Am 21. Dezember 1988 explodierte über dem schottischen Lockerbie ein Passagierflugzeug und brachte 270 Menschen den Tod. Der Anschlag, dessen Hintergründe bis heute nicht wirklich aufgeklärt werden konnten, war die größte Katastrophe der britischen Luftfahrtgeschichte und der verlustreichste Anschlag auf US-Zivilisten vor dem 11. September 2001.
Mit leichter Verspätung von 25 Minuten war die Boeing 747 der traditionsreichen US-Fluggesellschaft Pan Am am 21. Dezember 1988 um 18.25 Uhr Ortszeit vom Londoner Flughafen Heathrow mit dem Ziel New York gestartet. An Bord befanden sich 243 Passagiere und 16 Besatzungsmitglieder, womit das auf 400 Fluggäste angelegte Fassungsvermögen der Maschine bei Weitem nicht ausgeschöpft war. Das hing damit zusammen, dass eine ganze Reihe von Personen, die schon Tickets erworben hatten, kurzfristig auf andere Gesellschaften umgebucht hatten. Hintergrund dieser Umbuchungen war eine Warnung der amerikanischen Luftaufsichtsbehörde FAA vom 5. Dezember 1988 vor einem möglicherweise bevorstehenden Anschlag auf Pan- Am-Flugzeuge. Bei der US-Botschaft in Helsinki war ein entsprechender anonymer Anruf eingegangen.
Gegen 19 Uhr hatte die Clipper „Maid of the Seas" getaufte Boeing auf Flug 103 ihre vorgeschriebene Reiseflughöhe von etwa 9.400 Metern an der schottischen Grenze erreicht, und ein Crew-Mitglied hatte um die Freigabe zur Überquerung des Atlantiks gebeten. Das um 19.02 Uhr erteilte Okay der Kontrollbehörde sollte der letzte Kontakt mit dem Personal unter Kapitän James Bruce Macquarrie werden. Unmittelbar danach war die Maschine um 19.03 Uhr schlagartig vom Radarschirm verschwunden. Stattdessen flimmerten Sekunden später jede Menge grüne Punkte auf dem Monitor, die sich in Windeseile zerstreuten. Aus einem nahen Flugzeug der British Airways war sogleich die Meldung von einer riesigen Feuerbrunst am Boden eingegangen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war allen Verantwortlichen klar, dass die Boeing 747 abgestürzt sein musste.
Noch konnte niemand wissen, dass das Unglück durch eine Bombenexplosion an Bord verursacht worden war. Ausgelöst wurde sie durch einen Plastiksprengstoff namens Semtex, knapp ein Pfund schwer, der – wie die Ermittler fünf Tage später feststellen sollten – in einem Radiorekorder als Utensil eines Reisekoffers versteckt in die Maschine gelangt war. Anhand von mehr als 10.000 geborgenen Wrackteilen konnte rekonstruiert werden, dass die Bombe ein etwa ein halben Meter großes Loch in die linke Rumpfseite der Maschine gerissen hatte. Innerhalb weniger Sekunden löste sich die Flugzeugnase mit dem Cockpit vom übrigen Rumpf ab und stürzte in die Tiefe. Experten gehen davon aus, dass die Mehrzahl der Opfer erst beim Aufschlag auf dem Boden rund um Lockerbie, einer 3.000-Seelen-Gemeinde im äußersten Süden Schottlands, starb. Die Menschen hatten offenbar trotz des extremen Kälteeinbruchs in der Kabine und der eminenten Kompressionskräfte zunächst noch gelebt. Mindestens zwei Passagiere hatten den Absturz sogar überlebt, starben jedoch noch an der Unglücksstelle. Möglicherweise gab es noch mehr Menschen, die den eigentlichen Absturz überlebt hatten. Falls ja, wurden sie aber auf dem 2.000 Quadratmeter großen Trümmerfeld zu spät gefunden.
Leichen lagen auf Dächern, Wiesen, Gärten und Bäumen
Der Anblick war grausam und makaber zugleich: Leichen lagen auf Dächern, Wiesen, in Vorgärten oder auf Bäumen. Beim Aufschlag des Rumpfmittelteils wurde durch die Explosion des mit Kerosin randvollen Treibstofftanks ein 47 Meter tiefer Krater gerissen, und ein Feuerball wälzte sich über mehrere Häuser hinweg. Dabei starben elf Einheimische, sodass sich die Zahl der Opfer auf 270 erhöhte. Es war der bis dahin größte Terroranschlag in der Geschichte Großbritanniens und die schlimmste Tragödie in der gesamten Historie der britischen Luftfahrt. Obwohl die Besatzungsmitglieder aus zehn verschiedenen Ländern und die Passagiere sogar aus 19 Nationen stammten, waren die USA doch mit 190 Opfern am stärksten betroffen. Daher war der Anschlag von Lockerbie bis zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001 die verlustreichste Attacke gegen Zivilisten in der US-Geschichte.
