Der Professor für Evangelische Theologie Wolfgang Kraus und Karlo Meyer, Professor für Religionspädagogik, sprechen über Widersprüche in den Evangelien, die Wahrheit hinter der Geschichte um Jesus und was es mit den Ähnlichkeiten zu antiken Göttern auf sich hat.
Herr Kraus, Herr Meyer, was von der Weihnachtsgeschichte ist wahr? Wie sieht es zum Beispiel mit dem Weihnachtsstern aus?
Kraus: Es wurde darüber diskutiert, ob es im zeitlichen Zusammenhang mit der Geburt Jesu eine Sternerscheinung gegeben hat. Astronomen haben herausgefunden, dass es im Jahr 7 v. Chr. eine dreimalige sogenannte Konjunktion zwischen Jupiter und Saturn im Tierkreiszeichen Fische gab. Dieses Zusammengehen von zwei Planeten, die dann aussehen als wäre es einer, führt zu einer sehr hellen Lichterscheinung am Nachthimmel. Die Frage ist, wie man in der Antike solch eine Konjunktion interpretiert hat. Das Matthäus-Evangelium hat eine heils- beziehungsweise weltgeschichtliche Interpretation in seine Geschichte der Geburt Jesu aufgenommen. Ob die Geburt Jesu historisch mit dieser Sternerscheinung im Zusammenhang steht, ist eine andere Frage. Aus anderen Zeitangaben im Neuen Testament geht hervor, dass Jesus im Jahr 30 n. Chr. hingerichtet wurde. Etwa ab 27 n. Chr. ist er öffentlich aufgetreten und war dabei zirka 30 Jahre alt (Lukas 3,1 und 23). Das würde bedeuten, dass Jesus vermutlich noch zur Zeit des Königs Herodes des Großen geboren wurde. Das wäre dann vor 4 v. Chr. gewesen, denn da starb Herodes.
Meyer: Denjenigen, die die Geschichte Jesu aufgeschrieben haben, liegt daran, etwas rüberzubringen. Sie wollen den Lesern deutlich machen, dass ihnen Jesus wichtig ist. Das ist der zentrale Punkt. Die Autoren damals haben sich überlegt, was sie in ihr neues Buch aufnehmen sollen. Der Stern macht deutlich, wie bedeutsam Jesus ist. Deshalb haben sie die Sterngeschichte aufgenommen. Auf diese Botschaft kommt es ihnen an.
Kraus: Solche Zuschreibungen, das Hineinstellen in bestimmte geschichtliche Kontexte oder in weltgeschichtliche Zusammenhänge, ist etwas, was in der Antike gemacht wird, um die Bedeutung einer Person zum Ausdruck zu bringen. Das haben die Evangelisten nicht neu erfunden.
Die Geschichte von den Hirten, den drei Weisen mit den besonderen Gaben, die Geburt im Stall … kann man davon ausgehen, dass sich die Evangelisten alles ausgedacht haben, um die Person Jesus besonders darzustellen?
Meyer: Ich sage den Studierenden immer, dass sie sich ein Selbstbildnis des Malers van Gogh anschauen sollen. Van Gogh hat sich zum Beispiel mit grünen Farben im Gesicht gemalt. Das ist sein Stil. Hier ein wenig grün, da etwas violett. Hatte van Gogh wirklich grüne Striche unter den Augen? Wer das Bild sieht, weiß, dass es darauf gar nicht ankommt. Der Maler wollte so etwas von sich und seinem Inneren, seinem Charakter deutlich machen. Es kommt darauf an, dass man ein Gefühl dafür bekommt, wer van Gogh war. Darum geht es auch den Evangelisten. Die Leute, die das lesen, sollen eine Idee davon bekommen, was für eine Person Jesus war. Sie sollen verstehen, dass das jemand ist, der auch wichtige Menschen in Gang setzen kann. Jesus ist jemand, der Könige irritiert, sogar in Angst versetzt und Weise anlockt, sich mit ihm zu beschäftigen. Das ist auch Jahrhunderte nach der Niederschrift der Evangelisten verblüffend.
