Die Idee, Tumorzellen durch gezielte Stimulierung des körpereigenen Immunsystems zu bekämpfen, ist schon mehr als 100 Jahre alt. Doch die praktische Umsetzung mittels der sogenannten Checkpoint-Therapie ist erst in jüngster Vergangenheit gelungen.
Im Jahr 1866 war dem Bonner Chirurgen Wilhelm Busch aufgefallen, dass eine Infektion bei einer krebskranken Patientin die unerwartete Folge gezeitigt hatte, dass sich ihre Tumore plötzlich zurückgebildet hatten. Daraus hatte er den Schluss gezogen, dass die Krankheitskeime offensichtlich die körpereigenen Abwehrkräfte mobilisiert hatten, sich auf die Karzinome zu stürzen. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte der legendäre Mediziner Paul Ehrlich, der Begründer der Immunforschung, darüber spekuliert, dass die Immunzellen etwaige Krebsnester im Körper gleichsam automatisch beseitigen könnten, bevor sie zu einem gravierenden Krankheitsproblem werden könnten. Was logisch und einfach geklungen hatte, sollte sich in der medizinischen Praxis und im menschlichen Körper häufig gänzlich anders darstellen. Denn häufig wird das durch Krankheitserreger alarmierte Immunsystem einfach durch spezielle Proteine, sogenannte Inhibitoren, ausgebremst und dadurch werden die Aktivitäten der Abwehrarmada in unserer Blutbahn heruntergefahren. In den 80er-Jahren wollte man das Immunsystem erstmals gezielt anregen und die Attacken mithilfe von Antigen-Spritzen speziell auf Eiweiß-Moleküle der Krebszellen ausrichten – damit war man jedoch grandios gescheitert.
Der wissenschaftliche Durchbruch sollte erst in den letzten Jahren zwei Wissenschaftlern gelingen, die unabhängig voneinander eine Therapie entwickelten, die, und das ist das eigentlich Neue daran, nicht direkt die Krebszellen zum Angriffsziel hat, sondern ins Immunsystem eingreift. Die Forschungsergebnisse des US-Amerikaners James Allison, Professor am MD Anderson Cancer Center der University of Texas, und des Japaners Tasuku Honjo, Professor an der Kyoto University, waren so sensationell, dass sie dafür 2018 den Medizin-Nobelpreis erhalten haben. „Indem sie das Immunsystem dazu bringen, Krebszellen zu attackieren", so das Nobel-Komitee in seiner Würdigung, „haben unsere diesjährigen Nobelpreisträger vollkommen neue Möglichkeiten in der Krebstherapie eröffnet." Ab sofort gibt es nicht mehr nur drei Säulen zur Behandlung von Krebserkrankungen, sondern neben den chirurgischen Eingriffen sowie der Strahlen- und Chemo-Therapie kommt nunmehr immer häufiger auch die „Checkpoint-Therapie", die auch als „Immun-Therapie" oder „Checkpoint-Hemmung" bezeichnet wird, zum Einsatz.
Wesentliches Merkmal der Checkpoint-Therapie ist die Entfesselung des Immunsystems. Dafür war es notwendig, die bei Krebserkrankungen als Bremsen gegen die attackierenden weißen Blutkörperchen, auch Wächter- oder T-Zellen genannt, fungierenden Proteine zu identifizieren. Allison entdeckte eines dieser Inhibitorenproteine, ein Eiweiß namens CLTA-4, das wie eine Antenne auf der Oberfläche der T-Zellen, den Kriegern des Immunsystems, sitzt, Honjo ein anderes namens PD-1. Beide fungieren als molekulare Kontrollpunkte, die die Bremsen steuern oder eben als Checkpoints. Vermutlich gibt es noch mehr solcher Checkpoints, die Forschung geht von acht bis zehn Kontrollpunkten aus, für die derzeit schon auf Hochtouren an der Entwicklung neuer Wirkstoffe gearbeitet wird. Die ebenso naheliegende wie geniale Überlegung von Allison und Honjo war, gewissermaßen die Bremse zu lösen und dadurch eine möglichst starke Immunantwort gegen die Tumorzellen zu erzeugen.
