Tiere und Pflanzen sind wahre Künstler. Sie haben sich optimal an die Bedingungen ihrer Umgebung angepasst. Der Mensch kann sich das zunutze machen – mit den Errungenschaften bionischer Forschung. Ein Überblick.
Über Millionen von Jahren hat die Evolution die Natur mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet. Tiere und Pflanzen kommunizieren, orientieren sich und nutzen ihre Fähigkeiten im Wasser, in der Luft und auf dem Land. Bionikforscher haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Fähigkeiten der Natur zu studieren und sie für die Menschheit zu nutzen. Von den Vorbildern der Natur lernen – das macht das Netzwerk Biokon in Perfektion. Die Forschungsgemeinschaft ist ein Kompetenznetz mit Sitz in Berlin. „Wenn man es plakativ sagen möchte: Bei uns sind alle Akteure im Bereich der Bionik vereint", sagt der Geschäftsführer des Vereins, Rainer Erb. Universitäten, Arbeitsgruppen, Fraunhofer-Institute, aber auch Privatpersonen und Firmen wie Airbus oder Brose sind in diesem Netzwerk zusammengeschlossen. Biokon operiert an 73 Standorten in Deutschland und fünf im Ausland und ist damit nach eigener Aussage eines der wichtigsten Bionik-Netzwerke. „Durch den Zusammenschluss haben wir eine gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit, wir organisieren Projekte von Partnern und für Partner", erklärt Erb. „Das Wesen der Bionik ist, dass sie sehr interdisziplinär ist. Wenn es etwa eine Forschung gibt, die den Bereich der Oberflächen- aber auch der Materialtechnologien betrifft, dann kommen sie bei uns als Schnittstelle zusammen und nutzen die Kompetenz des jeweils anderen."
Klette wurde zum Klettverschluss
Auf diese Weise haben die Bioniker in ganz Deutschland schon so manche Errungenschaft der Evolution für den täglichen Gebrauch der technisch fortgeschrittenen Zivilisation nutzbar gemacht. Derzeit gibt es in der Bionik einen brandaktuellen Trend, erklärt Rainer Erb: 3D-Drucker. „Viele kennen die inzwischen auch aus dem privaten Bereich, aber in der Bionik ist das eine Technologie, die Quantensprünge ermöglicht." Leichtbaustrukturen, die mit bionischen Methoden bislang theoretisch erforscht waren, lassen sich im 3D-Drucker nun erstmals herstellen. Wie solche Teile idealerweise aussehen, lernen wir von der Natur. Vorbilder sind Kleinstlebewesen im Meer, Bäume oder Knochen. Sie bilden Strukturen, etwa Knochen oder Panzer, die klein, aber dennoch stabil sind. „Und wenn das Bauteil in 3,8 Milliarden Jahren optimiert worden ist, kann ich es im Computer schnell wachsen lassen", schwärmt Erb. „Da kommen abgefahrene Strukturen raus. Klassisch war das bislang kaum herstellbar. Das ist der Punkt, der sich geändert hat. Ich kann die aus der Natur entwickelten Strukturen über 3D-Druck herstellen und einbauen." Solche Leichtbaustrukturen kommen vor allem im Flugzeugbau zum Einsatz. Der Airbus A350 etwa nutzt leichte Bauteile, die tierische Konstruktionsweisen zum Vorbild haben. Denn die Airlines kämpfen gegen jedes Gramm zu viel, um den CO2-Fußabdruck der immer intensiver fliegenden Umweltsünder möglichst kleinzuhalten. „Das gleiche gilt im Automobilsektor auch", sagt Erb.
Die Bioniker bringen Natur und Technik zusammen. Der Denkansatz, den sie dazu verwenden, laufe immer nach demselben Muster ab. „Es gibt die drei ‚A", erklärt Erb. „Analyse, Abstraktion und Anwendung." Systeme verstehen, auf moderne Technik übertragen und anschließend zur Anwendung bringen – nicht immer ist nach diesem Prozess für den Laien erkennbar, wer genau Pate für eine technische Errungenschaft stand oder dass es sich überhaupt um ein Vorbild aus der Natur handelt. „Es gibt eine künstliche Haihaut, einen Bootslack, der dafür sorgt, dass sich an Booten keine Algen ansiedeln können", sagt Erb. Anders sieht es beim Klettverschluss aus, der eindeutig eine Pflanze zum Vorbild hatte. Erfunden hat ihn der Schweizer Ingenieur Georges de Mestral, dem bei Spaziergängen mit seinem Hund auffiel, dass sich immer wieder Kletten in den Haaren seines treuen Begleiters verfingen. Er wurde neugierig und legte die Früchte unter sein Mikroskop, wo er winzige elastische Häkchen entdeckte. De Mestral sah das als Möglichkeit, zwei Komponenten zu verbinden und erfand den textilen Klettverschluss. Damit schuf er das wohl bekannteste und erfolgreichste Produkt der Bionik. Inzwischen arbeiten Bioniker schon an Klettverschlüssen der zweiten Generation – sie sollen weniger leicht verschmutzen und nicht mehr das typische Ratsch-Geräusch beim Öffnen machen.
