Prof. Dr. Thomas Arendt ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Alzheimer Forschung Initiative. Im Interview spricht er unter anderem über die Entstehung von Alzheimer, den Verlauf der Krankheit und neue Erkenntnisse der Forschung.
Herr Professor Dr. Arendt, was passiert bei Alzheimer im Gehirn?
Die Alzheimersche Erkrankung ist eine neurodegenerative Erkrankung. Nervenzellen sterben ab. Dies beginnt mit großer Wahrscheinlichkeit an den Synapsen, den Kontaktstellen zwischen den Neuronen. Es handelt sich um einen fortschreitenden Prozess, der irreversibel ist. Im Laufe der Erkrankung verliert der Betroffene immer mehr Nervenzellen. Durch Untergang des funktionstragenden Nervengewebes, in diesem Fall der Nervenzellen, kommt es zum Funktionsverlust.
Wie verläuft die Krankheit?
Es gibt verschiedene Phasen. Nach dem ersten Auftreten der Symptome und Erstellung der klinischen Diagnose vergehen etwa acht bis zehn Jahre bis zum Versterben des Patienten. In diesem Zeitfenster kommt es zu zunehmenden Verschlechterungen der kognitiven Funktionen, im Wesentlichen zur Beeinträchtigung der Lern- und Gedächtnisfunktionen. Hierbei gibt es einen interessanten Zusammenhang zur Hirnentwicklung: Die Funktionen, die bei dieser Erkrankung verloren werden, werden in der umgekehrten Reihenfolge verloren, wie sie in der frühkindlichen Entwicklung erworben werden. So wird zum Beispiel das Lächeln als eine sehr basale Form der Kommunikation sehr früh erworben und existiert noch sehr lange beim Alzheimer-Patienten, bis hinein in die letzten Stadien. Aber die höheren Funktionen, die in der Entwicklung erst später erworben werden – etwa komplexes Sprechen, Sprachbeherrschung oder komplexe Rechenvorgänge – verschwinden bei der Erkrankung zuerst. Der Patient durchläuft im Prinzip einen rückwärts laufenden Verlust seiner in der Hirnentwicklung erworbenen Fähigkeiten. Die Abfolge ist regelhaft. Man kann gut prognostizieren, in welchem Stadium jemand ist und was man als Nächstes erwarten kann.
Alzheimer-Patienten leiden unter der permanenten Beeinträchtigung der Gedächtnisleistung. Fehlhandlungen wie das Verlegen der Brille in den Kühlschrank oder der Socken in den Toaster sind nicht untypisch und im Alltag nicht ungefährlich. Der Verlust der Erinnerung an die Vergangenheit beginnt schon relativ am Anfang und entwickelt sich dann weiter. Auch das Nichterkennen enger Angehöriger zählt zu den typischen Symptomen einer fortschreitenden Demenz. Das kritische Stadium ist der Verlust der eigenen Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit. Patienten sind dann 24 Stunden auf fremde Hilfe angewiesen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn es zur Vernachlässigung von Nahrungsaufnahme und Hygiene kommt, zu Desorientiertheit, Bewegungsstörungen oder Inkontinenz. Ziel aller therapeutischer Bemühungen ist es daher, das Ende der Selbstständigkeit möglichst lange herauszuschieben.
Verläuft die Krankheit bei allen Patienten gleich oder entwickelt sie sich bei einigen schneller?
Hier muss man zwei verschiedene Formen der Alzheimerschen Erkrankung unterscheiden: Die sporadische Form, von der wir die Ursachen nicht kennen und die familiäre Form. Die familiäre Form ist sehr selten und macht weniger als ein Prozent aller Fälle aus. Hier gibt es bekannte genetische Veränderungen, die durch einen der Elternteile vererbt werden. Wer diese genetische Veränderung besitzt, bekommt auch mit 100 Prozent Risiko die Erkrankung. Diese Form beginnt in einem früheren Lebensalter als die sporadische Form, und die Erkrankung schreitet auch schneller und aggressiver fort.
Wie bei allen Erkrankungen gibt es auch bei Alzheimer unterschiedliche Ausprägungen. Der Verlauf ist nicht stereotyp und der konkrete Ablauf der Beeinträchtigung, die Symptome und der Zeitpunkt, in dem sie auftreten, sind nicht skalierbar, individuell sehr unterschiedlich und auch abhängig von verschiedenen Faktoren, etwa von der Vorbildung des Patienten.
Was weiß man über die Ursachen der sporadischen Form?
