Nachdem er in britischer Kriegsgefangenschaft zum überzeugten Demokraten bekehrt worden war, sollte Helmut Schmidt bald die Geschicke der SPD und der Republik mitentscheidend lenken. Ursprünglich wäre er jedoch lieber Architekt oder Hafendirektor statt Politiker geworden. Eine Kurzbiografie des Altkanzlers.
Als die Nazis 1932 die Macht im Reich übernommen hatten, hätte das gravierende Folgen für den Lehrer Gustav Ludwig, seine Ehefrau Ludovica und deren beiden Söhne Helmut und Wolfgang haben können. Denn Gustav Schmidt war in der Nomenklatur des Dritten Reiches Halbjude, ein unehelicher Sprössling eines jüdischen Bankiers und einer Kellnerin. Somit war der am 23. Dezember 1918 im roten Hamburger Stadtteil Barmbek geborene Helmut Heinrich Waldemar Schmidt ein Vierteljude – damals ein Abstammungsmakel, der eine Karriere beispielsweise als Offizier in der Wehrmacht ausgeschlossen hätte.
Doch Gustavs wirkliche Herkunft war Ende der 1880er-Jahre durch sofortige Adoption und Geburtsurkundenfrisierung so geschickt verschleiert worden, dass selbst die NS-Ahnenforschung nicht dahinterkam. Helmut Schmidt selbst wurde in das wohlbehütete Familiengeheimnis von seiner Mutter 1933 oder 1934 eingeweiht, weil er wie alle seine Altersgenossen unbedingt in die Hitlerjugend eintreten wollte, was seine Eltern strikt abgelehnt hatten.
„Schmiddel" war der Klassenprimus
Nach vier Jahren auf der Volksschule im Stadtteil Hohenfelde wechselte er 1928 gemeinsam mit Hannelore Glaser – der späteren Loki Schmidt – auf die reformpädagogische Lichtwark-Oberschule in Winterhude, eine damals im Reich fast einzigartig fortschrittlich-liberale Institution mit musisch-kulturellem Schwerpunkt. Hier wurden die Grundlagen für Schmidts private Liebe zu Musik und Kunst gelegt, aber auch seine Fähigkeiten zu selbstständigem, kritischem Denken von Anfang an gefördert.
„Schmiddel", wie er von seinen Klassenkameraden genannt wurde, war Vorzeigeschüler und Klassenprimus. Nach seinem Abitur 1937 wollte er nach Ableistung des Wehrdienstes eigentlich ein Architektur-Studium aufnehmen. Aber die Kriegsplanungen von Adolf Hitler machten ihm einen Strich durch die Rechnung.
Bis Kriegsende sollte er beim Militär bleiben, Offizier der Luftwaffe werden, seine soldatischen Pflichten sowohl an der Ost- als auch an der Westfront korrekt, aber „mit gespaltenem Bewusstsein", wie er später resümierte, absolvieren. Der NS-Ideologie stand er nach eigenem Bekunden mit gehöriger Distanz gegenüber. Im Sommer 1942 heiratete er seine Jugendfreundin Loki, ihr erstes Kind Helmut Walter kam behindert zur Welt und verstarb im Februar 1945 noch vor seinem ersten Geburtstag. Tochter Susanne kam nach Kriegsende im Mai 1947 in Hamburg zur Welt.
Der halbjährige Aufenthalt in einem britischen Kriegsgefangenenlager für Wehrmachts-Offiziere im belgischen Jabbeke wurde prägend für Schmidts künftige politische Orientierung und Überzeugung. In der „Volkshochschule im Kriegsgefangenenlager", wie Schmidt sie nannte, lernte er den 25 Jahre älteren Pädagogik- und Philosophie-Professor Hans Bohnenkamp kennen – einen religiösen Sozialisten, der seinen desillusionierten Mithäftlingen die Gedanken der Demokratie und des Rechtsstaates beibrachte. Schmidt, dessen ganzes Leben, wie er immer wieder betonte, von der „Scheiße des Krieges" geprägt bleiben sollte, erkor ihn zu seinem Mentor, dem er sein politisches Erweckungserlebnis und letztlich auch seine Hinwendung zu den Sozialdemokraten zu verdanken habe. Im Mai 1946 trat Schmidt daher in die SPD ein und engagierte sich bald schon im Sozialistischen Deutschen Studentenbund.
In Hamburg hatte er das Studium der Volkswirtschaftslehre sowie der Staatswissenschaft aufgenommen, das er schon 1949 als Diplom-Volkswirt abschloss. VWL hatte ihn eigentlich nach eigenem Bekunden in einem „Zeit"-Interview kein bisschen interessiert, er habe einfach nur das Fach gewählt, „das den geringsten Zeitaufwand zu verlangen schien". Seinen Studientraum von Architektur und Städtebau habe er damals endgültig aufgegeben, weil die für ihn maßgebliche Kombination von technischer Hochschule und Kunstakademie seinerzeit nur in München und Wien möglich gewesen wäre, die beide nicht nur viel zu weit weg von seiner hanseatischen Heimat entfernt, sondern zudem für ihn damals auch unerschwinglich gewesen wären.
