Astrid Heller ist noch keine 60 Jahre alt – und an Alzheimer erkrankt. Witze über ihre Vergesslichkeit zu machen hilft ihr, damit klarzukommen. Ohne einen offenen Umgang mit der Krankheit, ist sie überzeugt, geht es nicht.
Zuweilen passiert es, dass Astrid Heller zweimal einkauft. Dann räumt sie die Einkäufe in den Vorratsschrank, den Kühlschrank, die Tiefkühltruhe. Und wenn sie ihre Jacke auszieht, bemerkt sie in der Tasche einen Einkaufszettel – und das kann nur bedeuten, dass sie einkaufen muss, denkt sie. Also fährt sie noch mal. Den ganzen Weg zum Supermarkt. Kauft alles noch mal ein. Und bemerkt schließlich zu Hause, dass sie eben alles ein zweites Mal gekauft hat. Es sind solche Situationen, in denen die AlzheimerErkrankung die 57 Jahre alte Pfälzerin einholt. Situationen, in denen sie merkt, dass die Krankheit sie einschränkt. Und in denen sie sich eingesteht, dass sie eines Tages auch ihre 16-jährige Tochter Paula nicht wiedererkennen wird. In solchen Situationen hilft Astrid Heller nur, sich und ihre immer stärker voranschreitende Demenz nicht zu ernst zu nehmen. Es hilft vor allem aber auch, offen damit umzugehen. Deshalb hat sie sich bewusst dazu entschieden, viel von ihrem steinigen Weg zu erzählen. Einen Einblick in ihren Alltag zu geben.
Neulich, erzählt sie, war sie einkaufen. Sie räumte ihre Einkäufe in den Vorratsschrank, den Kühlschrank, die Tiefkühltruhe. Als sie ihre Jacke auszog, bemerkte sie in der Tasche einen Einkaufszettel – das müsse bedeuten, dass sie einkaufen muss. Also fuhr sie noch mal. Den ganzen Weg zum Supermarkt. Kaufte alles noch mal ein. Und bemerkte schließlich zu Hause, dass sie eben alles ein zweites Mal gekauft hat. Dass Astrid Heller diese Anekdote innerhalb weniger Minuten zwei Mal erzählt, merkt sie nicht. Doch darauf angesprochen bricht sie in schallendes Gelächter aus. „Jetzt hat man live erlebt, wie es mit Alzheimer ist", sagt sie und erklärt, warum sie darüber lachen kann: „Ohne Humor geht es nicht. Man muss auch gewisse Dinge locker nehmen können."
Alzheimer locker nehmen
Alzheimer locker nehmen – das können nicht viele junge Erkrankte. Und tatsächlich gibt es einige, die nicht erst als Greis dement werden. Astrid Heller leitet eine Selbsthilfegruppe für junge Erkrankte. „Es hilft, über alltägliche Probleme zu reden", sagt Heller. An die acht Mitglieder versammeln sich regelmäßig, um sich dort auszutauschen. Die jüngste ist 36 und hat ein vierjähriges Kind. „Das ist natürlich hart", sagt Heller, die 52 war, als sie ihre Diagnose bekam. Damals drohte ihr bereits die Frührente. So weit kam es bislang aber noch nicht. Im Moment arbeitet die Architektin im Büro ihres Mannes mit. Geschäftlich verstehen sich die beiden – doch wie Astrid Hellers Gedächtnis nach und nach schwindet, schwand auch die Liebe in der Beziehung. Astrid Heller glaubt, die zu diesem Zeitpunkt noch unentdeckte Erkrankung war einer der Gründe, weshalb die Ehe in die Brüche ging.
Doch die 57-Jährige nahm ihr Schicksal stets an. Bei der Trennung von ihrem Mann, bei der schweren Diagnose. „Ich versuche, das zu moderieren und das funktioniert super gut", sagt sie. Sie gibt regelmäßig Zeitungsinterviews, hält Vorträge: „Bald nachdem ich damit anfing, kamen die ersten Leute, die sagten: ‚Alzheimer, wie schlimm!‘" Doch Astrid Heller sieht es nicht so eng. „Ich empfinde meine Erkrankung als Herausforderung, aber nicht als etwas, mit dem man nicht gut leben kann." Inzwischen hat sie sogar eine Ausstellung zu Humor und Alzheimer-Cartoons organisiert. „Die war klasse", sagt sie. „Bei solchen Veranstaltungen mache ich immer die Einführung und erzähle von der Krankheit." Mit den Auftritten, mit diesem offenen Umgang mit ihrer eigenen Geschichte will sie auch Politik und Gesellschaft ein Stück weit wachrütteln. „Mein Hauptanliegen, warum ich mich überhaupt äußere, ist: Ich möchte die Schwere dieser Krankheit klarstellen", sagt Heller, „aber dennoch zeigen, dass man auch mit Alzheimer auf Augenhöhe zu gesunden Menschen ist."
