Die SPD kämpft um ihren Status als Volkspartei. Wahlergebnisse sind das eine, der eigene Anspruch das andere. Saar-Landeschefin Anke Rehlinger über die Zukunft der Volkspartei, das Selbstverständnis der SPD und die politische Kommunikation.
Frau Rehlinger, nach den jüngsten Entwicklungen stellt sich die Frage: Haben Volksparteien noch eine Zukunft? Die SPD hat die letzten Wahlergebnisse analysiert, mit welchen Erkenntnissen?
Ich glaube, dass wir für stabile Verhältnisse in Deutschland weiterhin große Volksparteien brauchen werden. Das war ein Anker für Deutschland, auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Und dieser Anker war auch Grundlage dafür, dass wir ein stabiles wirtschaftliches Wachstum hatten. Stabile politische Verhältnisse sind notwendig, wir haben in anderen europäischen Ländern gesehen, was passiert, wenn man sie nicht hat. Insofern sind wir dort ein Stück weit auch zum Erfolg verdammt. Klar ist aber auch, dass die Wählerinnen und Wähler – insbesondere in den letzten beiden Wahlen, aber man kann auch die Bundestagswahl mit einbeziehen – den Volksparteien die Botschaft mitgegeben haben: Allein nur gutes Regieren auf der einen Seite, auf der anderen Seite Streiten über kleinere Themen – das ist nicht das, was sie als Antworten gerade in dieser Zeit von den Volksparteien verlangen.
Was heißt das?
Das heißt: Volksparteien müssen noch einmal mehr auf die Gefühlslage der Gesellschaft achten, daraus ablesen, was die wirklichen Fragen sind. Und sie müssen sich selbst fragen: Reicht das, was wir dazu aufgeschrieben haben, oder eben nicht?
Die Gesellschaft hat sich immer weiter individualisiert, Einzelinteressen treten immer stärker in den Vordergrund. Ist die Organisationsform Volkspartei im klassischen Sinn noch das richtige Instrument, damit umzugehen?
Volksparteien sind das richtige Instrument, denn ich glaube, dass Individualisierung – wenn jemand sie will – nur dann funktionieren kann, wenn sie einen stabilen Rahmen hat. Deshalb geht es auch für Volksparteien darum, dafür zu sorgen, dass es eine Gesellschaft gibt, in der man all seinen individuellen Wünschen auch nachgehen kann, ihnen Ausdruck verleihen kann. Aber auch dafür zu sorgen, dass ein stabiler Rahmen gesetzt wird, und es immer auch ein Auffangnetz für alle gibt. Bei aller Individualität brauchen wir aber letztendlich auch Solidarität, brauchen wir Zusammenhalt in der Gesellschaft. Darin sehe ich auch eine der zentralen Aufgaben der Sozialdemokratie als Volkspartei: dafür Sorge zu tragen, dass in einer bunten Welt Brücken gebaut werden und Zusammenhalt in der Gesellschaft organisiert wird. Allein die Summe von Einzelinteressen und das Auftreten von Vertretern von Einzelinteressen ergibt noch kein funktionierendes Ganzes. Es reicht nicht, Parteien, die Einzelinteressen vertreten, einfach nur nebeneinander zu legen und zu glauben, damit hätte man ein funktionsfähiges Staatsgebilde. Das ist mitnichten der Fall.
Gerade solche Parteien haben aber immer wieder Interesse auf sich gezogen, offenbar weil Menschen ihre Belange ansonsten nicht vertreten gesehen haben.
Solche Parteien braucht es sicherlich auch, um einen politischen Diskurs zu führen.