Ungewöhnlich mutet es bis heute an, dass mit den Ermittlungen eines solchen Dramas ausgerechnet die kleinste britische Polizeibehörde namens Dumfries and Galloway Constabulary betraut wurde. Immerhin scheinen die Beamten ihre Aufgabe mit Hochdruck angegangen zu sein, was sich allein schon an der Vernehmung von mehr als 15.000 Zeugen ablesen lässt. Zusätzlich war die US-Bundespolizei FBI an den Untersuchungen maßgeblich beteiligt. Die CIA hatte schon einen Tag nach dem Attentat eine Liste von Bekenneranrufen veröffentlicht. Darunter fanden sich Gruppen wie „Beschützer der islamischen Revolution", die ihre Tat als Vergeltungsaktion für den ein halbes Jahr zurückliegenden versehentlichen Abschuss eines iranischen Linienflugzeugs mit 290 Opfern im Persischen Golf durch ein US-Kriegsschiff deklarierten, sowie „Islamischer Dschihad" oder „Ulster Defense League".
Die CIA schätzte den Bekenneranruf der Gruppe „Beschützer der islamischen Revolution" am glaubwürdigsten ein, ohne jedoch mit Sicherheit sagen zu können, wer sich genau hinter diesem Namen verbarg. Nur die Zielrichtung Iran ließ sich daraus ableiten. Eine Spur wies auch nach Deutschland, wo das Bundeskriminalamt BKA rund zwei Monate vor dem Anschlag in einer von einer Terrorgruppe namens „Volksfront zur Befreiung Palästinas" gemieteten Wohnung in Neuss Sprengsätze gefunden hatte, die der Lockerbie-Bombe ähnlich sahen. Im Mai 1989 meldete die Zeitung „Washington Post" unter Berufung auf CIA-Quellen, dass der Anschlag auf Veranlassung der iranischen Führung durch eine vom syrischen Damaskus aus operierende palästinensische Terrorgruppe ausgeführt worden sei.
Hinweise wurden nicht weiter verfolgt
Der Abschuss des von der US-Marine fälschlicherweise als Kampfjet identifizierten iranischen Passagierflugzeugs schien durchaus ein logisches Tatmotiv zu sein, der Verdacht wurde zudem von einem übergelaufenen iranischen Geheimdienstmitarbeiter namens Abolgashem Mesbahi bestätigt. Doch dieser ziemlich konkrete Hinweis Richtung Iran/Syrien wurde nicht weiter verfolgt. Augenscheinlich aus rein weltpolitischen Überlegungen. Denn nach dem Einmarsch des Iraks in Kuwait im August 1990 und dem daraus ab Januar 1991 resultierenden „Wüstensturm"-Golfkrieg wollte es sich die US-geführte Koalition mit entsprechenden Anschuldigungen keinesfalls mit Syrien, das die Operation unterstützte, verscherzen und auch den neutral agierenden Iran nicht an die Seite des Erzfeindes Irak treiben.
Stattdessen präsentierten die USA und Großbritannien am 14. November 1991 plötzlich das von Muammar al-Gaddafi geführte Libyen als Drahtzieher des Attentats. Beide behaupteten, dass die beiden lybischen Geheimdienstangehörigen Abdel Basit Ali al-Megrahi und Lamin Khalifah Fhimah die Hauptschuldigen waren, weil sie angeblich die Koffer-Bombe in Malta in einem Zubringerflug zum Airport Heathrow und der Unglücksmaschine auf den Weg gebracht hatten. Die Amerikaner und Briten forderten von Libyen die Auslieferung der beiden Männer, was Gaddafi allerdings strikt ablehnte. Daraufhin wurde der UN-Sicherheitsrat eingeschaltet, der am 21. Januar 1992 die libysche Regierung einstimmig zur Auslieferung der Beschuldigten aufforderte. Da sich Gaddafi noch immer nicht kooperativ zeigte, wurden im April 1992 erste Sanktionen gegen Libyen eingeleitet, die in den Folgejahren immer weiter verschärft wurden.
Verurteilter beteuerte Unschuld
Nachdem Gaddafi im Dezember 1988 den Vermittlungsvorschlag, die Schuld der Angeklagten in den Niederlanden nach schottischem Recht und vor schottischen Richtern überprüfen zu lassen, akzeptiert hatte, wurde der Prozess auf dem niederländischen Luftwaffenstützpunkt Kamp Zeist Anfang Mai 2000 aufgenommen. Er endete nach neunmonatiger Verhandlung mit dem Freispruch von Fhimah und der Verurteilung von al-Megrahi zu einer lebenslangen Haftstrafe wegen Mordes. Der Verurteilte sollte bis zu seiner Begnadigung wegen fortgeschrittenem Prostata-Krebs im August 2009 und seinem Tod im Mai 2012 immer wieder seine Unschuld beteuern. Gaddafi hatte im August 2003 formell die Verantwortung für den Anschlag übernommen und den Hinterbliebenen Entschädigungszahlungen in Höhe von 2,46 Milliarden US-Dollar zukommen lassen. Diese hatte der Sicherheitsrat als Bedingung zur Aufhebung der Sanktionen gemacht. Dennoch hatte Gaddafi seinerzeit ausdrücklich jegliches Schuldeingeständnis oder gar persönliche Verstrickungen, trotz belastender, aber nicht unbedingt glaubwürdiger Aussagen seines ehemaligen Justizministers im Sommer 2011, zurückgewiesen. Die Zweifel an Libyens Verantwortung für Lockerbie konnten bis heute nicht ausgeräumt werden. Die Attentäter hätten genauso gut aus dem Iran oder aus dem Umfeld der Palästinenser stammen können.