Die Krankheit müsse unbedingt ein anderes Gesicht bekommen. Denn vor allem die jungen Erkrankten, die noch mitten im Berufsleben stünden, bekämen große Probleme vonseiten der Gesellschaft und der Arbeitgeber. „Ich bin deshalb an die Landesregierung herangetreten mit der Bitte, dass sie sich mal beraten lassen." Astrid Heller kennt viele Menschen, die an Alzheimer erkrankt sind. Viele auch in ihrem Alter. Wenn der Arbeitgeber sage: „Mit dir stimmt etwas nicht, deine Leistungen waren früher besser" könne es schnell zu großen Konflikten am Arbeitsplatz kommen. „Man muss sich dann zwangsläufig outen, aber wenn das Wort ‚Alzheimer‘ fällt, dann ist das zunächst mal ein Hammer und der Arbeitgeber denkt: ‚Jetzt vergisst sie bestimmt alles, die will ich unbedingt loswerden.‘" Doch das dürfe nicht passieren. Heller hat deshalb bei der Landesregierung von Rheinland-Pfalz eine Möglichkeit ersucht, dass Alzheimerpatienten eine Beihilfe zum Gehalt bekommen können. Die Gespräche laufen.
Heller lebt im Hier und Jetzt
Die Architektin Heller ist derzeit auf Beihilfen nicht angewiesen. In ihrem Wohnort Bad Kreuznach wüssten viele über ihre Situation Bescheid. „Da gibt es hier und da sogar mal ein Witzchen drüber: ‚Na, ist dein Kühlschrank voll? Wenn ich Butter brauche, komme ich zu dir, du hast ja immer alles‘", sagt Heller und spielt wieder darauf an, dass sie hin und wieder einen zu vollen Kühlschrank hat. „Aber das finde ich gut." Schließlich seien auch die Witze der anderen eine Form der Humortherapie, die ihr so geholfen hat, mit Alzheimer zu leben. Und wenn sie einmal ihre Tochter nach dem Volleyballtraining an der Halle vergessen hat, wartet der Trainer so lange, bis die vergessliche Mutter merkt, dass jemand fehlt, oder nach einem Anruf schnell zur Halle eilt. „Heute ist ja jeder mit Handys ausgestattet, da mache ich mir keine Sorgen", sagt Heller, die sich zuweilen aber auf die Hand schreibt, dass sie ihre Tochter nicht vergessen darf. Irgendwann wird das aber unweigerlich passieren. „Ich habe keine Angst davor, dass das passiert", sagt die Frau, die lieber im Hier und Jetzt lebt. „Wir alle kennen den Film ‚Honig im Kopf‘, wo ein Rentner alles vergisst. Aber so ist das natürlich viele, viele Jahre nicht", sagt Heller. „Ich vergesse auch etwas, das ist halt so. Aber jetzt nicht so besonders dramatische Dinge. Ich weiß, wie ich heiße. Ich weiß, wo ich wohne, das vergisst von uns jungen Patienten niemand."
Ganz selten gibt es sie dann aber doch: Jene Momente, in denen die sonst so starke und lebenslustige Frau in ein Loch fällt. „Wenn ich fünf Vorträge hintereinander abgearbeitet habe, denke ich: ‚Och nee, jetzt ist mal gut.‘ Aber dann legt es sich wieder." Ein differenzierteres Bild der Krankheit in die Öffentlichkeit zu bringen, ist ihre Passion. Die Aufgabe gibt ihr Antrieb, denn „an dieser Krankheit muss man nicht zerbrechen."
Altenpflegeheim selbst ausgesucht
Stichwort zerbrechen: Klar muss man es nicht, doch viele tun es aus einem bestimmten Grund, wie Astrid Heller glaubt: „Viele, die ich kenne, kommen mit dem vermeintlichen Versagen nicht klar." Wer etwa an der Kasse Münzen nicht mehr unterscheiden kann, fühlt sich schnell unter Druck gesetzt. Solche Situationen geben einem Alzheimerpatienten das Gefühl, nicht mehr selbst zurechtzukommen. Immerhin: Niemand muss zwingend selbst zurechtkommen. Auch Astrid Heller holt sich professionelle Hilfe. Sie steht in engem Austausch mit der Gedächtnisambulanz der Uniklinik Mainz. „Ich bin außerdem sehr oft unterwegs mit dem Vorsitzenden der Alzheimergesellschaft Rheinland-Pfalz zu medizinischen Kongressen." Sie nimmt Medikamente, die den starken Ausbruch einer Demenz verlangsamen sollen. Dass die irgendwann kommt, ist ihr bewusst. „Es ist ganz klar, dass ich mal in ein Heim muss", sagt Astrid Heller und schmunzelt: „Aber das ist nicht schlimm, weil ich als Architektin mehrere Altenpflegeheime geplant habe. Ich bin privilegiert, weil ich mir das beste aussuchen kann." Sie lacht. Ob sie sich auch selbst ein Zimmer in einem der Heime designt hat? „Das nicht, aber ich weiß schon, welches ich will. Das habe ich dem Einrichtungsleiter gesagt und er meinte nur, so schnell würde ich das Zimmer noch nicht brauchen." Bis dahin will die Pfälzerin weiter kämpfen – gegen den Ausbruch der Demenz und für einen offeneren Umgang mit der Krankheit.
Neulich war Astrid Heller wieder einkaufen – mehrfach. „Frau Heller", sagte die Kassiererin, „Sie haben doch schon eingekauft!" Tatsächlich hatte sie das. Doch peinlich war es ihr nicht. Sie bedankte sich und ging nach Hause – zu ihren Einkäufen.