Bei der nicht-familiären Form der Erkrankung, also bei 99 Prozent der Fälle, müssen wir sagen, dass die Ursache unbekannt ist. In den letzten 30 Jahren der Forschung auf diesem Gebiet sind immer wieder neue Konzepte entwickelt und teilweise auch wieder verworfen werden. Wir selbst verfolgen ein Konzept, das davon ausgeht, dass die Ursache der Erkrankung in der Hirnentwicklung liegt. Die Erkrankung ist spezifisch für den Menschen. Sie kommt etwa bei unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen, nicht vor. Das muss damit zu tun haben, dass es ein Spezifikum des menschlichen Gehirns gibt, welches das Gehirn anfällig macht für bestimmte Fehlentwicklungen und Fehlschaltungen.
Wir gehen entsprechend davon aus, dass Alzheimer eine Hirnentwicklungsstörung oder zumindest auf eine Störung in der Hirnentwicklung zurückzuführen ist. Es ist aber durchaus wahrscheinlich, dass es bestimmte Faktoren in der Umwelt gibt, deren Wirkung den Ausbruch der Erkrankung und ihr Fortschreiten wesentlich beeinflusst. Wahrscheinlich ist ein Zusammenwirken von verschiedenen Faktoren – sowohl von Faktoren, die im Gehirn anlagebedingt aus seiner Entwicklung vorhanden sind und anderen, die dann aus der Umwelt hinzutreten und das System instabil werden lassen und zum Ausbruch der Erkrankung führen.
Gibt es Faktoren, die Alzheimer negativ beeinflussen?
Man sollte alle allgemein schädigenden Einflüsse aufs Gehirn vermeiden: kein übermäßiger Alkoholkonsum, nicht rauchen. Auch hohe Blutfette und Übergewicht sind ungünstig.
Vor Kurzem gerieten aluminiumhaltige Medikamente wie Magensäureblocker in Kritik – unter anderem sollen sie die Entstehung von Alzheimer begünstigen …
Ich bin jetzt 40 Jahre in der Alzheimer-Forschung tätig, und Aluminium ist einer der Stoffe, die schon seit dieser Zeit diskutiert werden. Ich würde sagen, es ist als Ursache relativ unwahrscheinlich, weil Aluminium normalerweise nicht ins Gehirn kommt, solange die Blut-Hirn-Schranke intakt ist. Man findet in der Tat erhöhte Aluminium-Ablagerungen bei Patienten. Aber man kann wahrscheinlich davon ausgehen, dass die Ablagerungen erst entstehen, wenn die Krankheit schon ein gewisses Maß erreicht hat und die Schranken nicht mehr effektiv funktionieren, sodass Aluminium ins Gehirn gelangen kann. Es gab in den letzten 40 Jahren fast nichts, was nicht schon als Ursache der Erkrankung vermutet wurde – ob Bakterien, Viren, bestimmte Umwelteinflüsse, Entwicklungsstörungen, Entzündungen, spontane Dinge, die sich im Körper ändern – alles sehr vage.
Wie viel Prozent der Deutschen erkranken etwa an Alzheimer?
Im Augenblick sind etwa 1,4 Millionen Menschen in Deutschland erkrankt. Der Prozentsatz ist altersabhängig. Im Alter von 60 Jahren sind es noch relativ wenige Prozent, das Risiko steigt danach aber drastisch an. Im Alter von 80 bis 85 Jahren liegt die Wahrscheinlichkeit, die Krankheit zu bekommen, schon fast bei zehn Prozent. Die höhere Lebenserwartung der Menschen hat – wie bei allen anderen altersbegleitenden Erkrankungen auch – zu einem Anstieg der Patientenzahlen in der Bevölkerung geführt.
Seit Kurzem gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass einer weiteren Zunahme der Alzheimerschen Erkrankung durch Präventionsmaßnahmen entgegengewirkt werden kann, und die Patientenzahlen leicht rückläufig sind. Trotzdem bleibt die Erkrankung eine der Volkskrankheiten, die unsere Gesellschaft vor größte Herausforderungen stellt, vor allem in Bezug auf Pflege. Der Patient muss über einen langen Zeitraum pflegerisch betreut werden.
Zu welchen Themen forschen Sie im Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung?
Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die Ursachen der Alzheimerschen Erkrankung besser zu verstehen. Auf diesem Weg beschäftigen wir uns mit der Methodenentwicklung zur Frühdiagnostik und der Entwicklung therapeutischer Ansätze. Wir haben vor einiger Zeit einen frühdiagnostischen Biomarker entwickelt und sind jetzt dabei, diesen auf den Markt zu bringen. Durch eine Blutentnahme soll die Frühdiagnose der Erkrankung möglich werden.
Ab wann wird man diesen einsetzen können?
