Wer den Begriff Mission hört, denkt womöglich an „weiße" Missionare im Tropenhelm, die Kannibalen im Baströckchen vom christlichen Glauben überzeugen wollen. „Die Zeiten haben sich geändert", sagt Christoph Ernesti vom Evangelisch-Lutherischen Missionswerk (ELM) im niedersächsischen Hermannsburg.
Ortstermin im verschlafenen Örtchen Hermannsburg mitten in der Lüneburger Heide. Die Kreisstadt Celle ist gut 30 Kilometer entfernt. Wer zum nächsten Bahnhof will, muss nach Unterlüß. Mit dem eigenen Auto von Hermannsburg aus sind das knapp 20 Minuten. Ganz so verschlafen ist die Gegend aber dann doch nicht: In der Nähe befindet sich der Bundeswehr-Truppenübungsplatz Munster, Europas größter seiner Art, mit Kasernen und schier unendlichen Schießflächen. Hier werden seit Jahrzenten Panzer und Raketen der Bundeswehr getestet. Weit weniger bekannt: In Hermannsburg wird und wurde auch ein Stück Missionsgeschichte der evangelischen Kirche geschrieben. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts entsandte der prominenteste Sohn der Stadt, Pfarrer Ludwig Harms, ein Missionsschiff nach Afrika. „Harms war ein sehr charismatischer Prediger", weiß Christoph Ernesti, der Leiter der Unternehmenskommunikation beim Evangelisch-Lutherischen Missionswerk (ELM) in Niedersachsen ist. „Und er hatte eine Vision: Harms wollte friedliche Missionare in die Welt aussenden, um den Menschen durch die Religion die Freiheit zu bringen." Seine klaren Forderungen: Nein zu Sklaverei, Imperialismus und Unterdrückung jeglicher Art. „Harms gelang es, durch seine Vision und seine wirklich überzeugenden Predigten und Schriften zahlreiche Unterstützer auch in der Wirtschaft zu finden", sagt Ernesti. Der Hamburger Kaufmann Nagel war von Harms Gedanken so angetan, dass er ihm ein eigenes Schiff finanzierte. Die „Candace" lief am 27. September 1853 vom Stapel und verbreitete für gut 20 Jahre die Botschaften aus Hermannsburg in alle Welt. Noch heute steht ein Modell des Segelschiffes samt Originalwimpel im nach Harms benannten Ludwig-Harms-Haus im Ortszentrum.
„Doch so friedvoll wie beim Hermannsburger Prediger lief auch die protestantische Missionsarbeit nicht immer ab", weiß Geschichtsprofessor Ansgar Graf aus Düsseldorf. „Ab dem 16. Jahrhundert gab es – verbunden mit dem Kolonialismus der Weltmächte – auch eine Verbindung zur Ausbreitung des Christentums. Missionare zogen mit Händlern und Soldaten und waren in manchen Fällen auch an der Ausbeutung, Unterwerfung, Zerstörung von Kulturen und Verletzung der Menschenrechte und Menschenwürde beteiligt." Es habe zwar historisch gerade bei den Protestanten immer wieder positive Ausnahmen gegeben. „Doch das Ausmaß der Gewalt ist und bleibt erschreckend", so Graf. „Und das betrifft Missionsarbeit auf der ganzen Welt – von Afrika über Asien bis hin nach Südamerika."
„Wir haben in den 300 Jahren unserer Missionsgeschichte viele Fehler begangen, die wir nicht wiederholen wollen", räumt Freddy Dutz, Pressereferent des Evangelischen Missionswerks (EMW) ein. Die evangelische Kirche sehe sich daher heute nicht mehr als „Heilsbringerin". Vielmehr helfe man dort, wo Hilfe gebraucht werde. So würden heute Missionsmitarbeiter nur auf Anfrage in ein Land geschickt und auch nur dorthin, wo bereits eine Kirche etabliert sei.
Prinzipien, nach denen man auch im ELM handelt. In dem ehemaligen alten Schulhaus, das auf den ersten Blick eher an eine in die Jahre gekommene Feuerwache als an ein Missionswerk erinnert, arbeiten derzeit rund 60 Menschen. „Die wenigsten davon sind Pastoren", erklärt Christoph Ernesti. „Die meisten sind schlicht Fachleute in ihren jeweiligen Bereichen. Nehmen Sie mich: Ich bin gelernter Journalist und arbeite seit Jahren als Fachmann für Kommunikation. Was uns eint: Wir arbeiten weltweit vernetzt im Glauben an Christus und ein gerechtes Miteinander." Man verstehe sich als „Außenministerium der evangelischen Landeskirche Hannovers" und arbeite für die „globale Gemeinde". „Derzeit sind wir in 17 Ländern aktiv." Dazu zählen etwa Südafrika, Swaziland, Brasilien, Paraguay, Peru, Russland oder Indien. In allen Ländern sei die Arbeit äußerst vielfältig, auch wenn es feste Grundsätze gebe. „Wir setzen unsere Projekte immer mit den Partnerkirchen in den jeweiligen Ländern um. Schwerpunkt dabei ist die aktive Hilfe zum Beispiel für Geflüchtete."
