Die Transplantationsmedizin ist mit dem Konzept des Hirntodes verknüpft. Dabei kollidiert oft wissenschaftliche Erkenntnis mit menschlichen Gefühlen. Prof. Dr. Ralf Ketter, Spezialist für Hirntod-Diagnostik an der Homburger Uniklinik, ist ein Befürworter der Organspende und möchte Angehörige aufklären.
Das düstere Licht der Schreibtischlampe täuscht: Ralf Ketter erweist sich in seinem Büro als umgänglicher Mensch mit einer positiven Ausstrahlung. Seine Hauptaufgaben: heilen und Leben retten. Der Neurochirurg hat mit Schädel-Hirn-Verletzten, Schlaganfall- und Tumorpatienten zu tun, arbeitet seit 20 Jahren in der Intensivmedizin. Nicht jedem aber ist zu helfen. Und mit dem Tod eines Patienten ist die Arbeit von Ralf Ketter nicht zu Ende: Er möchte ermitteln, ob der Mensch für eine Organspende infrage kommt. Ketter koordiniert die Transplantationsbeauftragten und damit die Organspenden am Universitätsklinikum des Saarlandes (UKS). „In jeder Klinik des UKS gibt es einen Transplantationsbeauftragten und einen Vertreter. Zusätzlich haben wir Transplantationsbeauftragte in der Pflege", sagt Ketter. Er selbst untersteht dabei direkt dem ärztlichen Direktor des UKS. „Ansonsten bin ich weisungsunabhängig."
Unabhängigkeit ist wichtig für diesen Job. Das Entnehmen und das Einsetzen menschlicher Organe, diese Bereiche sind strikt zu trennen. So will es der Gesetzgeber. Wer einen Patienten behandelt, darf nach dessen Tod nicht von der Transplantation seiner Organe profitieren. Auch nicht, um ein Menschenleben zu retten. „Transplantationsbeauftragter" ist deshalb ein irreführender Begriff, denn er hat mit der Organspende zu tun, nicht aber mit der Transplantation.
Nur die wenigsten Menschen kommen, wenn sie sterben, als Organspender infrage. Selbst wenn sie sich zu Lebzeiten damit einverstanden erklärt haben. Die Grundvoraussetzung für transplantationstaugliche Organe ist nämlich, dass es das Gehirn als Erstes trifft. Solche Todesursachen können neben einer Schädel-Hirnverletzung eine Hirnblutung sein, ein Schlaganfall oder eine Schädigung des Hirns durch Sauerstoffmangel nach einem Herzstillstand. Setzten nach einem schweren Herzinfarkt die Wiederbelebungsmaßnahmen zu spät ein, können sie zwar manchmal das Herz wieder zum Schlagen bringen, aber das Gehirn nicht mehr retten, denn es kommt nicht lange ohne Sauerstoff aus.
„Wie ein Enthaupteter"
Voraussetzung für eine Organspende ist also die Feststellung des Hirntodes, wonach der Körper in der Regel noch für eine gewisse Zeit an lebenserhaltende Apparate angeschlossen bleibt. So können mögliche Spenderorgane weiterhin durchblutet werden. Weil Mediziner und Gesetzgeber das Gehirn als Sitz der Persönlichkeit und des Geistes begreifen, gilt der Tod des Hirns gleichsam als sicherstes Todeszeichen des Menschen. Auch wenn der restliche Körper durch künstliche Beatmung noch weiterhin lebendig erscheint. Viele Reflexe, die hormonelle Steuerung und der Stoffwechsel sind noch aktiv. Der Körper ist warm und der Hirntote sieht nicht wie eine blasse Leiche aus. Ein Umstand, der viele Kritiker auf den Plan ruft, die den Hirntod nicht als Tod, sondern nur als eine Phase des Sterbens ansehen, da noch nicht alles Leben im Körper erloschen ist.
Auch Ralf Ketter glaubt nicht, dass das Leben von einem Augenblick auf den nächsten endet. „Das Sterben ist ein Prozess. Aber mit dem Feststellen des Hirntods weise ich nach, dass im Bett der Intensivstation ein – vom Nervensystem her betrachtet –
funktionell Enthaupteter liegt. Der Tod wird unumkehrbar eintreten." Für Ketter ist klar: „Der Hirntod ist das sicherste Todeszeichen des Menschen."
„Risiko einer Fehldiagnose liegt bei Null"
Doch wie steht es um die Zuverlässigkeit der Hirntod-Feststellung? Was, wenn der Mensch bei der Organentnahme noch Schmerzen fühlte, erst durch die Entnahme endgültig getötet würde? Für Angehörige eine schreckliche Vorstellung. Viele verfolgt so etwas noch Jahre danach. „Die Angst vor dem Scheintod muss man ernstnehmen", sagt Ketter. Doch er ist überzeugt, dass die hierzulande vorgeschriebene Untersuchung solche Horrorszenarien zuverlässig ausschließt. „Wenn man sich streng an die Richtlinien hält, liegt das Risiko einer Hirntod-Fehldiagnose bei null." Zumal das Transplantationsgesetz vor wenigen Jahren nochmals verschärft wurde. Seit 2015 dürfen nur noch qualifizierte Fachärzte den Hirntod feststellen. Ralf Ketter ist so einer. Er darf Erstuntersucher sein. Auch Neurologen mit intensivmedizinischer Erfahrung sind dafür zugelassen. Grundsätzlich müssen immer zwei Fachärzte den Patienten untersuchen. Dabei müssen verschiedene Faktoren ausgeschlossen werden. Keine Medikamente oder Gifte dürfen im Blut sein, die die Hirnfunktion beeinträchtigen. Es darf kein Schock vorliegen, keine Unterkühlung, kein diabetisches Koma. Als Nächstes untersuchen die Ärzte den Ausfall der Hirnstammreflexe (wie den Atemreflex). Drittens ist der Nachweis erforderlich, dass der Zustand unumkehrbar ist.