Ist die Geschichte um die Geburt Jesus nur ein Konstrukt, um ihn als Person hervorzuheben?
Meyer: Ist das beschriebene Selbstbildnis ein „Konstrukt"? Oder als andere Frage: Hat der Dichter ein Gedicht vom Herbst „konstruiert"? Das Wort passt nicht recht. Der Maler wollte malen, wer er ist. Der Dichter will ein Gefühl vermitteln. Die Evangelisten wollen zeigen, wie man Jesus recht versteht.
Kraus: Im Lukas-Evangelium ist es so, dass Jesus im Kontext der damaligen weltpolitischen Lage dargestellt wird. Es wird eine sogenannte synchronistische Datierung gemacht. Zum Beispiel dadurch, dass eine Seite der jüdischen Geschichte dargestellt wird. Es wird beispielsweise gesagt, wer zur damaligen Zeit Hohepriester war. Und auch, wer Kaiser war, nämlich Tiberius, und dass Pontius Pilatus römischer Präfekt war (Lukas 3,1-2). Lukas stellt Jesus in die Weltgeschichte hinein. Historische Elemente sind enthalten. Die versuchen die Bibelwissenschaftler durch Analyse herauszufinden. Trotzdem ist das alles erzählte Theologie und nicht einfach erzählte Historie.
Meyer: Historisch gesichert wissen wir von Jesu Geburt und ersten Lebensjahren nichts. Deshalb kann man es sich auch vorstellen, wie man will.
Warum ist eigentlich die unbefleckte Empfängnis so wichtig?
Kraus: Hier muss man differenzieren, es geht um zwei Fragestellungen. Zunächst zur „Geburt Jesu aus einer Jungfrau": Es wird weder bei Markus noch bei Johannes von einer Jungfrauen-Geburt berichtet. Davon wird nur bei Lukas und Matthäus gesprochen. Das Matthäus-Evangelium nimmt einen Text aus dem Jesaja-Buch auf, in dem es heißt, dass eine junge Frau schwanger wird und einen Sohn gebären wird (Jesaja 7,14). In der griechischen Übersetzung des Alten Testaments steht an der Stelle nicht „junge Frau", sondern „Jungfrau". In Ägypten kommen auch die Pharaonen durch besondere Geburt zur Welt. Da bedient sich Gott des Mannes, das Kind ist ein Gottessohn. Das soll zum Ausdruck bringen, dass der Pharao mit Gott in einer unmittelbaren Beziehung steht. Wenn Matthäus den griechischen Text zitiert, dann zitiert er die „Jungfrau" und so kommt auch Jesus durch Jungfrauengeburt zur Welt. Auch das soll die Besonderheit von Jesus zum Ausdruck bringen.
Die Vorstellung einer „unbefleckten Empfängnis Mariens" ist sehr viel später erdacht und wurde erst 1854 in der römisch-katholischen Kirche dogmatisiert. Sie sagt aus, dass Maria im Unterschied zu allen übrigen Menschen von Beginn ihrer Existenz an „von jeglichem Makel der Urschuld unversehrt bewahrt wurde". Das steht nicht im Neuen Testament und kann auch nicht daraus abgeleitet werden. Weil es durch das Neue Testament nicht belegt ist, wird es von den reformatorischen Kirchen abgelehnt.
Apropos Ägypten – man findet in den Mythen von Göttern alter Religionen auffällige Parallelen zum Leben von Jesus. Zum Beispiel bei dem altägyptischen Gott Horus. Wie kommt das?
Kraus: So funktioniert religiöse Überlieferung. Das findet man auch in anderen Religionen. Diese Parallelen sind literarische Mittel, um die Bedeutung von Menschen zum Ausdruck zu bringen. Die Frage, ob das jetzt historisch oder nicht historisch war, würde ein antiker Autor als unangemessen empfinden.
Also haben die Evangelisten alte Göttergeschichten abgeschrieben, um Jesus hervorzuheben?
