Sie waren Weggefährten in der gleichen Partei, und dennoch trennten sie Welten. Inhaltlich hatten Helmut Schmidt und Reinhard Klimmt wenig gemein, dennoch respektierten sie die Meinung der jeweils anderen Seite. Ein Rückblick aus ganz persönlicher Sicht.
Helmut Schmidt, Dompteur der Hamburger Flutkatastrophe, Fraktionsvorsitzender und Großkoalitionär im Bundestag, Verteidigungsminister, Superminister, Finanzminister, schließlich Kanzler. „Le Feldwebel", der Mann mit der Mütze und dem Haifischlachen, Schmidt-Schnauze, der Weltökonom. Der Mann mit den Sekundärtugenden Pünktlichkeit und Pflichtgefühl, der Antivisionär der doch selber einer für Europa war, trotz seines Spruchs: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen". Was war er noch? Segler, Pianist, Kunstsammler, Cola-Trinker, Raucher (ausgerechnet Menthol), Autor, Herausgeber, Schachspieler, Workaholic, Besserwisser, Opinionleader für viele bis heute.
Wir sind uns oft begegnet, besser: über den Weg gelaufen. Ich suchte ihn nicht, er suchte mich genauso wenig. Uns verband nur die Zugehörigkeit zur SPD. So zogen wir an einem Strang, oft aber in verschiedene Richtungen. Was bleibt hängen, welche Bilder habe ich vor Augen, wenn sein Name fällt?
Da gibt es eine Szene: Parteiveranstaltung in Kiel im Jahr 1982. Die SPD ehrt Schmidt, den Bundeskanzler a. D. Um ihn zu würdigen, fragt man ihn, den Pianisten, nach einem Musikstück. Es erklingt „Der Mond ist aufgegangen" von Matthias Claudius. Schmidt sitzt auf der Bühne, den Kopf in die Hand, den Arm auf das linke Knie gestützt, der Blick gesenkt und nach innen gerichtet, die ansonsten Lärm erfüllte Halle still, nur dieses Lied, das später auf dem Trauergottesdienst vor dem Staatsakt am 23. November 2015 auf seinen Wunsch erneut erklingen sollte.
Damals in Kiel – nachdem ich den leichten Verdachtsanflug einer affektierten Geste verscheucht hatte – war er mir ganz nah. Preußische Bescheidenheit und Verantwortungsbewusstsein, hanseatischer Stolz, Fähigkeit zum Mitgefühl, zur Empathie würden wir heute sagen. Wir waren auf zwei unterschiedlichen Flügeln in der SPD zu Hause. Er hatte die „Kanalarbeiter" hinter und um sich geschart, ich stürmte mit Ottmar Schreiner und anderen auf dem linken Flügel mit Visionen von einer besseren Welt. Er – der ehemalige Soldat und Verteidigungsminister – hatte ein nüchternes Verhältnis zum Militär, wir hielten Vorträge über Friedensforschung. Er – der Weltökonom – suchte soziale Gerechtigkeit und Wohlstand für alle durch Wachstum. Wir beschworen die Grenzen des Wachstums. Er zog aus der Energiekrise den Schluss, die Kernenergie auszubauen. Wir, die wir gegen die Atombombe und für die friedliche Nutzung der Kernenergie demonstriert hatten, verließen angesichts der Risiken auch diesen Weg. Dennoch sprachen wir uns die Berechtigung zu unseren unterschiedlichen Meinungen und Haltungen nicht ab. Uns verband mehr – genau das, was in diesem fast kitschigen Liedtext die klare Botschaft war: Solidarität.
Einer der wichtigsten Intellektuellen
Selbstbewusst war er, überheblich sagten die Kritiker, wo ist da die Grenze? Eine weitere Szene, im Bonner Erich Ollenhauerhaus, der „Baracke": Schmidt, der Kanzler, wälzt geschäftig Akten, selbst dann, als Willy Brandt spricht. Danach ist er an der Reihe – um zu erklären, um zu rechtfertigen, mit seiner metallischen, phasenweise fast militärisch schnarrenden Stimme. Dann, nach einer kleinen Pause, wechselt die Tonart: Er breitet die Arme aus, kehrt uns die Innenseiten seiner für einen Pianisten überraschend kleinen Hände entgegen und sagt: „Ich bitte um Rat." Der Saal zuckt zusammen, erschrickt geradezu. Nur Oskar und ich feixen, wir ahnen, was kommen würde: „Ich bitte um Rat" –
nachdem er minutenlang das ihm unwiderlegbar Scheinende vorgetragen hatte. „Ich bitte um Rat" – und dann war es wieder da, das Haifischlächeln: „… wie man das hohe Ansehen, das der Bundeskanzler genießt, auf die Partei übertragen kann". Allgemeine Erleichterung, anerkennendes Lippenschürzen bei uns.
Sein Pflichtgefühl, sein Beharren auf Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit als politische Tugenden halfen ihm, im „Deutschen Herbst" Kurs zu halten, ließen ihn aber auch in wachsendem Maße mit seiner Partei in Konflikt geraten, in der viele mehr erhofften und erwarteten.
Mit dem von ihm forcierten Nato-Doppelbeschluss bekam die Ostpolitik der SPD eine andere Richtung. Brandt stand für Versöhnung und Ausgleich, Schmidt für eine realpolitische Härte. Für ihn wogen die Risiken schwerer als der Glaube an die Verständigung. In seinem ökonomischen Denken hatten die ökologischen Fragen keinen
großen Platz.
Was Willy Brandt noch zusammenhalten konnte, glitt ihm mehr und mehr aus den Händen. Für eine sich von der SPD lösende Friedensbewegung schuf er den Anlass, sein geringeres Verständnis für die ökologischen Probleme – vor allen sein starres Festhalten am Ausbau der Atomenergie – machten ihn zum Paten der Grünen. Friedensbewegung und Anti-Atom-Bewegung suchten sich einen neuen politischen Arm.
Das Aufkommen der Grünen schwächte nicht nur die SPD, sondern auch den linksliberalen Flügel der FDP, durch den sich viele Minderheitengruppen vertreten gefühlt hatten und sich nun den Grünen zuwandten. Graf Lambsdorff und der flexiblere Genscher gaben nun den Ton an. Verschärft durch permanente Niederlagen in den Ländern steuerte die sozialliberale Koalition unaufhaltbar auf ihr Ende zu.
Bis zu seinem Tode gehörte Helmut Schmidt zu den wichtigen Intellektuellen der Republik. Seine Positionen entsprachen nicht immer dem Mainstream, in den letzten Jahren noch weniger denen seiner Partei. Mit seinen inhaltlichen Positionen würde er heute, so wie Gerhard Schröder es für sich formuliert hat, „wohl keinen Ortsverein mehr finden, der ihn für ein Führungsamt vorschlagen würde".
Helmut Schmidt war ein guter Musiker, ein passionierter Schachspieler, ein ambitionierter Segler, ein mitreißender Redner, ein stilsicherer Herausgeber und Publizist; das alleine wäre schon viel! Vor allem aber war er ein Staatsmann und ein Bundeskanzler von herausragendem Format.