Neue Möglichkeiten in der Krebstherapie
Bereits 1994 hatte Alison einen Antikörper entwickelt, mit dessen Hilfe er das von ihm entdeckte Eiweiß CTLA-4 blockieren konnte. Nachdem der Antikörper seine Wirksamkeit an krebskranken Mäusen bewiesen hatte, konnte Allison ab 2001 auch beachtliche Erfolge bei klinischen Studien mit an fortgeschrittenem Hautkrebs erkrankten Patienten erzielen. Jeder fünfte Studienteilnehmer profitierte langfristig von der Behandlung mit dem CTLA-4-Antikörper. Nie zuvor hatte eine Gruppe todkranker Melanom-Patienten derart gut auf einen Wirkstoff reagiert. Allerdings wurde deutlich, dass die Checkpoint-Therapie ganz anders verläuft als etwa die klassische Chemotherapie. Bei der Checkpoint-Therapie breitet sich der Tumor oftmals erst einmal weiter aus, bevor er dann langsam, aber stetig schrumpft oder bestenfalls ganz verschwindet. Die Checkpoint-Therapie braucht also offensichtlich etwas längere Anlaufzeit, wirkt dann dafür aber kontinuierlich weiter. Der Wirkstoff namens Ipilimumab, der unter dem Namen „Yeroy" vermarktet wird, ist seit 2011 in den USA und in der EU zur Bekämpfung von schwerem schwarzem Hautkrebs zugelassen und gilt inzwischen für diese Tumorerkrankung als Standardtherapie. Auch bei fortgeschrittenem Lungenkrebs und Darmkrebs konnten mit CTLA-4-Antikörpern schon beachtliche Erfolge erzielt werden.
Noch vor Allison hatte Honjo bereits 1992 das Protein PD-1 aufspüren können, das ähnlich wie CTLA-4 die Immunabwehr abbremsen kann, aber über einen anderen Wirkmechanismus verfügt. Der Rezeptor PD-1 schützt Zellen, die von einer Krankheit nicht betroffen sind, durch Bindung des Proteins PDL-1 gegen mögliche T-Zellen-Attacken. Krebszellen nutzen dieses Prinzip der Immuntoleranz aus, indem sie selbst PDL-1 auf ihrer Oberfläche anreichern, das von dem PD-1 der T-Zellen erkannt wird. Das hat zur Folge, dass die T-Zellen vor den Krebszellen auf die Bremse gehen und sie nicht angreifen. Antikörper gegen PD-1 und PDL-1 verhindern diese Bremswirkung und enttarnen die Tumorzellen. Inzwischen sind mehrere Antikörper-Medikamente zugelassen, beispielsweise Nivolumab, das unter dem Handelsnamen Opdivo vor allem zur Behandlung von fortgeschrittenem Lungenkrebs zum Einsatz kommt, oder Pembrolizumab, das unter dem Handelsnamen Keytruda ebenfalls bei schwerem Lungenkrebs, aber auch bei schwarzem Hautkrebs, Lymphsystem-Tumoren und Harnblasenkrebs verabreicht werden darf.
Bei einem Drittel aller Krebspatienten anwendbar
Auch bei Nierenkrebs scheint die Checkpoint-Therapie, bei der die gentechnisch hergestellten Antikörper in Tablettenform oder mittels Injektionen verabreicht werden, vielversprechend zu sein, bei anderen Tumorarten wie Prostatakrebs scheint ein Einsatz bislang wenig sinnvoll. Nicht alle Patienten sprechen auf die Checkpoint-Therapie an, aber bei denjenigen, bei denen die Antikörper-Medikamente ihre Wirkung entfalten, sind die Chancen gut, dass der Tumor langfristig zurückgedrängt werden kann, selbst bei Patienten, denen bislang nur noch eine geringe Lebenserwartung prognostiziert werden konnte. Die besten Überlebens- oder Heilungsraten wiesen bislang übrigens Krebskranke auf, die eine Kombination der beiden Antikörper-Medikamenten-Gruppen gegen CTLA-4 und PD-1/PDL-1 erhalten hatten. Auch scheint die Anwendung der Checkpoint-Therapie dann besonders aussichtsreich zu sein, wenn eine Krebszelle relativ viele Mutationen aufweist, weil sie dann dem Körper besonders fremdartig geworden ist. Die Checkpoint-Therapie kann bei alten wie jungen Menschen zum Einsatz kommen, an der Berliner Charité wurden auch schon Kinder erfolgreich damit behandelt.
Allerdings kann die Checkpoint-Therapie, von Patient zu Patient in ganz unterschiedlichem Maße, natürlich auch erhebliche Nebenwirkungen mit sich bringen. Das aufgeputschte Immunsystem kann seine Attacken auch gegen gesundes Gewebe richten. Zu den häufigsten Nebenwirkungen zählen Fieber, Hautausschläge, Juckreiz, Entzündungen des Darms, der Niere, der Leber, der Schilddrüse, der Lunge oder der Nebennieren. Risiken, die totkranke Patienten allerdings wohl in der Regel bereit sind, auf sich zu nehmen. „Die Therapie kann bei etwa einem Drittel aller Krebspatienten angewandt werden", erklärt der Krebsforscher Prof. Ulrich Keilholz von der Berliner Charité. „Wir nutzen sie inzwischen auch schon nach einer Operation oder Strahlentherapie, um die Heilungsrate zu erhöhen."