Meyer: Das ist zu unmittelbar gedacht. Man kann das eher mit Anekdoten vergleichen. Ich erzähle von jemandem eine Anekdote. Die Anekdote ist gut. Sie pointiert, wie dieser Mensch ist. Wenn man sie Wort für Wort nachprüfen würde, würde man feststellen, dass er das so eigentlich nicht gesagt hat. Beim Formulieren der Anekdote benutze ich bestimmte Sprechmuster. Ich rede kurz und knackig auf eine Pointe zu. Solche Formate gibt es in ganz vielen Bereichen. Wenn ich zum Beispiel eine Biografie schreibe, kommen ganz typische Spannungsbögen vor. Da ist zum Beispiel die Krise, in die der beschriebene Mensch gerät, er meistert sie und wird dann berühmt. Es werden bei solchen Geschichten immer Formate genommen, die für den Leser schlüssig sind. Damals gab es eben Formate, die einen Herrscher oder Gott herausstellen. Diese Formate wurden benutzt, weil die Leser das verstehen konnten. So wurde die besondere Botschaft pointiert. Die Evangelisten haben das Format Evangelium erfunden, aber innerhalb dieses Formats benutzen sie auch Spannungsbögen und Muster, die damals alle von Göttern und Herrschern kannten. Die haben sie aufgenommen und mit einer neuen Botschaft verbunden.
Was aus dem Leben Jesus kann real sein?
Meyer: Beispielsweise ist das mit den zwölf Jüngern sehr wahrscheinlich. Jesus wollte vermutlich selbst darauf hinweisen, dass er sich an alle zwölf Stämme Israels richtete. Die Zahl ist wahrscheinlich historisch korrekt.
Kraus: Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit so, dass Jesus zunächst Anhänger von Johannes dem Täufer war. Denn dass Jesus sich taufen lässt, also sich reinigen lässt von Sünden, passt ja eigentlich nicht in das spätere Bild vom Gottessohn. Deshalb kann man davon ausgehen, dass das wirklich so war. Dann hat Jesus die Gottesherrschaft verkündet, denn das ist durchgehend im Neuen Testament zu lesen, also durch ganz unterschiedliche Überlieferungen belegt. Und es passt gut in den zeitgeschichtlichen Kontext hinein, wo die Frage nach der Gottesherrschaft eine große Rolle gespielt hat. Weiterhin ist so gut wie sicher, dass er in Jerusalem hingerichtet worden und am Kreuz gestorben ist – vermutlich am 7. April im Jahr 30. Das sind sozusagen die harten Fakten; an denen kommt man kaum vorbei. Ein ernst zu nehmender Historiker würde nicht anzweifeln, dass Jesus gelebt hat.
Wie sieht es mit den Wundern aus?
Kraus: Dass er über Wasser gegangen ist, ist unwahrscheinlich (lacht). Aber dass er Menschen geheilt hat, dass er Besessene, vielleicht Menschen mit psychischen Störungen oder Wahnvorstellungen, befreit hat, das ist sehr wahrscheinlich. Das hebt ihn auch nicht grundsätzlich heraus aus seiner Umgebung, denn es hat im zeitgenössischen Judentum auch andere gegeben, die Menschen geheilt haben. Die Frage ist, wofür diese Heilungen stehen. Wenn man die Heilungen in den Kontext seiner Verkündigung der Gottesherrschaft hineinstellt, dann ist damit die Erwartung verbunden, dass Gott den Menschen hilft und sie von Besessenheit und Krankheit befreit. Diese Heilungen von Jesus könnte man als zeichenhafte Beispiele für die Ankunft der Gottesherrschaft verstehen.
Meyer: Da kommen wir dann auch zur Weihnachtsgeschichte zurück. Die Pointe der Geschichte von Jesus und dem, was er getan hat, ist: Gott ist schon da, mitten unter euch. Ihr müsst nicht auf ein Jenseits warten oder auf sonst etwas, das irgendwann später hereinbricht. Er ist jetzt schon da, schaut mal, was hier passiert. Hört mal, was ich erzähle. Da passen die Wunder und die ganzen Gleichnisse dazu. Schon bei Jesu Geburt sieht man, dass Gott mitten in die Welt hineinkommt. So sagen es dann die Evangelisten, um diesen Punkt von Jesus noch verständlicher zu machen.