensorische System haben wir erforscht im Hinblick darauf, dass man das technisch nachbaut. Da gibt es ein paar hydrodynamische Besonderheiten, die interessant sind. Man könnte es aber auch einfach eins zu eins nachbauen, als Messsystem, um kleine Unterwasserroboter damit auszustatten und sie in die Lage zu versetzen, auch Wasserspuren lesen zu können. Bis dahin hatte man kein Messgerät.
Wie können wir das einsetzen?
Wie gesagt, zum Beispiel in unbemannten Unterwasserfahrzeugen. Die werden etwa für Riffkartierungen eingesetzt, Biomonitoring – nur mal als ein Beispiel. Und die müssen eine bestimmte Sensorik haben, um ihre Aufgabe zu erfüllen und wieder nach Hause zu finden, je nach Modell. Wenn die sich in so einem Riff verirren, kann es ganz wichtig sein, Strömungen zu interpretieren, um den Ausgang aus so einem Rifflabyrinth zu finden. Das ist nur mal ein Beispiel. Es gibt noch viele weitere. Aber das wäre so eine zivile Anwendung.
Also eine Navigation für Forschungsgeräte?
Richtig. In der marinen Robotik, das können auch große und bemannte U-Boote sein, die einen zusätzlichen Hydrodynamiksensor bekommen. Da ist natürlich der Schritt in die militärische Forschung ganz klein. Man muss aufpassen, was man tut. Aber es gibt genug zivile Anwendungen. Vom Aquafarming über Biomonitoring bis zur Ozeanografie, wo man Meeresströmungen vermessen will, die Schiffe hinter sich herziehen. Da gibt es ein großes Anwendungsfeld, auch in der Industrie. Dort kann man die Technik einsetzen, um Rohrströmungen zu vermessen oder Strömungsmuster in größeren Becken zu erfassen.
Ich stelle es mir hochkomplex vor, das umzusetzen. Man weiß, was die Barthaare können, aber wie kommt man drauf, wie man die Technik nutzen kann?
Erst mal extrahiert man ein Einzelhaar von einem toten Tier und untersucht es im Strömungskanal, um die ganze Hydrodynamik und deren Eigenschaften zu verstehen. Dann macht man gern eine numerische Simulation, um zu verstehen, ob man ein Modell beschreiben kann, das dieselben Ergebnisse liefert wie das natürliche Haar.
Dann hat man schon viel verstanden, oder?
Genau. Danach geht es daran, künstliche Haare zu bauen, die dieselben Eigenschaften haben. An diesem Punkt muss man noch die Sensorik auf Rezeptorebene hinbekommen. Das heißt, man muss in dem Fall eine mechanische Auslenkung durch eine Wasserbewegung in ein elektrisch verwertbares Signal umsetzen, das man irgendwo einlesen und mit EDV weiterverarbeiten kann. Und dann hängt es vom Anwendungsfall ab: Will man einen großen Sensor haben? Will man etwas ganz kleines haben, weil man nur ein kleines Messvolumen hat? Da geht es an die problemspezifische Anpassung.
Woher wissen Sie, wie die Rezeptorik beim Tier funktioniert?
Das ist eine gute Frage. Man geht histologisch ran. Also man nimmt von toten Tieren Gewebeproben oder die Teile des Gewebes, wo die Rezeptoren angesiedelt sind. Dann kann man Schnitte anfertigen, mit Färbetechniken arbeiten und schauen, wie die Natur das gelöst hat. Das hilft einem erst mal, um das biologische System zu verstehen.
Aber man kann es nicht eins zu eins nachbauen?
Nein, aber wenn man grob weiß, wie die Rezeptorik im Original, also im biologischen System, aussieht, kann man schauen: Wie kann ich das jetzt technisch, in dem Fall elektronisch, umsetzen? Es gibt mehrere Messprinzipien, die ein bisschen von der Anwendung abhängen. Man versucht, mehrere Sensortechniken durchzuspielen und an die Problemfragestellung anzupassen und schaut dann, welche am besten funktioniert, was Temperaturstabilität, Feuchtigkeitsstabilität und Störeinflüsse durch elektromagnetische Felder angeht. Das muss man alles abwägen, sich für eines entscheiden und dann aufbauen.
Wie weit sind Sie mit dieser Forschung?
Wir sind so weit, dass wir schon eine sensorische Einheit gebaut haben, die auch gut funktioniert, was ein Einzelhaar angeht. Das ist quasi ein Prototyp eines Einzelhaares, mit dem man Vorexperimente machen kann. Der nächste Schritt wird sein, daraus ein Feld zu bauen, also eine geometrische, zweidimensionale Anordnung aus Sensoren, mit denen man Gradienten vermessen kann. Also nicht nur punktuell, sondern zweidimensional. Und wenn man dann zwei von diesen Ebenen noch in einem gewissen Winkel zueinander angestellt hat, kann man auch dreidimensional messen. Das sind immer die Laborstadien. Man muss schauen, dass man das miniaturisiert, technisch robuster macht, als man es im Labor braucht, bevor man in die Anwendung geht, draußen im Feld.
Wie lang hat der Prozess von der Entdeckung, was die Haare können, bis zu Prototypen gedauert?
Das ist ein langer Weg. Man muss ein bisschen weiter ausholen. Die Tatsache, dass Meeressäuger und insbesondere Robben diese Wasserbewegungen überhaupt nutzen können, wurde von uns beschrieben und ist die Entdeckung, wenn man so will, eines neuen Informationskanals. Das ist eine große Geschichte gewesen und schon ungefähr 20 Jahre her. Mit dieser Entdeckung durch Professor Guido Dehnhardt hat sich ein ganzes Forschungsfeld geöffnet, das biologische Grundlagenforschungsfragen aufgeworfen hat. Also: Wie viel Energie investieren die Tiere, um dieses System aufrechtzuerhalten? Wie hat es sich entwickelt in der Evolution? Und natürlich auch die bionische Seite, wo man in die Strömungskanalversuche und die numerische Simulation geht. Von der Entdeckung vor 20 Jahren mit vielen Untersuchungen bis jetzt zum Prototypen ist eine Zeit von eben zwei Jahrzehnten vergangen.
Das ist eine lange Zeit.
Ja, das hängt aber immer davon ab, wie Forschungsprojekte bewilligt werden. Wenn man einen Antrag stellt für eine Untersuchung und den dann aber nicht bewilligt kriegt, hat man wieder ein Jahr verloren, bis der nächste Antrag gestellt wird. Die Forschung ist ja heute maßgeblich drittmittelfinanziert. Wenn man einen hat, der sagt: „Macht das bitte, ich finanziere euch die nächsten fünf Jahre", dann würde man auch schneller sein. Aber das ist in der Forschung unüblich.