„Es geht nicht nur darum, vor Ort zu helfen"
Was das konkret heißt, zeige sich zum Beispiel in Äthiopien. Hier ist das Evangelisch-Lutherische Missionswerk vor allem in dem Verwaltungsbezirk Gambela aktiv. „Die Region muss mit mehr als 400.000 Flüchtlingen aus dem Südsudan zurechtkommen", erzählt Christoph Ernesti. „Die fliehen vor dem Bürgerkrieg dort." Eine fatale Situation: In Gambela selbst leben kaum mehr als eine halbe Million Menschen. „Da kann man sich vorstellen, was dort passiert." Das ELM kooperiere deshalb mit seiner Partnerkirche vor Ort und setze dort zahlreiche unterstützende Projekte sowohl für die Geflüchteten als auch für die Einheimischen um. „Da zeigt sich dann auch, wie wichtig meine Arbeit als Kommunikator innerhalb der Mission ist", ergänzt Ernesti. „Es geht ja nicht nur darum, vor Ort zu helfen. Wichtig ist ja auch, hier in Deutschland darauf aufmerksam zu machen, dass die allermeisten Flüchtlinge aus Afrika nicht zu uns nach Europa kommen, sondern auf dem Kontinent bleiben." Das werde in Europa meist völlig falsch eingeschätzt.
Anderer Kontinent, anderes Problem: In Südamerika engagiert sich das ELM unter anderem in Brasilien. „Da hat eine Gruppe ein Problem, die in Deutschland so gut wie niemand kennt: die Ureinwohner, die sogenannten indigenen Völker. Viele von ihnen sind vor langer Zeit aus ihrer Stammesgebieten vertreiben worden. Wir helfen ihnen, wieder in ihren Gebieten siedeln zu können. Unsere Aufgabe als Kirche: Wir geben diesen Menschen eine Stimme!" Gemeinsam mit den evangelisch-lutherischen Kirchen in Brasilien berate man die Menschen und schule sie politisch. „Die haben ja schon Rechte – aber die kennen viele im Urwald überhaupt nicht." Danach stehe man als Berater bei entsprechenden Prozessen zur Seite.
Neben dem Engagement für diese Bevölkerungsgruppen macht sich das ELM weltweit auch immer wieder für Frauenrechte stark. „Wir stehen zu 100 Prozent hinter der Gleichberechtigung von Frau und Mann", sagt Ernesti mit Nachdruck.
Das habe Gründe: „Frauen sind oft der wesentliche Bestandteil der Gesellschaft, viele tragen die gesamte Last für eine Familie." In Krisengebieten seien die Männer oft als Soldaten im Einsatz, oft übernehmen Männer aber auch einfach zu wenig Verantwortung. „Das zeigt sich zum Beispiel immer dann, wenn es um die Vermittlung von sogenannten Mikrokrediten geht. Die vergeben wir als Kirche zwar nicht selbst, aber immer wieder erleben wir Frauen als die verlässlicheren und stärkeren Partner."
Zurück ins niedersächsische Hermannsburg. Christoph Ernesti steigt eine alte, schmale Holztreppe hinauf. Sie führt zu seinem bescheidenen Büro im ersten Stock der ELM- Zentrale. Nur mit Mühe gelingt es ihm auf seinem alten Rechner ins Internet zu kommen. „Die Leitungen sind langsam hier", erzählt der 53-Jährige, „aber sie sind wichtig." Gerade muss er einen Flug nach Südafrika bestätigen, den er schon am nächsten Tag antreten wird. „Dort treffe ich eine geflohene Pastorin aus dem Kongo, die wir eigentlich zu einer Synode nach Deutschland einladen wollten – aber sie bekommt keine Papiere. Ihre Geschichte und ihre Arbeit sind uns so wichtig, dass ich zu ihr fliege und ein Interview mache, um sie hier vorstellen zu können." Die Geschichte der Pastorin hat es in sich: Weil ihr Mann die falschen Leute im Kongo kannte, wurde das Ehepaar verfolgt. Die beiden wurden getrennt, sie floh nach Südafrika. „Die Umstände der Flucht waren traumatisch. Aber am Ende kamen beide durch", so Ernesti. In Südafrika lernte die Pastorin schließlich eine Mitarbeiterin des ELM aus Niedersachsen kennen.
Dialog steht in der Missionsarbeit ganz weit oben
Schnell war nicht nur klar, dass sie kein Einzelfall ist, sondern dass sie helfen wollte. Pastorin und ELM-Partnerkirche vor Ort gründeten deshalb eine Anlaufstelle für französischsprachige Flüchtlinge aus dem Kongo. „Wir hätten von der Pastorin im persönlichen Dialog viel lernen können. Da die Papiere fehlen, versuche ich nun, die Dame und ihr Schicksal vorzustellen", sagt Ernesti.
Dialog steht ohnehin in Hermannsburg und bei der Missionsarbeit im Jahr 2018 ganz weit oben auf der To-do-Liste. Mit einer Vielzahl von Programmen versucht man den interkulturellen Austausch zu intensivieren. Theologen, Entwicklungshelfer und Ehrenamtliche werden seit Jahren ausgetauscht, und das nicht nur in eine Richtung. „Wir holen auch eine Menge Menschen aus Afrika, Asien und Lateinamerika zu uns nach Deutschland", ergänzt Ernesti. „Nur so gelingt es uns, der Welt tatsächlich ein Gesicht zu geben und unsere Arbeit sinnvoll umzusetzen." •