Immer wieder musste sich Helmut Schmidt als Politiker äußerst schwierigen Aufgaben stellen. 1962 setzte er sich als Senator in Hamburg sogar über geltendes Recht hinweg, um die Stadt vor der Sturmflut zu retten. Das Bild des Krisenmanagers im Kanzleramt prägte später aber vor allem seine harte Linie im Umgang mit dem Linksterrorismus der RAF.
Das Bild ist einfach zu gut, um es nicht zu gebrauchen. Helmut Schmidt, wie er über sich hinauswächst, wenn ihm das Wasser sprichwörtlich bis zum Hals steht. Als Hamburg im Februar 1962 von einer Flutkatastrophe heimgesucht wird und große Teile des Stadtgebietes unter Wasser stehen, handelt Schmidt als damaliger Senator der örtlichen Polizeibehörde kurzentschlossen und pragmatisch und rettet damit womöglich Tausenden Menschen das Leben. Auch in späteren Jahren muss sich der Politiker immer wieder äußerst schwierigen Aufgaben stellen. Die Art und Weise, wie er mit diesen Herausforderungen umging, hat ihm den Ruf eines Krisenmanagers eingebracht. Dabei schreckt Helmut Schmidt auch vor ungewöhnlichen Maßnahmen nicht zurück. Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie, dass die politische Karriere eines späteren Bundeskanzlers ausgerechnet damit beginnt, dass er das Grundgesetz ignoriert.
Andere zögerten, Schmidt handelte
In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 wird die deutsche Nordseeküste von der schwersten Sturmflut seit Jahrhunderten heimgesucht. Im Hamburg brechen mehrere Deiche, insgesamt 315 Menschen kommen in den Wassermassen ums Leben. Ohne den beherzten Einsatz Helmut Schmidts hätten es allerdings noch deutlich mehr sein können. Mit 43 Jahren ist Schmidt zu diesem Zeitpunkt eigentlich das jüngste und zudem unerfahrenste Mitglied des Hamburger Senats. „Tatsächlich aber ist er an diesem Vormittag und in den nächsten drei Tagen, ganz unabhängig von den ihm erteilten Vollmachten, die anordnende und vollziehende Gewalt in der Stadt", wie es in einem Artikel in der „Welt" heißt. Autor Uwe Bahnsen schreibt: „Alles hört auf sein Kommando. Es ist die normative Kraft des Faktischen, die hier zu besichtigen ist."
Schmidt koordiniert den Großeinsatz von Polizei, Rettungsdiensten, Katastrophenschutz und THW. Er ruft Lauris Norstad an, Nato-Oberbefehlshaber in Europa, und Admiral Bernhard Rogge, Befehlshaber im Wehrbereichskommando I, damit sie ihm Boote und Hubschrauber schicken. Damit setzt er sich über geltendes Recht hinweg, das den Einsatz der Bundeswehr und Nato-Soldaten im Inland eigentlich untersagt.
„Ich habe mich um die Gesetze nicht gekümmert. Ich hab auch nicht erst ’nen Juristen gefragt, ob ich das darf. Oder ob ich das nicht darf. Ich habe das Grundgesetz nicht angeguckt in jenen Tagen", wird Schmidt später sagen. Für ihn zählt in dieser Situation nicht, wie das Problem gelöst wird, sondern dass es überhaupt gelöst wird. Hierarchien spielen da nur eine untergeordnete Rolle. Als der Erste Bürgermeister Paul Nevermann in Hamburg eintrifft, der zu Beginn der Katastrophe noch zur Kur im österreichischen Bad Hofgastein weilt, kommt es zwischen den beiden zu folgendem Dialog. Schmidt: „Herr Bürgermeister, Sie stehen mir hier im Weg!" – Nevermann: „Aber die Hamburger Verfassung gilt doch noch?" – Schmidt: „Paul, nun halt endlich den Mund. Siehst du denn nicht, dass ich dringende Anweisungen zu diktieren habe?" Der „Spiegel" kommentiert kurz darauf: „Die Hansestadt Hamburg war führerlos und unfähig, einen Führer zu berufen, als die Sturmflut über sie kam. Der Führer berief sich selbst."
Inzwischen wird Schmidts Rolle bei der Bekämpfung der Sturmflut etwas differenzierter betrachtet. Der Historiker Helmut Stubbe da Luz etwa erklärt im Sommer 2018, Helmut Schmidt habe zwar „einen wichtigen Part gespielt damals, aber er war nicht der Held, als der er seither in fast allen populären Biografien gezeichnet worden ist." Schon vorher sei der Einsatz von Soldaten im Inland durchaus üblich gewesen – und es sei auch nicht Schmidt gewesen, der deren Einsätze in Hamburg veranlasst hat, sondern Polizeidirektor Martin Leddin, der den Einsatzstab leitete, mit Billigung des Polizeipräsidenten. Schmidts Verdienst liege eher darin, dass er durch sein autoritatives Auftreten und seine entschiedene, militärische Art „Schwung in die ganze Sache gebracht" habe, sagte Stubbe da Luz im Interview mit der „Zeit".
