Es ist ein Abschied auf Raten und eine Chance. Die Zeiten von Parteien à la Merkel neigen sich dem Ende zu. Die CDU sucht nicht nur eine neue Parteispitze, sie wird sich neu erfinden müssen.
Erleichterung und Respekt. Zwei Worte, die den schrittweisen Abgang von Angela Merkel aus der großen Politik begleiten, mit dem sie nach der Hessen-Wahl überraschte. Auch wenn längst mit dem Rückzug gerechnet wurde, waren Zeitpunkt und Art eine Überraschung. Überlegt habe sie sich das bereits seit Sommer, teilte sie mit, und es klang durchaus glaubwürdig. Das Dilemma war weniger das Ob, sondern das Wann.
„Jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde", lautet ein etwa 3.000 Jahre alter Spruch im Buch der Prediger. Dass die Ära Merkel vor dem Ende stand, war klar. Ebenso, dass sie ihre Lehren aus der Geschichte ihres Vorgängers Helmut Kohl gezogen hat und einen selbstbestimmten Abtritt anstrebte. Das Dilemma des Zeitpunkts hat sie am 29. Oktober nur zu einem Teil gelöst.
Selbstbestimmt war ihre Ankündigung des Rückzugs auf Raten. Gerade rechtzeitig, um den erwartbaren Diskussionen nach den Wahlen in Bayern und Hessen zuvorzukommen. Damit hat sie sich allerdings selbst der Möglichkeit beraubt, ihre Nachfolge aktiv zu gestalten.
Für Annegret Kramp-Karrenbauer als Wunschkandidatin waren die Monate als Generalsekretärin noch zu kurz, um sich eine sicher mehrheitsfähige Position zu erarbeiten.
Jedes Bündnis fordert Kompromisse
Dass nun drei Spitzenleute um ihre Nachfolge kämpfen und dies von der ersten Minute an zu einem Richtungskampf für die CDU wurde, zeigt den Zustand der Partei nach fast zwei Jahrzenten Merkel. Eine gewisse Orientierungslosigkeit ist der Preis für nüchtern-analytische Pragmatik.
Dabei ist pragmatisch-flexible Politik durchaus ein Markenkern der CDU. Im Gegensatz zur SPD, die sich als „Programmpartei" versteht, stand bei der CDU immer schon die konkrete Praxis im Vordergrund.
Das unter Merkel 2007 verabschiedete und bis heute gültige Grundsatzprogramm war erst das dritte in der über 60-jährigen Parteigeschichte. „Wir verändern, was uns belastet, und wir bewahren, was uns stark macht", fasste damals die Vorsitzende Merkel ebenso knapp wie markant nicht nur das Parteiprogramm, sondern die Grundhaltung der Partei zusammen. Die Partei verortete sich als „Volkspartei der Mitte", christlich-sozial, liberal und wertkonservativ.
Das würden die drei Nachfolge-Aspiranten sofort unterschreiben, allein mit dem Unterschied, dass jeder der drei mit seinem Textmarker wohl ein anderes Wort hervorheben würde: Merz „liberal", Spahn „wertkonservativ" und AKK vermutlich „christlich-sozial". Für Merkel stand die Volkspartei der Mitte im Vordergrund.
Mangelnde Flexibilität kann man ihr dabei kaum unterstellen. Mal mit der FDP, mal mit der SPD, selbst das erste schwarz-grüne Bündnis auf Bundesebene war mit ihr in greifbarer Nähe. Jedes Bündnis erfordert Kompromissbereitschaft, und wer mit unterschiedlichen Partnern über die Wegstrecke koalieren muss, läuft eben Gefahr, selbst unkenntlicher zu werden. Auffällig wird das in Wahlkämpfen, die möglichst viele Streitfragen versuchen auszuklammern. Möglichst wenig Festlegung erleichtert spätere Verhandlungen, mit wem auch immer es arithmetisch nach einer Wahl möglich erscheint.
Diese einschläfernden Wahlkämpfe schienen auch auf die Partei selbst abzufärben. Nach der Wende schienen die großen Themen erledigt, erst recht, nachdem der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama bereits das „Ende der Geschichte" mit dem endgültigen Sieg der Demokratie ausgemacht hatte. Fukuyama hat sich inzwischen korrigiert. Für Merkel kam die große Zäsur 2015, als mit dem einfachen „Weiter so" Schluss war. Angesichts der Entwicklung der Flüchtlingssituation traf sie eine Entscheidung, die wenig mit bloßem Pragmatismus, dafür viel mit dem „C" im Parteinamen zu tun hatte. Eine Entscheidung aus innerer Überzeugung, für die sie international höchste Anerkennung fand, das Land selbst aber bis heute entzweit.
Merkel hielt den Kritikern entgegen: „Wenn wir jetzt noch anfangen müssen, uns entschuldigen zu müssen, weil wir in einer Notsituation ein freundliches Gesicht gezeigt haben, dann ist das nicht mein Land." Ein Satz aus Überzeugung, den die laut tönende Schwesterpartei CSU im Flüchtlingsstreit fast in Vergessenheit geraten ließ.
Ende der Geschichte vorläufig vertagt
Dass etliche Kommentatoren für die Entwicklung in der EU Merkels Abgang als Gefährdung der Stabilität und Macron mit seinen Vorstößen allein auf weiter Flur sehen, mag mehr der Gewöhnung geschuldet sein. Gipfel-Familien-Fotos ohne Merkel werden eine Umstellung sein. Das Deutschland aber in den letzten Jahren unermüdlich treibende Kraft europäischer Integration gewesen sei, kann man nur schwerlich behaupten. Im Gegenteil ist die Kritik auch wohlmeinender europäischer Partner an der deutschen Politik unter Merkel zunehmend vernehmbarer geworden. Die Kontur der CDU als Europapartei, wie es noch Helmut Kohl in Zeiten der deutschen Vereinigung lebte, ist blasser geworden, allem Selbstbekenntnis zum Trotz.
Politische Konkurrenz hat Merkel mit einer Wahlkampfstrategie kleingehalten, die im Fachchinesisch als „asymetrische Demobilisierung" bezeichnet wird: Sie polarisierte möglichst wenig, was dem Konkurrenten erschwerte, eigene Anhänger zu mobilisieren. Allerdings wirkte das auch einschläfernd auf die eigenen Leute. Damit ist nun Schluss. Der Nachfolge-Dreikampf hat offenbar schlagartig die Lebensgeister wieder geweckt. Alternativlosigkeit war gestern.
Die niederländische Zeitung „de Volkskrant" kommentierte dazu: „Nach 18 Jahren hält die angeschlagene ‚Mutti‘ Merkel ihre Kinder für erwachsen genug, um über die Zukunft der Partei zu bestimmen." Ob sie sind, wird sich zeigen. Sicher aber ist, dass der Typus der Merkel-Partei ein Auslaufmodell ist. Die CDU wird sich neu erfinden müssen, will sie dem Anspruch als Volkspartei gerecht werden. Und diesen Anspruch formulierte der saarländische CDU-Landeschef und Ministerpräsident Tobias Hans im FORUM-Interview: „Wir sind nicht diejenigen, die irgendeinem Zeitgeist hinterherlaufen, sondern die ihn bestimmen wollen."