Eine weitere bekannte Errungenschaft der bionischen Forschung ist der Lotus-Effekt. Er basiert auf der mikro- und nanostrukturierten Oberfläche in Noppenform der gleichnamigen Lotus-Pflanze und den wasserabweisenden Eigenschaften der äußeren Wachsschicht der Pflanze. Wassertropfen nehmen dort Schmutzpartikel auf und können sie leicht wegtragen. Dass das Wasser so leicht abperlt, liegt an der wasserabweisenden Oberfläche. Dort hat der Tropfen nur an wenigen Stellen Kontakt zur Pflanze. Zur praktischen Anwendung kam dieser Effekt bei einer Fassadenfarbe. Die Farbe hat eine Nanostruktur und ist in der Lage, sich selbst zu reinigen. Der Bioniker Wilhelm Barthlott hatte den Lotus-Effekt für diese Technik nutzbar gemacht. Auch Algen und Pilze können sich an der Wandfarbe nicht ansiedeln.
Bionische Wasserpumpe für Wüste
Eine Entdeckung des Forscherteams vom Fachgebiet Bionik und Evolutionstechnik der TU Berlin machen sich Flugzeugbauer zunutze. Der Forscher Michael Stache bemerkte, dass die Flügel von Geiern und Störchen gespreizt sind, weshalb beim Fliegen mehrere kleine Wirbel an den Flügelenden entstehen. Das sorgt für einen geringeren Widerstand als bei einem großen Wirbel, den etwa Flugzeugflügel erzeugen. Die TU Berlin führte im Windkanal Experimente mit einem Tragflügel durch, bei dem sich die Winglets einzeln einstellen ließen. Über diese der Natur nachempfundene Evolutionsstrategie, die über Computersimulationen Verbesserungen und Optimierungen rechnerisch nachvollzieht, ließ sich schließlich der perfekte Flügel mit Multiwinglets entwickeln. Die Berliner Bionik-Forscher beschäftigten sich auch mit der Frage, wie sich die trockene Wüste mit Leben füllen lässt. Dabei stießen sie auf das Kapillarsytem von Pflanzen und Bäumen, die Wasser aus dem Boden saugen. Die Forscher entwickelten eine bionische Wasserpumpe für die Wüste. Sie kommt ohne hydraulische oder mechanische Konstruktionen im Innern aus und setzt auf Sonnenenergie. Mithilfe einer Plastikfolie kondensiert das Wasser aus der Pflanze oder der Pumpe, formt sich zu Tropfen zusammen und bleibt als Trinkwasser übrig. „Transpirationspumpe" nennen Forscher das. Nachgebaut könnte solch eine Pflanze in der Wüste nachhaltig für Wasser sorgen.
Wassersorgen haben Delfine keinesfalls. Doch auch von den intelligenten Meeressäugern kann sich der Mensch einiges abgucken. Vor allem ihr Orientierungssystem hat es Bionikern angetan. Sie nutzen Ultraschall zur Verständigung und Orientierung – eine Art natürliches Sonarsystem. Je weiter ein Gegenstand oder ein Tier entfernt ist, desto mehr Zeit benötigt das Echo, um zurückzukehren. Das Prinzip ist einfach, doch noch viel interessanter war für die Forscher die Erkenntnis, dass das Sonarsystem der Delfine sogar Rückschlüsse auf die Zusammensetzung von Stoffen gibt. Das liegt daran, dass jeder Gegenstand ein charakteristisches Reflexionsspektrum erzeugt, indem er bestimmte Frequenzen reflektiert, andere aber schluckt. Heute existieren Sensoren, die nach dem Prinzip des Delfin-Ultraschalls Erdölvorkommen oder gefährliche Munitionsreste am Meeresboden finden können.
In die medizinische Kerbe schlägt der Bionik-Forscher Oliver Schwarz vom Fraunhofer-Institut in Stuttgart. Er hat sich das sogenannte Pendelhubprinzip der Holzwespe zunutze gemacht, um einen Raspelbohrer zu entwickeln. Das Gerät kann Löcher mit beliebigem Querschnitt erzeugen, was ihn in der Prothetik beim Einbau von Implantaten nützlich macht, die fest sitzen müssen und sich nicht mehr bewegen dürfen – etwa im Mund oder bei künstlichen Hüftgelenken.