Aber es braucht eben auch solche, die daraus ein Gesamtkonzept machen und sich für die Gesamtgesellschaft verantwortlich fühlen, nicht nur für einen Teil, und das mit Maximalforderungen. Darüber müssen wir auch noch einmal eine Debatte führen. Sich verantwortlich fühlen für ein großes Ganzes mit unterschiedlichen Interessenlagen setzt immer auch die Fähigkeit zum Kompromiss voraus. Dass Kompromiss als solcher derart in Misskredit geraten ist, ist für Politik insgesamt ein Problem. Mein Verständnis ist, dass Kompromiss ein Wesensmerkmal der Demokratie und immer ein Zwischenschritt ist zu dem, was wir als Nächstes erreichen möchten. Wenn wir das in dieser Lesart verstehen, müssen wir uns nicht immer fragen lassen: „Haben Sie versagt, weil Sie nur einen Teil dessen erreicht haben, was Sie sich vorgenommen haben?" Dann gilt vielmehr: „Es war ein Erfolg, den ich erreicht habe, auf dem Weg zu den Zielen, die ich mir gesetzt habe." Diese Lesart müsste sich in unserer Gesellschaft ein bisschen mehr verbreiten.
Ist das alles vor allem eine Kommunikationsfrage?
Es ist auch eine Herausforderung der Kommunikation. Auf der einen Seite muss ich das, was ich aktuell erreicht habe, als Erfolg verkaufen, und gleichzeitig aber auch sagen, dass das noch nicht genug ist. Dafür braucht es Kommunikation. Vielleicht ist auch ein wenig die Sprachlosigkeit, für die ja auch die Kanzlerin gestanden hat mit ihrer Alternativlosigkeit, etwas, was die Situation noch verschärft hat. Es braucht Erklärung und Vertrauen. Ich glaube, da müssen wir viel mehr unterwegs sein. Und damit meine ich nicht, dass wir noch mehr Feste besuchen und dort einfach nett sind. Das ist alles in Ordnung und gut so. Aber wir müssen auch unterwegs sein im Sinne von: Zuhören, Erklären, Mitnehmen – und Antworten geben, die sich an den echten Fragen orientieren.
Die Politik der letzten Jahre war viel geprägt von einem „Auf-Sicht-Fahren". Ein berühmter Satz warnt schließlich auch vor Visionen in der Politik. Aber brauchen wir nicht gerade die in Zeiten zunehmender Orientierungslosigkeit?
Ich glaube, eine Politik, die nur das eine oder das andere macht, kann nicht erfolgreich sein. Alleine von den Visionen zu leben und nie den Versuch zu machen, sie durch Regierungsübernahme zumindest zum Teil Wirklichkeiten werden zu lassen, das ist für mich kein vorstellbarer Politikansatz. Von Parteitagsbeschlüssen geht es den Menschen nicht besser, sondern nur von dem, was man in Regierungsarbeit an tatsächlichen Verbesserungen erreicht. Gleichzeitig bewegen wir uns in der Politik und nicht in einem Beamtenapparat. Wir brauchen keinen rein technokratischen Ansatz, sondern müssen immer auch einen Ideenüberschuss produzieren, um zu sagen, wo wir hin wollen und gleichzeitig viel mehr erklären, warum wir etwas tun, und wo wir hin wollen.
Die SPD erweckt den Eindruck, dass sie noch mit sich ringt, worüber sie diskutieren soll und an welcher Stelle sie das am besten tut. Eine zutreffende Beschreibung?