Während des Studiums hatte er etwas Geld mit dem Erstellen von Steuererklärungen verdient, vornehmlich aber vom Verdienst seiner Frau als Lehrerin gelebt. Seinen ersten Job erhielt er 1949 bei der Hamburger Behörde für Wirtschaft und Verkehr, die von seinem ehemaligen, von ihm hochgeschätzten Professor Karl Schiller, dem späteren Superminister für Wirtschaft und Finanzen im Kabinett Brandt, geleitet wurde.
Der Ruhestand war für ihn keine Option
Sein Chef war letztlich auch dafür verantwortlich, dass Schmidt 1953 erstmals als Abgeordneter in den Bundestag einzog. Denn Schiller hatte seinem zum Leiter des Hamburger Amtes für Verkehr aufgestiegenem Mitarbeiter die Freigabe für eine Position verweigert, die Schmidt innerhalb kürzester Zeit zum Hafendirektor befördert hätte. „Da bin ich aus Daffke (aus Trotz, Anm. d. R.) in den Bundestag gegangen", sagte Schmidt in einem weiteren Interview mit der „Zeit". Im Parlament sollte er schon bald mit seiner vom Arbeiterviertel Barmbek früh geprägten Schnoddrigkeit und seiner gefürchteten Redekunst, vor allem in den legendären Rededuellen mit CSU-Chef Franz-Josef Strauß, für Aufsehen sorgen.
Den Spitznamen „Schmidt Schnauze" hatte er selbst provoziert, indem er sich schon 1957 auf dem Bundestagspodium als „der Mann mit der schnellen Schnauze" vorstellte. Eigentlich hatte Schmidt laut eigenem Bekenntnis gegenüber der „Zeit" keine Karriere als Abgeordneter geplant, sondern der Abstecher in die Politik war von ihm ursprünglich nur auf eine einzige Parlamentsperiode angelegt. Doch dann sei plötzlich das Thema der deutschen Wiederbewaffnung aufgekommen. Und erst im Kampf gegen eine Wiederauferstehung der Wehrmacht wurde der durch kühle Sachlichkeit, Geradlinigkeit und Entschlossenheit berühmte Politiker und Pragmatiker Helmut Schmidt geboren.
Schmidt ließ sich bei all seinem Handeln stets von Erkenntnissen leiten, die er der Lektüre seiner sogenannten Hausapotheker verdankte. Damit meinte er die großen Denker Marc Aurel, Immanuel Kant, Max Weber und Karl Popper. Vor allem der kritische Rationalismus Karl Poppers hatte es ihm angetan, weil dieser die Grundzüge einer offenen Gesellschaftsordnung basierend auf Freiheit und Toleranz, fern idealer politischer Utopien, entworfen hatte.
Von Immanuel Kant und Max Weber übernahm er die Pflicht- und Verantwortungsethik, die er auch bei dem römischen Stoiker Marc Aurel aus dessen Tugendlehre mit dem Lobpreisen von Nüchternheit und Gelassenheit ableiten konnte.
Obwohl ihn die Kanzlerjahre an den Rand der Erschöpfung gebracht hatten und er auch gesundheitlich einige Rückschläge zu verkraften hatte, so war doch der Ruhestand für ihn nach Ende seiner politischen Laufbahn keine Option. Daran konnte nicht einmal eine Bypass-Operation infolge eines Herzinfarkts im Sommer 2002 etwas ändern. Vielmehr startete Schmidt schon im Mai 1983 eine zweite Karriere als Publizist, als er den Posten des Mitherausgebers der „Zeit" übernahm, eine Aufgabe, der er bis zu seinem Lebensende treu bleiben sollte. Daneben forcierte er seine Tätigkeit als Buchautor, wobei viele seiner insgesamt rund 50 Werke, die er meist mithilfe seines liebsten Schreibgeräts, einem grünen Faserschreiber der Firma Pentel zu Papier brachte, zu absoluten Bestsellern wurden. Auch immer zahlreichere Medienauftritte oder bestens honorierte Vortragsreisen um die halbe Welt gehörten zu seinem neuen großen Standard-Arbeitsprogramm. Und er wurde als hochgeschätzter, mit Preisen oder Ehrendoktorwürden überschütteter Elder Statesman auch weiterhin von den wichtigsten Staats- und Regierungschefs des Globus gerne zu Konsultationen empfangen.
Luxus war für Helmut und Loki Schmidt ein Fremdwort. Von daher wohnten sie bis zuletzt in einer eher bescheidenen Doppelhaushälfte in Hamburg-Langenhorn, die in Zeiten von Schmidts Kanzlerschaft zusätzlich so etwas wie der inoffizielle Regierungssitz war. Dort verstarb Helmut Schmidt einen Monat vor seinem 97. Geburtstag am 10. November 2015, Trauerfeier und Staatsakt wurden laut seinem letzten Willen im Hamburger Michel am 23. November 2015 in Anwesenheit von 1.800 geladenen Gästen aus aller Welt begangen.