Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wurde 1982 ein Regierungswechsel durch ein konstruktives Misstrauensvotum herbeigeführt und nicht durch Neuwahlen. Der Schwenk des Koalitionspartners brachte Helmut Schmidt ums Kanzleramt.
Es war die wohl schwerste Stunde in der politischen Laufbahn von Helmut Schmidt, der einige Krisen mit Erfolg gemeistert hatte. Erhobenen Hauptes, aber mit versteinerter Miene machte er sich am 1. Oktober 1982 auf den Weg, um seinem Nachfolger Helmut Kohl die Hand zu schütteln und zu dessen Wahl zum Bundeskanzler zu gratulieren.
1972 hatte Rainer Barzel als Oppositionsführer der CDU/CSU-Fraktion versucht, den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt mit einem Misstrauensvotum zu stürzen – und war gescheitert. Zehn Jahre später gelang der Union das, was eine Dekade zuvor misslang. Die Mehrheit des Bundestags entzog dem Regierungschef Helmut Schmidt am 1. Oktober 1982 das Vertrauen und beendete damit dessen achtjährige Arbeit als Bundeskanzler. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gab es einen Regierungswechsel durch ein sogenanntes konstruktives Misstrauensvotum.
Dass die Entscheidung im Bundestag so fallen würde, war letztlich keine völlige Überraschung mehr, auch wenn Schmidt bis zuletzt gehofft hatte, dass der Widerstand innerhalb des Koalitionspartners FDP gegen ein Bündnis mit der CDU/CSU groß genug sein würde, um das Votum scheitern zu lassen. Bereits am 17. September waren mit Außenminister und Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher, Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff, Innenminister Gerhart Baum und Landwirtschaftsminister Josef Ertl die vier FDP-Bundesminister aus der Regierung zurückgetreten. Letztlich waren sie damit aber nur einer Entlassung vonseiten Schmidts zuvorgekommen. Hintergrund waren Reformvorschläge Lambsdorffs gewesen, die dieser Anfang September im sogenannten Wende-Papier zur Reform der Wirtschafts- und Sozialpolitik formuliert hatte. Im Kern enthielt das Papier Forderungen nach einer konsequenten Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien, einer strikten Haushaltskonsolidierung sowie die Forderung nach Kürzung von Sozialleistungen – und stand damit im krassen Gegensatz zu den Prinzipien sozialdemokratischer Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ein offener Affront, den Schmidt nicht hinnehmen konnte, ohne innerhalb seiner eigenen Partei vollends die Glaubwürdigkeit zu verlieren.
45 Minuten zwischen Hoffen und Bangen
Denn innerhalb der SPD gärte es ohnehin, da der Nato-Doppelbeschluss und die drohende Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen hatten zu heftigen Diskussionen zwischen dem linken und dem rechten Flügel innerhalb der Sozialdemokraten geführt hatten. Hinzu kam, dass durch den Ölpreisschock und die Weltwirtschaftskrise die Arbeitslosigkeit in Deutschland bereits im Januar 1982 knapp unter der Zwei-Millionen-Marke lag und selbst eine Reihe von viel diskutierten Konjunkturpaketen keine Besserung brachte.
Im Textarchiv des Deutschen Bundestages ist nachzulesen, dass Helmut Schmidt bereits im Februar 1982 versucht hatte, die Koalitionsfraktionen mit einer Vertrauensfrage zu disziplinieren und geschlossen hinter sich zu bringen. Schmidt hatte damit versucht, den Bundestag um Unterstützung für seinen wirtschafts- und sicherheitspolitischen Kurs zu bitten und hatte vermeintlichen Erfolg. Zwar setzte er sich bei der Abstimmung durch, verhindern konnte dies den Zerfall der Koalition in den folgenden Monaten allerdings nicht. Zu konträr waren die Meinungen der Sozialdemokraten auf der einen und dem wirtschaftsliberalen Flügel um Graf Lambsdorff auf der anderen Seite.
Der Plan der aus der Regierung zurückgetretenen FDP-Minister, eine Koalition mit der CDU/CSU einzugehen und eine neue Regierung statt durch Neuwahlen mithilfe eines konstruktiven Misstrauensvotums zu bilden, sorgte nicht nur beim Koalitionspartner SPD für Empörung, sondern stieß auch innerhalb der FDP auf erheblichen Widerstand. Wie Schmidt hofften auch viele FDP-Abgeordnete, dass sich die Fraktion letztlich für eine Fortsetzung des Bündnisses aussprechen würde.
Die Diskussion im Bundestag an jenem 1. Oktober 1982 dauert mehr als sechs Stunden und wurde überaus emotional geführt. Schmidt beschuldigte die FDP des Wortbruchs und der Täuschung. Zwei Jahre zuvor hätten die Liberalen mit ihrem Bekenntnis zur Fortsetzung der sozialliberalen Koalition „ein sehr gutes Wahlergebnis erzielt" und den „Willen zum Zusammenwirken" für weitere vier Jahre ausdrücklich bekräftigt, appellierte er an die Disziplin der FDP, wie in den Archiven nachzulesen ist. Seit Sommer 1981 aber seien Genscher und die FDP „zielstrebig und schrittweise" von allen früheren Erklärungen abgerückt, wie er betonte.
Der Angesprochene selbst äußerte sich nicht. Das überließ er anderen wie Gerhard Baum oder dem Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnick.
20.000 Mitglieder traten aus der FDP aus
45 Minuten nach der Abstimmung stand das Ergebnis fest. Kurz nach 15 Uhr verkündete der damalige Bundestagspräsident Richard Stücklen von der CSU das Ergebnis. Von 495 Abgeordneten hatten sich 256 für den Misstrauensantrag ausgesprochen, nur 235 hatten dagegen gestimmt. Damit hatte der Antrag sieben Stimmen mehr erhalten als nötig gewesen wären. „Der Abgeordnete Dr. Helmut Kohl ist zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt", stellte Stücklen fest und fragte unter dem Applaus der Unions- und FDP-Abgeordneten: „Herr Dr. Kohl, nehmen Sie die Wahl an?" Als dieser strahlend bejahte, war die Regierungs- und Kanzlerzeit Helmut Schmidts jäh beendet.
Doch auch die FDP zahlte für ihren Schwenk zur CDU/CSU einen gewissen Preis. Mehr als 20.000 Mitglieder traten aus Protest aus der Partei aus, an ihrer Spitze die beiden Abgeordneten Günter Verheugen und Ingrid Matthäus-Maier, die sich beide der SPD anschlossen. Schmidt selbst verlor in der Folge auch in seiner eigenen Partei immer mehr an Rückhalt. Auf dem Kölner Parteitag der SPD im November 1983 stimmten von rund 400 Delegierten neben Schmidt nur 14 weitere Delegierte für den von ihm favorisierten Nato-Doppelbeschluss. Am 10. September 1986 hielt Helmut Schmidt seine Abschiedsrede im Bundestag, mit Ablauf der zehnten Wahlperiode schied er 1987 aus dem Parlament aus.