An der Stelle ist die SPD als Mitgliederpartei ein Abbild der Gesellschaft. Es gibt eine große Verunsicherung darüber: Was sind die Fragen, was sind unsere Antworten, wie wollen wir das erreichen? Eine Flucht aus Regierungsverantwortung löst dabei noch kein einziges der Probleme. Wir müssen gleichwohl die Themen angehen, wo wir mit unseren Antworten noch nicht klar genug sind, vielleicht weil sie noch einen Widerspruch beinhalten oder weil unser Ansatz nicht vollständig zur Lösung taugt. Das müssen wir diskutieren, aber in einen großen Zusammenhang gestellt. Ich will das an einem Beispiel zeigen. Ich habe große Sympathie dafür, zu sagen, wir müssten beim Mindestlohn bei zwölf Euro stehen. Aber einen solchen Vorschlag einfach monolithisch in die Landschaft zu stellen, nimmt ihm die Ernsthaftigkeit. Ohne eine Debatte darüber zu führen, warum wir an diesem Punkt von der Regel abweichen wollen, dass eigentlich Sozialpartner vereinbaren sollen, was man verdient – geht das nicht. Wenn ich aber sage, ich will, dass man es definitiv mit dem Arbeiten schaffen muss, keine weitere staatliche Unterstützung beantragen zu müssen, und deshalb muss ich eine andere Höhe des Mindestlohns bestimmen, dann ist das eine stimmige Argumentation. Einfach nur zu sagen, 9,37 ist zu wenig, ich bin für zwölf, das allein ist zu wenig. Im Übrigen sagen dann andere: Warum eigentlich nicht 15? Es ist also auch eine Frage, wie ich die Debatte führe. Ich glaube, wir müssen die vielen guten Einzelvorschläge, die wir haben, in einen größeren Zusammenhang stellen. Und darüber müssen wir das Gespräch mit den Bürgern führen, auch um Rückkopplungen zu haben.
Es wird viel darüber gesprochen, dass Parteien sich nicht mehr mit den Themen beschäftigen, die den Menschen auf den Nägeln brennen. Hat das Vorwarnsystem, das Volksparteien mit starker kommunaler Verankerung lange ausgezeichnet hat, versagt?
Die Frage nach dem Vorwarnsystem hängt auch von der Frage der Mitgliederstärke der Volksparteien ab. Am besten ist natürlich, wenn die Struktur einer Partei ein Abbild der Bevölkerungsstruktur ist. Damit würde ich dann alle Probleme nach oben gehoben bekommen, die des Professors und die des Müllmanns. Und dann ist es Aufgabe der SPD, einen Vorschlag daraus zu machen, der der Gesamtheit dient und möglichst keines der beiden Interessen zurücktreten lässt. Das ist in Zeiten, in denen letztendliche Klarheiten und möglichst kompromisslose Lösungen gewünscht sind, eine nicht ganz einfache Aufgabe und auch eine Frage der Kommunikation. Das ist dann aber auch eine Funktion unserer Volkspartei als Mitgliederpartei, dass nämlich unsere Mitglieder in beide Richtungen funktionieren, also nicht nur als Frühwarnsystem und Ideengeber, sondern auch, wenn wir uns auf etwas verständigt haben, vor Ort sprachfähig zu sein, überzeugen zu können.
Eine große Hoffnung angesichts der allfälligen Unzufriedenheit mit Politik! Was macht Sie dabei so zuversichtlich?
Ich mache das an meinen Begegnungen fest, im Ortsverein oder sonst wo, dass ich dort nicht auf Menschen treffe, die verschlossen sind und mit mir nicht reden wollen, im Gegenteil: Ich treffe dort auf Offenheit und großes Interesse. Solange diese Türen noch offen sind, ist Zuversicht gerechtfertigt. Wir müssen nur durch diese Türen durchgehen. Ich glaube, dass politische Bildungsarbeit viel stärker in den Vordergrund rücken muss, nicht im Sinne von belehrend, sondern: gemeinsam Probleme verstehen und Lösungen erarbeiten, nicht noch mal versuchen, den 27. Spiegelstrich fürs Programm zu finden, sondern in den großen Linien bestenfalls eine gemeinsame Überzeugung zu finden und zu wissen, warum wir dieser Auffassung sind. Das ist im Erneuerungsprozess für mich zentral. Konkret heißt das: weniger Sitzungen, mehr Stammtisch, weniger Tagesordnung, mehr allgemeine Diskussion. Menschen gehen nicht in eine Partei, um Satzungsdebatten zu führen, sondern um darüber zu reden, wie man etwas verbessern kann. Zu Politik gehört viel mehr Debatte dazu. Politik findet nicht abends auf der Couch bei Anne Will, sondern direkt vor Ort statt. Das ist vielleicht manchmal etwas mühsamer, aber deutlich differenzierter als das, was in diesen Talkshows stattfindet.