Der erstmalige Gewinn des Davis Cups der deutschen Tennis-Nationalmannschaft war vor 30 Jahren ein derart sensationelles Ereignis, das in den Medien der Vergleich mit dem viel zitierten „Wunder von Bern" gezogen wurde. Die Männer um Boris Becker waren als krasse Außenseiter nach Göteborg gereist.
Es war das letzte Wochenende vor Weihnachten. Im schwedischen Göteborg war es schon bitterkalt, doch davon merkte in der pickepackevoll besetzten, angenehm klimatisierten Scandinavium-Arena niemand etwas. Allein schon die Vorfreude auf den zu erwartenden Triumph des heimischen Teams im Davis-Cup-Wettbewerb dürfte die meisten der 12.500 Besucher erwärmt haben. Zwar hatte der Gegner aus Deutschland um Boris Becker das Finale mit der Empfehlung einer lupenreinen Weste samt glatten 5:0-Siegen gegen Mexiko, Dänemark und das damalige Jugoslawien erreicht, doch mehr als krasse Außenseiter-Chancen wurde dem von Nikola „Niki" Pilić betreuten deutschen Team nicht eingeräumt.
Alles schien für die Schweden zu sprechen. Ihre beiden Top-Spieler hatten alle vier Grand-Slam-Turniere des Jahres gewonnen. Mats Wilander, der Weltranglistenerste, hatte in Melbourne, Paris und New York triumphiert, sein Kronprinz Stefan Edberg hatte Boris Becker in dessen Wohnzimmer Wimbledon besiegt. Damit nicht genug: Auch das Gespann Stefan Edberg und Anders Jarryd war haushoher Favorit, galt es damals doch als bestes Doppel der Welt. Um ganz auf Nummer sicher zu gehen, hatten die Schweden ihren Heimvorteil genutzt und sich als Bodenbelag für langsame rote Asche entschieden, um dem gefürchteten Highspeed-Tennis von Boris Becker die Wucht zu nehmen. Dafür nahmen sie billigend in Kauf, dass Sand auch nicht unbedingt der Lieblingsbelag von Stefan Edberg war. „Sie wollten Boris Becker so schwach wie möglich machen. Aber sie haben nicht bedacht", sagt die damalige deutsche Nummer zwei Carl-Uwe „Charly" Steeb im Rückblick auf tennisnet.com, „dass ich dann so stark spielen und sie gefährden konnte."
Es gab für die Schweden ja auch keinen Anlass, den gerade 21-jährigen Charly Steeb allzu ernst zu nehmen. Die damalige Nummer 74 der Weltrangliste war erst im Finale als zweiter Einzelspieler nominiert worden, während in den Vorrunden auf den schnellen Teppichböden Eric Jelen zum Einsatz gekommen war. Aber Steeb hatte in Göteborg als Sandplatz-Spezialist von Pilić den Vorzug erhalten.
Steeb zermürbt den Favoriten Wilander
Die Auslosung ergab, dass Steeb am Freitag, 16. Dezember 1988, das Eröffnungsmatch gegen Mats Wilander bestreiten musste. Fraglos ein kleiner Vorteil für das deutsche Team, das sich in Düsseldorf speziell auf den langsamen Untergrund in einem kurzen Trainingscamp vorbereitet hatte, weil Edbergs Spielweise dem jungen Deutschen nicht sonderlich lag. Vor Wilander hatte er zwar den nötigen Respekt, aber, sagt Steeb in einem Interview mit dem Sport-Informations-Dienst (SID): „Ich wusste, dass ich auf diesem Boden mit ihm mitspielen konnte."
Anfangs lief es für Steeb erstaunlich gut, er führte schnell 5:2, musste dann aber doch noch den ersten Satz mit 8:10 an seinen Konkurrenten abgeben. Das Göteborger Finale war die letzte Davis-Cup-Partie, die noch ohne Tiebreak gespielt wurde. Offenbar geschockt vom knappen Verlust des ersten Satzes musste sich Steeb seinem Konkurrenten Wilander auch im zweiten Satz mit 1:6 geschlagen geben. Die Halle stand Kopf, niemand gab mehr einen Pfifferling auf Steeb. Doch der stellte im dritten Satz sein taktisches Konzept völlig um, spielte plötzlich deutlich aggressiver und offensiver. Der Lohn war der Gewinn des dritten und vierten Satzes mit 6:2 und 6:4.
Der fünfte Satz entwickelte sich zum reinsten Nervenkrimi. Beim Stand von 5:2 hatte Wilander unter dem frenetischen Jubel seiner Landsleute den ersten Matchball. Doch Steeb kämpfte sich wieder heran und konnte nach über fünf Stunden Spielzeit schließlich das Match – wohl das größte und emotionalste seines gesamten Lebens – mit 8:6 im entscheidenden Satz gewinnen. Wilander war am Boden zerstört. Noch nie zuvor hatte er ein Match nach eigener 2:0-Satzführung aus den Händen gegeben: „Ich fühlte mich tot. Nicht in meinen Beinen, aber in meinen Schlägen. Da war nichts mehr drin. Vielleicht hat er es von mir genommen. Er hat sein Spiel so gemixt, wie man es gegen mich auf Sand machen muss. Manchmal hat er lang geschlagen, manchmal hohe Rückhände. Ich wusste nie, was er als nächstes tut."