Den genauen Zeitpunkt können wir noch nicht benennen. Hierfür sind zunächst noch weitere Untersuchungen an Patienten notwendig, die noch nicht erkrankt sind. Derartige Studien sind sehr aufwendig, weil diese Patienten, die selbst noch nicht erkrankt sind, in irgendeiner Form identifiziert werden müssen, um sie in die Studie einzuschließen.
Wie kann man Alzheimer aktuell diagnostizieren?
Streng genommen wird eine klinische Diagnose gestellt, die immer eine Verdachtsdiagnose ist, die der Verifizierung durch die neuropathologische Untersuchung bedarf, also der Untersuchung des Gehirns nach dem Ableben des Patienten. Man kann aber heute auch durch bildgebende Verfahren, durch sogenannte PET (Positronen-Emissions-Tomografie), am lebenden Patienten ähnliche Resultate erzielen. Es gehören zwei Ebenen der Untersuchung zusammen: Einerseits die klinische Untersuchung mit der Feststellung einer Kognitionsstörung unterschiedlicher Ausprägung bis hin zur Demenz und zweitens der Nachweis des Vorliegens bestimmter neuropathologischer Ablagerungen – Beta-Amyloid-Fibrillen und Tau-Fibrillen.
Was sind die neuesten Erkenntnisse der Alzheimer-Forschung?
Hier gibt es verschiedene Bereiche. Im sozial-medizinisch-epidemiologischen Bereich hat man die Erkenntnis gewonnen, dass die Beherrschung von Risikofaktoren tatsächlich einen modulierenden Einfluss auf das Risiko der Erkrankung hat. Es wäre gut, wenn diese Erkenntnisse stärker in die Gesundheitsvorsorge Eingang fänden.
Spannende Erkenntnisse gibt es im Bereich der molekularen Bildgebung: Insbesondere die schon erwähnten PET-Liganden ermöglichen ein bildgebendes Verfahren am lebenden Patienten. Man spritzt bestimmte Substanzen, die sich im Körper verteilen und auch ins Gehirn gelangen und sich dort in bestimmter Weise anreichern. Dadurch kann man Dinge sichtbar machen, die man sonst nur sieht, wenn man das Gehirn untersucht, an das man zu Lebzeiten des Patienten nicht gut rankommt. Durch verschiedene PET-Liganden (die sich zum Beispiel an Amyloid- oder Taufibrillen anlagern) hat man jetzt die Möglichkeit, in die Entwicklung der Erkrankung hineinzuschauen und die Dynamik der Veränderung zu sehen und damit festzustellen, wann die ersten Anzeichen der Erkrankung auftreten. Wir vermuten, dass die ersten Veränderungen bereits Jahrzehnte vor dem Ausbrechen der Symptome auftreten – und dass es sich damit möglicherweise um eine Entwicklungsstörung handelt, die bis in das Kindes- oder Jugendalter zurückreicht.
Gibt es noch weitere neue Erkenntnisse?
Ja. Es gibt auch immer wieder neue Erkenntnisse im zellulären und molekularen Bereich. Wir haben herausgefunden, dass Gene verändert sind, die wie erwähnt in der Hirnentwicklung eine Rolle spielen und die auch in der Phylogenese eine Rolle spielen – also in der Entwicklung der Primatenaffen hin zum Menschen. Dies deutet sehr stark darauf hin, dass es einen evolutionsbedingten Aspekt im Zusammenhang mit der Erkrankung gibt.
Ich gehe aber nicht davon aus, dass es in naher Zukunft eine erfolgreiche Therapie geben wird. Wir verstehen das Gehirn einfach noch nicht gut genug im Hinblick auf die hier ablaufenden hochkomplexen Zusammenhänge. Umso weniger verstehen wir deren Störungen. Leider gibt es im Hinblick auf die Erkrankung und die vorhandenen Heilungsmöglichkeiten immer wieder zu viele pseudowissenschaftliche Beiträge in den Medien, bis hin zu Fake News, die teilweise auch falsche Hoffnungen wecken. Natürlich gibt es weltweit enorme wissenschaftliche Bemühungen, eine Therapie zu entwickeln, bisher leider erfolglos. Insgesamt ist die Therapieentwicklung ein sehr langer Weg, der viel Geduld erfordert. Selbst, wenn man heute die Ursache der Erkrankung entdecken würde, wovon wir weit entfernt sind, würde man mindestens noch zehn Jahre benötigen, bis man durch klinische Studien eine Substanz entwickelt und getestet hat, die wir zum Wohle des Patienten einsetzen könnten. Das Einzige, mit dem man Patienten im Moment etwas Gutes tun kann, ist die Verbesserung der Pflege.
Weitere Informationen unter: www.alzheimer-forschung.de, pfi.medizin.uni-leipzig.de