Seit Jahren werden den Grünen Ambitionen zur Volkspartei nachgesagt. Nach den jüngsten Entwicklungen scheint die Zeit reif. Sie selbst halten Volksparteien für ein veraltetes Politik-Modell.
Am Abend der bayerischen Landtagswahl passierte es dann doch. Grünen-Chef Robert Habeck ließ sich zu etwas hinreißen, was er eigentlich total affig findet: Stagediving, sich von der Bühne ins Publikum fallen und dann auf Händen tragen lassen. Eher was für Popstars als für Polit-Prominenz.
Die Grünen hatten ihr Wahlergebnis fast verdoppelt und waren damit zur zweitstärksten politischen Kraft in Bayern aufgestiegen. Da hielt es auch den coolen Habeck nicht mehr auf den Beinen. Zwei Wochen später in Wiesbaden wieder ein Bombenergebnis bei der Hessenwahl, und es war wieder da, das böse Wort von der Volkspartei.
Seitdem tourt die Grünen-Spitzenmannschaft durch Deutschland und weist den Charakter einer Volkspartei weit von sich, allen voran Habeck: „Volkspartei ist ein Begriff aus dem letzten Jahrhundert und inzwischen ja kein Erfolgsmodell mehr." Habeck konkretisiert dann weiter: „in der hochindividualisierten Gesellschaft suchen Volksparteien oft nur noch den kleinsten gemeinsamen Nenner, was dazu führt, dass irgendwie nichts mehr vorangeht."
„Für alle Schichten wählbar werden"
Während den ehemaligen Volksparteien Union und SPD die Wähler abhandenkommen, feiern die Grünen Erfolge, nachdem alle Ecken und Kanten aus dem Grünen-Parteiprogramm rausgebügelt wurden. Auf ihrem Parteitag Ende Januar dieses Jahres in Hannover gab es noch Knatsch um den Abschied vom Verbrennungsmotor bis 2030. Solche öffentlichen Streitereien gab es bei der Nominierung der EU-Spitzenkandidaten vor drei Wochen in Leipzig nicht mehr. Den Flüchtlingspassus hat man schön hinter den Kulissen entschärft und sowohl für linke Grüne als auch den Rest des Parteitages gangbar gemacht. Die strittige Grundaussage: Flüchtlinge sollen kommen, aber nicht alle könnten bleiben, ist geblieben, nur eben nicht in einem Satz, sondern über fünf Zeilen verteilt. Damit waren die Linken beruhigt, und bei Koalitionsverhandlungen ist man in alle Richtungen hin offen. Dieses neue Harmoniebedürfnis ist schon ein Zeichen für Volkspartei, eher nicht.
In jüngsten Umfragen erreichen die Grünen bundesweit mittlerweile 23 Prozent, während die Volkspartei SPD auf 14 Prozent abgesackt ist, obendrein sind die Grünen derzeit an neun Landesregierungen beteiligt. Doch zu einer Volkspartei gehört schon ein bisschen mehr als gute Umfrage- und Wahlergebnisse. Das fängt bei den Grünen in der bundesweiten Struktur an.
Sie sitzen in 14 der 16 deutschen Landtage, sind im Saarland und Mecklenburg-Vorpommern aber an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Die richtig starken Landesverbände liegen alle im Westen, der Osten ist eher unterrepräsentiert und kann auf Parteitagen kaum inhaltliche Vorgaben machen, dazu sind die Verbände jenseits der Elbe zu schwach.
Dann gibt es bei den Grünen innerhalb der Partei eigentlich nur zwei bedeutende Flügel. Den Linken, deren Mitglieder sich früher mal als Fundis (Fundamentalisten) bezeichneten und die große Mehrheit der liberal Bürgerlichen, ehemals Realos. Doch seit Robert Habeck und Annalena Baerbock (beide Realos) an der Spitze der Partei stehen, scheint es, als hätten sich diese Flügel komplett verflüchtigt. Womit Habeck eines der Ziele erreicht hätte, die er Ende Januar im FORUM-Interview nannte: „Als Erstes müssen wir die Flügel überwinden und eine geschlossene, für alle Schichten wählbare Partei werden", so seine Ankündigung bei Amtsübernahme. Diese Operation ist allerdings nur beinahe gelungen.
