Die Proteste der „Gelbwesten" sind Warnzeichen – nicht nur für Macron
Anderthalb Jahre sind in der Politik eine verdammt lange Zeit. Im Mai 2017 wurde Emmanuel Macron mit Glanz und Gloria zum französischen Präsidenten gewählt. Er bekam dicke Vorschusslorbeeren für seine offensive Kampagne gegen die Rechtsnationalisten um Marine le Pen. Er wurde als innenpolitischer Reform-Turbo gefeiert, der die abgeschlaffte französische Wirtschaft wieder auf Vordermann bringen sollte. Zwischen Madrid und Athen jubelte man über den beherzten Kämpfer für ein Europa, das zusammenwächst. Bei alledem brachte Macron das Kunststück fertig, sich als Seiteneinsteiger zu präsentieren, der die müde politische Klasse schlichtweg aus den Angeln hob.
Im Amt ist dem Präsidenten die Frische abhandengekommen. Macron, der einstige Wirbelwind gegen das Establishment, wurde selbst zum Teil des politischen Systems. Dabei hat er offenbar das Gespür für eine weit verbreite Unzufriedenheit im Land verloren. Macron will im Januar die Steuer auf die ohnehin saftigen Spritpreise noch einmal erhöhen. Der Präsident, der sich als Pionier gegen den Klimawandel sieht, möchte dem Land seinen grünen Stempel aufdrücken. Dass viele Menschen – insbesondere auf der unteren Lohnskala – ohne ihr Auto aufgeschmissen sind und Mehrkosten nicht mehr stemmen können, hat er nicht bedacht. Macrons hehre Ziele haben sich teilweise von der Realität abgekoppelt.
Vor allem auf dem Land und in den Vorstädten sammelt sich der Protest der „Gelbwesten". Dort leben viele der kleinen Leute, die sich abstrampeln müssen. Sie haben 2017 nicht für den smarten Ex-Banker Macron gestimmt, sondern für den charismatischen Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon oder die Rechtspopulistin Marine Le Pen. Es ist eine Graswurzelbewegung, die praktisch aus dem Nichts kommt. Sie verfügt weder über eine Struktur noch über Führungspersonal. Die Demonstranten organisieren sich per Kommunikation in den sozialen Netzwerken.
Mittlerweile wettern Frankreichs Wutbürger nicht nur gegen höhere Benzin- und Dieselpreise. Sie fordern zudem die Aufstockung von Mindestlohn und Renten sowie Steuersenkungen. Die Unterprivilegierten haben großen Rückhalt in der Bevölkerung. Rund drei Viertel der Franzosen sympathisieren mit den Zielen der „Gelbwesten". Es zeigt, dass viele Menschen das Gefühl haben, zu kurz gekommen zu sein. Stagnierende Nettoeinkommen, höhere Mieten, eine Arbeitslosenrate von immer noch fast zehn Prozent, gelockerter Kündigungsschutz: Die soziale Balance stimmt nicht mehr, denkt eine große Mehrheit im Land.
So verwundert es nicht, dass Macron heute nur noch eine Zustimmungsrate von knapp über 20 Prozent genießt. Das ist weniger, als sein Vorgänger François Hollande nach anderthalb Jahren im Élysée-Palast erreicht hatte. Und der ist nach fünf Jahren mit einem Höchstmaß an Verachtung aus dem Amt geschieden.
Dass nun Rechts- und Linksextremisten als Trittbrettfahrer die Proteste der „Gelbwesten" für Krawall und Randale instrumentalisieren, steht auf einem anderen Blatt. Ihnen geht es um Randale, Krawall und Zerstörung. Hier ist der Staat mit aller Härte gefragt. Doch den Frust der Niedriglöhner, die trotz harter Arbeit kaum über die Runden kommen, und der Menschen mit mageren Renten muss die Regierung ernst nehmen. 20 oder 50 Euro mehr oder weniger im Monat machen hier einen großen Unterschied.
Derlei soziale Schieflagen sind nicht auf Frankreich beschränkt. In Deutschland verdient jeder fünfte Beschäftigte nur zehn Euro oder weniger die Stunde. Mit einem Brutto-Monatslohn von maximal 1.600 Euro ist es schwierig, den Alltag zu bestreiten und möglicherweise noch eine Familie zu ernähren. Viele Arbeitnehmer haben kaum mehr in der Tasche. Die Debatte über die Abschaffung beziehungsweise Neuausrichtung von Hartz IV, die derzeit bei den Grünen und in der SPD tobt, hat diesen Hintergrund. Die Frage aller Fragen: Wie hoch muss die Grundsicherung für Beschäftigungslose sein, wie groß der Abstand zwischen Grundsicherung und den unteren Lohngruppen?
Die Populisten von rechts und links stellen sich gern als Vorreiter im Kampf für die Schlechtergestellten dar. Schuld an der Misere sei die vom normalen Leben entrückte politische Elite, sagen sie. Die Proteste der „Gelbwesten" sind Warnzeichen für Macron. Sie gelten nicht nur für Frankreich.