Sichtlich beflügelt durch die unerwartete 1:0-Führung machte Boris Becker anschließend im zweiten Einzel kurzen Prozess mit Stefan Edberg. Drei Sätze: 6:3, 6:1, 6:4. „Wie ein Sandsturm", schrieb der SID, „fegte der rote Baron den hilflosen Stefan Edberg vom Platz, das eisblaue Feuer in Beckers Augen fackelt die Moral und den Widerstand des Schweden schon vor dem ersten Ballwechsel ab." Deutschland, das bei den ersten beiden Davis-Cup-Finalteilnahmen 1970 und 1985 jeweils den Kürzeren gezogen hatte, führte nach dem ersten Tag in Göteborg mit 2:0. Fürwahr ein gutes Omen, denn in der langen Davis-Cup-Geschichte hatte bis dahin nur ein Team, nämlich Australien 1939, einen 0:2-Rückstand im Finale noch in einen Sieg umwandeln können. Das deutsche Team, dessen Stärke auch auf einem großen Mannschaftsgeist beruhte, brauchte aus den ausstehenden drei Matches nur noch einen Sieg.
Becker fegte Edberg regelrecht vom Platz
Die erste Chance darauf hatte das Doppel Boris Becker und Eric Jelen schon am Samstag, 17. Dezember 1988. Doch kaum ein Experte traute das dem deutschen Duo im Kampf gegen das herausragende Weltklasse-Doppel Edberg/Jarryd wirklich zu. Der Verlauf der ersten beiden Sätze schien entsprechende Befürchtungen zu bestätigen. Locker und leicht gewannen die beiden Schweden 6:3 und 6:2. Doch Boris Becker wollte sich mit der sich anbahnenden Niederlage nicht abfinden. In seiner typischen Art brüllte er seinen Frust immer wieder heraus. Gleichzeitig begann er, Punktgewinne frenetisch zu feiern, und pushte dadurch sich und seinen Partner Jelen zu einem kaum mehr für möglich gehaltenen Comeback. Im dritten Satz war Becker voll auf Betriebstemperatur, Jelen spielte immer besser. Der Lohn war der Gewinn des Satzes mit 7:5. Auch der vierte Satz ging mit 6:3 an die beiden Deutschen. Nach 2 Stunden und 50 Minuten Spielzeit hatten Becker/Jelen beim Stand von 5:2 Matchball. Jelen machte es spannend, indem er seinen ersten Aufschlag ins Aus setzte. Um genau 17.17 Uhr servierte Jelen seinen zweiten Aufschlag ins Feld, Richtung Edberg, dessen Return Boris Becker mit einem harten Rückhand-Volley unerreichbar für die beiden Schweden in den Göteborger Sandboden versenkte. Das Weihnachtsmärchen von Göteborg war perfekt.
Deutschland, das im Vorjahr nur knapp dem Abstieg aus der Weltgruppe durch einen 3:2-Sieg gegen die USA in der „Schlacht von Hartford" entgangen war, hatte in der Besetzung Boris Becker, Carl-Uwe Steeb, Eric Jelen und Ersatzmann Patrik Kühnen erstmals den Davis Cup, die „hässlichste Salatschüssel der Welt", gewonnen. Kommentator Hans-Jürgen Pohlmann verschlug es fast die Stimme, aber immerhin reichte es noch zu folgendem Statement: „Ein Tenniswunder ist geschehen!" Die abschließenden beiden Einzel am Sonntag hatten nur noch statistischen Wert, Edberg holte gegen Steeb den schwedischen Ehrenpunkt. Zum letzten Einzel traten die Skandinavier nicht mehr an, es wurde daher für Deutschland gewertet. Das offizielle Endergebnis lautete daher 4:1 zugunsten von Deutschland. In vielen hiesigen Medien wurde der Triumph auf eine Stufe mit dem „Wunder von Bern" aus der Fußballwelt gestellt.
Michael Stich vergab neun Matchbälle
Apropos Fußball: Dank der Erfolge von Steffi Graf, die 1988 den „Golden Slam", den Gewinn aller vier Grand Slam-Titel in einem Jahr – vergoldet zusätzlich mit dem Olympiasieg – erringen konnte und dem Triumph des Herrenteams beim Davis Cup, dem legendären Tennis-Mannschaftswettbewerb, konnte der Weiße Sport hierzulande im öffentlichen Interesse kurzzeitig sogar mit den Kickern gleichziehen. Zumal die deutschen Tennisspieler in Sachen Davis Cup-Siege 1989 und 1993 noch zweimal nachlegen konnten – 3:2 gegen Schweden und 4:1 gegen Australien. 1995 gelang noch einmal der Halbfinaleinzug, allerdings musste man sich Russland mit 2:3 geschlagen geben. Michael Stich vergab dabei im entscheidenden Einzel gleich neun Matchbälle.
2019 wird die glorreiche Historie des Davis Cups in seiner bisherigen Form enden, denn der Tennis-Weltverband hat sich wegen lukrativer Fernsehgelder für ein neues Format entschieden. Anstelle von vier über das gesamte Jahr verteilten Runden mit Heim- und Auswärtsspielen in der Weltgruppe gibt es nun in der zweiten Novemberhälfte ein einwöchiges Turnier mit 18 Mannschaften. Aller Wahrscheinlichkeit nach aber ohne die meisten Spitzenspieler, die wie Deutschlands derzeitige Nummer eins, Alexander Zverev, keinen Bock auf dieses neue Event haben.