GroKo-Streit macht Grüne stark
Nicht alle Schichten wählen die Grünen, sondern vor allem in den gutbürgerlichen Wählerkreisen konnten die Grünen dazugewinnen. Dabei räumten sie in Bayern ehemalige CSU-Hochburgen ab und in Hessen die der SPD. Es ist vor allem ein ganz klassisches Milieu, das von Union und SPD zu den Grünen abwanderte. Gut ausgebildete Wähler mit gutem bis sehr gutem Einkommen. Die sozial Schwächeren und Arbeitslosen wanderten da eher zu AfD. Kein Wunder, denn in der Grünen-Partei spielt Hartz IV keine wirklich wichtige Rolle, auch wenn sich jüngst Robert Habeck des Themas sehr zur Überraschung seiner Parteifreunde angenommen hat. Es gibt auch keine eigene Interessengruppe innerhalb der Partei, die sich als Fürsprecher der sozial Schwachen fühlen würde. Diejenigen, die sich für dieses Thema stark gemacht haben, sind schon lange zur Linkspartei übergewechselt. Und es gibt auch keine richtige Interessengemeinschaft der Arbeitnehmer bei den Grünen. Ihr einziges Aushängeschild ist Verdi-Chef Frank Bsirske. Er ist Parteimitglied, hat aber mit seiner Dienstleistungsgewerkschaft genug zu tun, und kann bei den Grünen nicht auch noch politische Akzente setzen. Was Grünen-Mitglieder im Arbeitsleben umtreibt, spielt sich oft im freiberuflichen Segment von IT, Energiewirtschaft, Ökowerk ab, oder im breiten Feld der Pädagogik, was den Grünen unter anderem den Ruf einer „Lehrerpartei" einbrachte.
Gemessen an jüngsten Wahlergebnissen mögen die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei sein, aber Habecks Warnung an die eigene Partei kommt nicht von ungefähr. Die Attraktivität der Grünen hat viel mit dem Erscheinungsbild der übrigen Parteienlandschaft zu tun. Egal ob CDU, CSU, SPD. Der lange Dauerstreit in der Union und die Suche der SPD nach eigener Identität haben die Schlagzeilen dominiert, die in früheren Zeiten die Grünen mit Personalquerelen und Veggie-Day-Vorschlägen beherrschten. Jetzt erscheinen sie als Hort politischer Stabilität. Hinzu kommt, dass ihr Kernthema Umwelt- und Klimaschutz Konjunktur hat, befördert auch durch Diesel-Skandal und reihenweise Gerichtsurteile für Fahrverbote zugunsten des Gesundheitsschutzes. Unbestritten hat sich die Partei auch mit anderen Themenfeldern auseinandergesetzt und konzeptionell gearbeitet, in der thematischen Breite und Tiefe reicht es indes (noch) nicht an die alteingesessenen Parteien heran. Bei denen sorgen nicht nur die Arbeitsgemeinschaften (SPD) oder Vereinigungen (Union) für ein breites Spektrum, sondern auch die Verankerung einer starken kommunalen Basis.
Die Grünen könnten allerdings von einem Self-fulfilling-prophecy-Effekt profitieren. Etabliert sind sie längst, salonfähig auch. Wenn jetzt noch der nicht nur punktuelle Eindruck entsteht, dass sie dabei sind, den Sprung in die Liga der Volksparteien schaffen zu können, dann könnte das wie ein Selbstläufer wirken. Dass es das nicht ist, ist der Parteispitze bewusst. Die hat nämlich jenseits der aktuellen Schlagzeilen das ernüchternde Ergebnis der Bundestagswahl vor Augen. Vor gerade mal gut einem Jahr zogen die Grünen nur als kleinste Oppositionspartei in den Bundestag ein. Die bisherigen Volksparteien machen trotz oder gerade wegen der jüngsten Wahlergebnisse jedenfalls nicht den Eindruck, dass sie das Feld kampflos räumen und für die Grünen freimachen wollen. Die wiederum halten Volksparteien ohnehin für „veraltet".