Nach seinem Rückzug aus der aktiven Politik war Helmut Schmidt als Elder Statesman sehr gefragt. Als Mitherausgeber der „Zeit" tat er seine Meinung zu Gott und der Welt regelmäßig in Kommentaren und Analysen kund, war gern gesehener Interviewgast – und der wohl einzige Deutsche, der überall rauchen durfte.
Der 9. Dezember 2012. Die SPD hält ihren Bundesparteitag zur Kür des Kanzlerkandidaten in Hannover ab. Peer Steinbrück lobt in seiner Rede die politische Geradlinigkeit des Altkanzlers Helmut Schmidt, der kurz vor seinem 94. Geburtstag steht und auf seinem Ehrenplatz sitzt. Peer Steinbrück beendet seinen Satz grinsend mit den Worten: „Und deshalb darf er im deutschen Fernsehen auch rauchen." Kaum hat der damalige Kanzlerkandidat seine Worte ausgesprochen, fingert Schmidt vor laufenden Kameras demonstrativ seine Zigaretten aus dem Jackett und zündete sich grinsend eine an. Die versammelten Parteimitglieder brechen in lauten Jubel aus, bevor Steinbrück beschwichtigt, es handele sich ja um Gesundheits-Zigaretten, nämlich Menthol-Zigaretten.
Es ist eine Szene, die sinnbildlich für das Bild steht, das die Deutschen in Erinnerung behalten haben, wenn sie an Helmut Schmidt denken. Der große Staatsmann, der es schelmenhaft auch in seinen letzten Tagen noch schaffte, die Sympathien auf seine Seite zu ziehen. 30 Jahre zuvor hatte Schmidt aber nichts zu schmunzeln. Der 1. Oktober 1982 war der Tag der größten Niederlage des Sozialdemokraten. Nach dem Bruch der sozial-liberalen Koalition wählte der Bundestag ihn mit einem konstruktiven Misstrauensvotum als Bundeskanzler ab. Sein Nachfolger, Helmut Kohl (CDU), würde eine neue Ära begründen. Doch Altkanzler Schmidt erholte sich schnell und tat es seinem Nachfolger gleich – abseits der Politik. Fortan ging er als „Gewissen der Nation" in die Geschichte ein. Sein Engagement begann am 1. Mai 1983. Helmut Schmidt wurde Mitherausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit".
Die damalige Herausgeberin, Marion Dönhoff, hatte Schmidt davon abgebracht, seine politische Laufbahn um jeden Preis fortzusetzen. Er sei nun als Elder Statesman gefragt, hatte sie ihn beschworen und damit einen Nerv getroffen. Denn abseits der bunten und oft ruppigen Politik konnte er an seinem Bild feilen: Sein sozialdemokratisches Credo, die Verhältnisse der Welt als Patriot und Weltbürger zugleich Stück für Stück zu verbessern, war ihm wichtig.
Einer, der sich intensiv mit Helmut Schmidts späten Jahren beschäftigt hat, ist sein langjähriger Weggefährte Thomas Karlauf. 28 Jahre begleitete er ihn und arbeitete vor allem als Lektor seiner Buchprojekte eng mit ihm zusammen. Ein verlässliches Urteil über die Bedeutung des Daseins Schmidts als Elder Statesman könne man derzeit aber noch nicht geben, sagte Karlauf einmal. Denn bisher habe es keinen anderen Kanzler gegeben, der nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik eine neue Karriere habe aufbauen können. Fakt ist aber, dass Schmidt hinter den Kulissen der Tagespolitik auf nationaler und internationaler Ebene wirkte. Etwa mit seinen „Freitagsgesellschaften", die er als private Diskussionsrunden mit hochrangigen Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Naturwissenschaften in seinem Hamburger Haus abhielt.
Henri-Nannen-Preis für sein Lebenswerk
Ganz die Finger von der Politik lassen konnte Helmut Schmidt nie. Bald gründete er den Inter-Action-Council, einen Rat ehemaliger Staats- und Regierungschefs. Im Dezember 1986 hob er gemeinsam mit Valéry Giscard d’Estaing den Ausschuss für die Europäische Währungsunion aus der Taufe und unterstützte in der Folgezeit die Bestrebungen zur Errichtung einer Europäischen Zentralbank. Im selben Jahr veröffentlichte er seine Publikation „Eine Strategie für den Westen", ein Jahr später „Menschen und Mächte". Der Publizist Helmut Schmidt war geboren. In den kommenden Jahren war er ein gern gesehener Gast in Talkshows. Die Menschen vertrauten auf seine Meinung, die er stets mit dem Glimmstengel in der Hand kundtat.
Er habe eine überraschende „Raucher-eckenlässigkeit" gehabt, schrieb der frühere „Zeit"-Chefredakteur Theo Sommer in seiner Biografie des Altkanzlers. Er hatte diese absolute Unabhängigkeit ausstrahlende Art plus Zigarette. Im Jahr 2008 wählten die Deutschen Schmidt in einer Forsa-Umfrage zum coolsten Kerl der Nation.
In den Freitagskonferenzen des Politikressorts der „Zeit", so ist zu hören, rauchte Schmidt in eineinhalb Stunden 15 Kippen. Anlässlich Schmidts 90. Geburtstags gestand der damalige stellvertretende Chefredakteur Matthias Naß: „Halb erstickt hat das Ressort mitgezählt. Eine Zigarette alle sieben Minuten. Das muss man erst mal überleben. Ihm scheint es gutzutun." Geschadet hat es Schmidt offenbar tatsächlich nicht.
Ebenso wenig seiner Reputation. Seine Worte behielten Gewicht in der Weltpolitik. 2003 unterzeichnete er als einer von 17 ehemaligen europäischen Spitzenpolitikern einen offenen Brief, der nach dem Irak-Krieg zur Einigkeit mit den Vereinigten Staaten aufrief. Auch für die deutsch-französische Zusammenarbeit setzt er sich ein. Im Februar 2006 erhielt er dafür gemeinsam mit dem ehemaligen französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing den Adenauer-de-Gaulle-Preis. 2010 machten sich die beiden Staatsmänner für Stabilisierungsmaßnahmen in der Euro-Krise und ein enges Zusammenarbeiten von Deutschland und Frankreich stark.
Im Oktober 2008 sorgte Schmidt für Aufsehen, als er in der „Zeit" das Engagement der Bundeswehr im Afghanistan-Krieg kritisch bewertete. Die Militäreinsätze souveräner Staaten beobachtete er stets kritisch – er galt auch deshalb als nationale Ikone und moralische Autorität. Für sein publizistisches Lebenswerk erhielt er im Mai 2010 den Henri-Nannen-Preis. Im selben Jahr starb seine Frau Loki nach fast 70 Ehejahren. Doch selbst danach war Helmut Schmidt noch voller Tatendrang. 2011 hielt er eine Rede auf dem SPD-Parteitag in Berlin und machte sich für Europa stark. Und mit seiner Präsenz gab er der SPD etwas Bedeutendes – selbst dann, wenn er sich nur eine Zigarette auf dem Parteitag ansteckte. Etwa drei Jahre danach starb Helmut Schmidt im Alter von 96 Jahren in seinem Haus in Hamburg.