Das Ende der Volksparteien ist nicht das Ende der Demokratie. Die moderne Gesellschaft differenziert sich und digitale Medien verändern Information und Meinungsbildung. Die traditionellen Parteien sind mit der politischen Willensbildung heute vollkommen überfordert.
Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit, sagt das Grundgesetz. Das entsprach vermutlich der Wirklichkeit des Jahres 1949: Nur wenige Menschen hatten damals die Möglichkeit, ihre politische Meinung direkt und mit Chance auf Publikum auszudrücken – außer in Wahlen. Wer mitreden wollte, musste sich dauerhaft in Parteien und ihre Strukturen einbringen. Der Ortsverband war quasi die Keimzelle der Meinungsbildung.
Heute ist die Wirklichkeit eine ganz andere, und das betrifft nicht nur die Politik. Seit vielen Jahren und Jahrzehnten beschreiben Sozialwissenschaftler, was jedem ohnehin auffällt: Die Gesellschaft wird vielfältiger. Lebensformen werden unterschiedlicher, statt der Familie mit Papa, Mama und zwei Kindern herrscht Patchwork. Religionen werden gewechselt, es gibt ein halbes Dutzend sexuelle Orientierungen, bei Facebook noch viel mehr, und sie werden auch schon mal gewechselt. Die regionale Mobilität ist größer als früher, nur die Minderheit der Schulklasse bleibt auch nach dem Abschluss ein Leben lang im Heimatort.
Überzeugen fällt immer schwerer
Das kann auch für die Politik nicht ohne Konsequenzen bleiben. Die politische Orientierung wird problematischer, sie bleibt nicht mehr das Leben lang gleich. Zwar galt auch früher schon: „Wer mit 20 nicht Kommunist ist, hat kein Herz; wer mit 40 immer noch Kommunist ist, hat keinen Verstand." Auch früher wechselte der denkende Mensch im Laufe seines Lebens seine politische Meinung. Aber die Analysen der Politikwissenschaftler sind doch eindeutig: Der Anteil der Wechselwähler war noch nie so hoch wie heute. Heute ändert man seine Meinung nicht nur einmal im Leben, sondern mehrfach. Logische Folge: Die Bindung an die Parteien schwindet.
„Die heutige Zeit ist gekennzeichnet durch viele kleinere Gruppen, in die die Gesellschaft zerfallen ist", erklärte Professor Oskar Niedermeyer, Politikwissenschaftler und Wahlforscher kürzlich auf einer Veranstaltung der CDU in Berlin. „Die Parteien müssen die Leute heute immer wieder neu überzeugen." Das aber fällt ihnen immer schwerer.
Vor allem in Amerika, aber auch in Europa gibt es schwerpunktmäßig im Mitte-Links-Spektrum eine Tendenz zu „Identitätspolitik". Die Politik richtet sich auf eher kleinere, spezifische Gruppen in der Bevölkerung –Homosexuelle, Migranten, Alleinerziehende, Menschen mit Handicap. Deren Bedürfnisse sind recht speziell, und den Bogen über alle diese Gruppen zu spannen, fällt gerade den großen Parteien, die gemeinhin als Volksparteien gelten, immer schwerer.
Aber nicht nur die politischen Meinungen gehen immer stärker auseinander als früher. Parallel dazu wird viel mehr als früher Wert darauf gelegt, dass Politiker das machen, was man selber von ihnen erwartet. Übers Internet kann sich jeder kurzfristig und konkret informieren – auch quasi live über das Verhalten der Volksvertreter. Das Wahlvolk lässt Politikern immer weniger durchgehen, dass sie sich anders entscheiden als vielleicht gewünscht, obwohl das zum parlamentarischen System eigentlich gehört. Einige Politikwissenschaftler sehen darin schon eine Krise des repräsentativen Parlamentarismus.
Die Volksparteien haben noch mit einem weiteren grundsätzlichen Manko zu kämpfen: Sie bündeln unterschiedliche Positionen aus ganz unterschiedlichen Politik-Bereichen. Und diese Bündelungen sind nicht immer zwingend. Warum muss man für höhere Verteidigungsausgaben sein, wenn man für die traditionelle Ehe ist? Warum für offene Grenzen sein, wenn einem an einem höheren Kindergeld liegt? Was bitte hat der Diesel mit dem Kopftuch zu tun?
Immer weniger Menschen sind bereit, solche „Pakete" zu kaufen. Darum haben neue Parteien, wie einst die Grünen, dann auch mal die Piraten und heute teilweise die AfD, mehr direkte Demokratie gefordert. Das Beispiel der Schweiz zeigt, es kann funktionieren; aber ist die Schweiz nicht doch eher eine Ausnahme? Das „Volk" in Details entscheiden zu lassen, ist bislang jedenfalls nicht wirklich erfolgreich. Dennoch scheinen das Internet und die sozialen Medien vieles möglich zu machen, woran bislang nicht zu denken war.
Für Andreas Reckwitz, Professor für Kultursoziologie in Frankfurt (Oder) sind diese Entwicklungen Folgen eines ganz großen Trends in modernen Gesellschaften: Die früher typische Bindung der Parteien an Milieus als Interessengemeinschaften sei erodiert. Das sei aber nur ein Aspekt eines großen Trends hin zu einer „Gesellschaft der Singularitäten". Früher, in den 50er, 60er- und 70er-Jahren konnte man eine Politik für alle oder den Durchschnittsmenschen machen. Inzwischen aber zähle nur der Einzelne, das Besondere, Originelle, nach einer neuen „sozialen Logik des Besonderen". Der Bedeutungsverlust der Volksparteien seit den 80er-Jahren ist für Reckwitz also kein Zufall.
Parteien sind nur noch einer von vielen Playern
Die Digitalisierung hat diesen gesellschaftlichen Trend demnach nur noch beschleunigt: „Durch die Entwicklung der digitalen Medien verlagert sich die politische Debatte in autonome Teilöffentlichkeiten", so Reckwitz. Es entstehen „Neogemeinschaften" statt der traditionellen sozialen Milieus, in denen möglicherweise noch Mutter und Tochter Jahrzehnte lang das Gleiche wählten.
Heute ist das vollkommen anders. Schon seit Jahrzehnten haben Vereine und Verbände die Aufgabe der Willensbildung wesentlich mit übernommen, dazu kommen inzwischen unzählige Internetforen, Facebook-Gruppen, Twitter-Hashtags. Organisationen beeinflussen die öffentliche Meinung durch professionelle Kampagnen, organisieren Massendemonstrationen, bezahlen Studien. Die Parteien sind in diesem riesigen Theater nur noch ein Spieler unter vielen.
Eine ganz neue Dimension nimmt die Meinungsbildung in Zeiten von Twitter und Facebook an. Millionen von Menschen bilden sich nicht nur ihre Meinung in sozialen Netzwerken, sondern geben sie auch kund. Wie wichtig Zustimmung und Likes sind, hat zuletzt der Fall Alice Weidel gezeigt: Die Spende, die ihr nun wohl zum Verhängnis wird, hat sie teilweise dafür verwendet, Facebook-Likes zu kaufen. Das sollte zeigen, wie viele mit Parolen oder Behauptungen einverstanden sind. Diese Zustimmung ist heute ein wichtiger Faktor im politischen Machtkampf.
Das zeigt auch schon, welche Gefahren durch diese Entwicklung drohen: Die Meinungsbildung über die Medien läuft der über die Parteien den Rang ab. Sie wird facettenreicher – aber das macht sie auch in bislang ungeahnter Weise manipulierbar.