Der Forscher hat zudem den Schluckmechanismus der Anakonda dazu verwendet, eine Knochenstanze zu verfeinern. Solche Geräte kommen bei Operationen zum Einsatz, etwa an den Bandscheiben. Sie nehmen Knorpelmaterial auf, was vor der Erfindung nur in kleinen Mengen möglich war. Der Anakonda-Mechanismus sorgt dafür, dass gekrümmte Zähne das Material gegeneinander arbeitend in den Schaft der Stanze ziehen. So zieht die Schlange ihre Beute in den Schlund. Bei Operationen senkt dieser Mechanismus das Infektionsrisiko, außerdem spart der Chirurg Zeit. Ebenfalls bei einem Raubtier sind Forscher auf der Suche nach dem perfekten Autoreifen fündig geworden. Gepardenpfoten passen sich perfekt den jeweiligen Erfordernissen an. In der Fachsprache nennt sich das adaptiv. Beim Geradeauslaufen sind die Tatzen der Raubkatze schmal, sie haben deshalb einen geringen Widerstand. Beim Kurvenlaufen oder Abbremsen spreizen sich die Tatzen, werden breiter und übertragen auf diese Weise mehr Kraft auf den Boden. Diese außergewöhnliche Fähigkeit diente als Vorbild für die Entwicklung des ersten bionischen Reifens. Bei normaler Fahrt ist er so breit wie ein klassischer Sommerreifen und hilft damit, möglichst wenig Treibstoff zu verbrauchen. Bremst das Auto, wird der Reifen durch den so erzeugten höheren Druck stärker als ein konventioneller Reifen verbreitert. Dadurch entsteht eine größere Kontaktfläche zwischen Reifen und Straße. Neben einem optimierten Kurvenverhalten wird so auch der Bremsweg um bis zu zehn Prozent verkürzt.
Biologische Selbstheilung
Auch im Reich der Insekten gibt es tierische Vorbilder, die sich die bionische Forschung zum Vorbild genommen hat. Etwa den Schwarzen Kiefernprachtkäfer. Er besitzt die Fähigkeit, Infrarotstrahlung wahrzunehmen. So soll er Waldbrände sogar noch aus einer Distanz von 80 Kilometern aufspüren. Die Infrarot-Sinnesorgane des Käfers bestehen aus einer Art Druckbehälter, der sich durch die Strahlung erwärmt und dabei ausdehnt. Für Menschen ist diese Infrarotstrahlung dagegen – wie für die meisten Tiere – unsichtbar. Bonner Forscher nutzten das Prinzip, um einen Infrarotsensor zu bauen, der vor allen Dingen in Brandmeldern sinnvoll zum Einsatz kommen könnte. Denn Waldbrände verursachen in Europa jährlich einen Schaden von circa 2,5 Milliarden Euro. Professionelle und teure Wärmebildkameras könnten in Zukunft überflüssig sein.
Prävention von Bränden ist gut, doch wenn eine Prävention versagt und etwas kaputt ist, hilft zumindest bei Werkstoffen in Zukunft vielleicht eine wundersame Selbstheilung. Denn Autos oder Flugzeuge, die sich quasi selbst reparieren, ein angeknackstes Handydisplay, das sich selbst heilen kann – daran forscht die Biomechanics Group Freiburg in einem gemeinsamem Vorhaben mit dem Fraunhofer-Institut Umsicht und dem Freiburger Materialforschungszentrum. Nach dem Vorbild von Selbstheilungsprozessen bei Pflanzen haben die Wissenschaftler selbstreparierende Elastomere entwickelt, aus denen eine Gummi- und Kunststofffirma langlebige Auspuffaufhängungen als Prototypen herstellt. Diese Aufhängungen können Mikrorisse ausheilen, die sonst zum Materialbruch führen würden. Vorbild sind Selbstheilungsprozesse bei milchsaftführenden Pflanzen wie zum Beispiel der Birkenfeige. Die Plant Biomechanics Group Freiburg analysierte die Prozesse der biologischen Selbstheilung eingehend, bevor Materialforscher die technischen Lösungen entwickelten. Bei der Heilung spielen nach dem Vorbild der Natur auch Ionen eine Rolle. Zum Einsatz kommen könnte das in sich selbst heilenden Handydisplays oder sich selbst reparierenden Autolacken.