In der Bevölkerung gilt Helmut Schmidt dennoch als Held von Hamburg. Als Anpacker. Dieser Ruf eilt ihm voraus, als er während seiner Amtszeit als Bundeskanzler mit zahlreichen weiteren Krisen konfrontiert wird, die er nicht zu verantworten hat. 1973/74 erbt Schmidt die Ölpreiskrise, die in allen westlichen Industrienationen eine schwere Rezession auslöst. Um den Westen anlässlich des Jom-Kippur-Kriegs im Nahen Osten bezüglich ihrer Unterstützung Israels unter Druck zu setzen, haben die arabischen Mitglieder der OPEC (Organisation Erdöl exportierender Länder) die auf dem Weltmarkt verfügbare Ölmenge künstlich verknappt und damit für einen deutlichen Anstieg des Ölpreises gesorgt.
Zu einer zweiten Ölpreiskrise kommt es ab 1979 nach der Islamischen Revolution im Iran und dem folgenden Angriff des Iraks auf den Nachbarstaat. Auch in Deutschland sind die Auswirkungen zu spüren, die Wirtschaft schwächelt. Doch dank Sozialpartnerschaft und einer zwischen Bundesregierung und Bundesbank abgestimmten Konjunktur- und Zinspolitik übersteht die Bundesrepublik die Krise besser als viele andere Staaten. Helmut Schmidt, so sehen es viele, hat sich als Lotse in schwierigen Zeiten bewährt.
Harte Linie gegen den RAF-Terror
Doch es ist vor allem eine politische Krise – die Auseinandersetzung mit dem Linksterrorismus der „Roten Armee Fraktion" –, die das Bild des Krisenmanagers im Bundeskanzleramt prägt. Im sogenannten Deutschen Herbst 1977 fährt Schmidt eine harte Linie gegenüber der RAF und predigt eine Null-Toleranz-Politik. In einem Nachruf in der „Welt" heißt es nach seinem Tod: „Schmidts Politik der Unnachgiebigkeit den Terroristen gegenüber bei gleichzeitigem Mut zum Handeln und seine taktische Beweglichkeit haben die wehrhafte Demokratie der Bundesrepublik gestärkt und den Bundesbürgern 1977 im Deutschen Herbst der terroristischen Attacken Selbstvertrauen verschafft."
Im Kampf gegen die RAF offenbart sich der ansonsten oft etwas sture Schmidt als durchaus lernfähig. Als Anfang 1975 zunächst die anarchistische Bewegung 2. Juni den Westberliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz entführt und die Freilassung von sechs Inhaftierten fordert, stimmt Schmidt auf Druck des Westberliner Bürgermeisters Klaus Schütz (SPD) und des CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl zu. Fünf Terroristen werden ausgeflogen, vier von ihnen nehmen den bewaffneten Kampf bei der RAF wieder auf. Helmut Schmidt erkennt seinen Fehler und schwört sich, ihn nicht noch einmal zu begehen. Als bald darauf in der deutschen Botschaft in Stockholm Geiseln genommen werden, bleibt der Kanzler hart. Ebenso, als 1977 erst Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer und später auch noch die Lufthansa-Maschine „Landshut" entführt werden, um auf diese Weise inhaftierte Terroristen freizupressen. 30 Jahre später erklärt Helmut Schmidt in einem denkwürdigen Interview mit „Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo: „Wir hatten alle die Kriegsscheiße hinter uns. Wir hatten alle genug Scheiße hinter uns und waren abgehärtet. Und wir hatten ein erhebliches Maß an Gelassenheit bei gleichzeitiger äußerster Anstrengung der eigenen Nerven und des eigenen Verstandes. Der Krieg war eine große Scheiße, aber in der Gefahr nicht den Verstand zu verlieren, das hat man damals gelernt."
Die Flugzeugentführung geht glimpflich aus, Schleyer jedoch wird ermordet. Die Terroristen im Gefängnis in Stammheim, die ihre Kollegen freipressen wollten, begehen Selbstmord. Schleyers Familie äußert heftige Kritik an dem aus ihrer Sicht sturen Verhalten Helmut Schmidts – dieser entgegnet, der Tod Schleyers bedrücke ihn zwar, doch er sei wohl unvermeidlich gewesen. In seinem Buch „Freiheit verantworten" formuliert es Schmidt so: „Wir müssen lernen, dass es in jeder Gesellschaft darauf ankommt, die Freiheit des Einzelnen als einen Handlungsspielraum zu begreifen, wobei es für die Freiheit des Einzelnen und der Gruppen durchaus rechtliche und moralische Grenzen gibt und geben muss. Oder anders gesagt: Jeder von uns muss das verantworten können, was er tut. Und später muss er wissen, was er zu verantworten hat." Nach dieser Maxime handelt Helmut Schmidt zeit seines Lebens. Besonders dann, wenn es ungemütlich wird.