Zur Absicherung der Diagnose, die über Leben und Tod entscheidet, nehmen die Ärzte nach einer Wartezeit von 24 bis 72 Stunden eine zweite Untersuchung vor. Alternativ dazu gibt es aussagekräftige Untersuchungstechniken wie das Nulllinien-EEG oder der Nachweis fehlender Hirndurchblutung mittels Szintigrafie. „Eine neuere Methode ist die CT-Angiografie, die sich in Deutschland etabliert hat und auch in Homburg Anwendung findet", so Ketter. Im Gegensatz zu Ländern wie Großbritannien, wo der Ausfall des Stammhirns ausreicht, muss in Deutschland der Ausfall der Gesamtfunktion von Groß-, Klein- und Stammhirn nachgewiesen werden. Jedes Bewusstsein, jedes Schmerzempfinden ist erloschen. Für immer. Ketter: „Es ist kein Fall einer falsch positiven Hirntod-Diagnose bekannt." Steht nun der Hirntod zweifelsfrei fest, wird der ganze Mensch im juristischen Sinne für tot erklärt.
Doppelbelastung nach der Todesnachricht
Das Feststellen des Hirntodes als erste Voraussetzung für eine mögliche Organentnahme ist somit eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Noch schwieriger jedoch ist die zweite Voraussetzung zu ermitteln: der Wille des Hirntoten. In den meisten Fällen hat dieser nämlich zu Lebzeiten keine schriftliche Erklärung zur Organspende abgegeben. Also müssen die Angehörigen ran. Müssen zuerst die Todesnachricht verkraften und anschließend über Organspende nachdenken.
Diese Aufgabe übernimmt Ralf Ketter auch selbst. „Zuerst überbringe ich die Todesnachricht. Während der nächsten Minuten oder Stunden haben die Angehörigen Zeit, die Nachricht zu verarbeiten." Dann kommt der entscheidende Part: das Gespräch über eine mögliche Organspende. „Das ist kein Routinegespräch. Man muss sich mit dem Tod auseinandersetzen." Das Hauptproblem sei die stellvertretende Entscheidung: Wie hätte mein Angehöriger entschieden? „In dieser Situation ist es jedoch kaum möglich, eine Entscheidung zu treffen." Bei der Beratung gilt es, viele Hürden zu überwinden. Ketter findet, dass viele Zweifel durch Unkenntnis entstehen. Oft begegnet ihm auch ein tiefes Misstrauen gegenüber der Ärzteschaft im Allgemeinen und der Diagnose im Besonderen. Wie kann der Mensch tot sein, wenn er so lebendig aussieht, sich der Brustkorb hebt?
Keine Narkose aus Prinzip
Manche Menschen möchten der Organentnahme nur zustimmen, wenn der Angehörige dabei eine Narkose bekommt. „Doch das wäre mit unserem Verständnis vom Hirntod nicht vereinbar", erklärt Ketter. Eine Narkose würde die Fehlinterpretation zulassen, dass man ein Schmerzempfinden beim Organspender nicht sicher ausschließen kann. „Doch dies ist durch die Hirntoddiagnose ausgeschlossen", bekräftigt Ketter. Wünscht ein Angehöriger die Narkose des Verstorbenen, wäre das ein Ausschlusskriterium für die Organspende. Zu groß das Risiko, dass der Angehörige die Entscheidung später bereut. „Ich setze alles daran, das Konzept zu erklären. Denn es ist sehr durchdacht und die bestdefinierte medizinische Diagnose überhaupt."
Letztes Jahr gab es 769 Organspender in Deutschland, ein historisches Tief. „Immerhin liegt das Saarland mit 16,1 Spendern auf eine Million Einwohner über dem Durchschnitt." Das Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende, das 2019 verabschiedet werden soll, findet Ralf Ketter gut. Angesichts der Widerspruchsregelung, die möglicherweise in Zukunft für mehr Spenderorgane sorgen soll, hegt er aber gemischte Gefühle. „Ich bin dankbar für die Diskussion, die Herr Spahn angestoßen hat, und hätte persönlich nichts gegen eine Widerspruchslösung – aber sie ist kein Allheilmittel. Wir werden dadurch nicht mehr Zustimmung zur Organspende erhalten. Ich würde lieber auf Überzeugung setzen. Positiv an der Widerspruchslösung: Jeder Einzelne muss sich überlegen, wie er zur Organspende steht." Ketter rät jedem: „Treffen Sie eine Entscheidung zu Lebzeiten!" Auch das schriftliche Festhalten sei wichtig. „Obwohl jeder hier weiß, dass ich pro Organspende bin, habe ich einen Organspendeausweis." Dabei habe er auch Verständnis dafür, wenn sich jemand ausdrücklich gegen die Organspende ausspricht. „Ich bin froh über jede stabile Entscheidung."