Quasi der erste Termin in Berlins reichlich gespicktem Festivalkalender – das sind die Tanztage in den Sophiensaelen in Berlin-Mitte. Bei denen sich choreografischer Nachwuchs mit abendfüllenden Produktionen in höchst unterschiedlichen Ansätzen präsentiert.
Kahl ist der Probensaal, bis auf einen Tisch, auf dem eine überdimensionale blassrosa Zunge aus Latex liegt. Der nähert sich Tänzerin Hannah Levin mit vorsichtigen Schritten auf Zehenspitzen. Um sich dann hinabzubeugen und in das Kunststoffteil zu verbeißen, es so zu einem Teil ihres Körpers werden zu lassen. Doch wie mit dieser ungewohnten und behindernden Verlängerung des Körpers umgehen? Die bei jedem Schritt umherschwingt, sich bei schnellen Bewegungen der Tänzerin förmlich um sie zu schlingen scheint. Aufmerksam verfolgt Choreograf Tchivett, wie Hannah sich das ungewöhnliche „Requisit" nach und nach aneignet, gleichzeitig steuert er selbst zwischendurch weitere Bewegungsideen bei.
„Hollow Matters", so lautet der Titel des Stücks, das gerade in den Sophiensaelen in Vorbereitung der Tanztage geprobt wird. Und in dem der aus Frankreich stammende Choreograf Tchivett untersucht, welche Spuren soziale Normen in unserem Körper hinterlassen, sich förmlich in sie einprägen. Dazu arbeitet er mit einer Reihe von Gussformen, Körperabdrücken und Prothesen, aus denen er eine Skulpturenlandschaft entstehen lässt. Ein unheimliches Museum, in dem fünf Performer versuchen, sich von Einschränkungen und Begrenzungen frei zu tanzen.
Diese sei eine der zahlreichen Produktionen dieser Festivalausgabe, die sich mit der Wahrnehmung des eigenen und des fremden Körpers auseinandersetzen, sagt Leiterin Anna Mülter. Auf jeweils sehr unterschiedliche Art. Da geht es mal um das Spannungsfeld zwischen Kontrolle, Intimität und Verletzlichkeit – beispielsweise in „Skinned" von Mirjam Gurtner. Die Choreografin tanzte unter anderem in Basel und an der Wiener Staatsoper, arbeitete dann in London für die Candoco Dance Company. Léonard Engel hingegen überträgt in „Pavane" tierische Verhaltensweisen und Paarungstänze auf den menschlichen Körper – das alles zu elektronischen Live-Sounds. Und die sudanesische Choreografin Nagham Salah Othman ruft in „Out of Sync" zu einem respektvollen Miteinander auf – auch vor dem Hintergrund, dass sie als Frau in ihrem nordafrikanischen Heimatland vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt war.
Alle jetzt bei den Tanztagen vertretenen Produktionen seien in Berlin entstanden, sagt Festivalchefin Mülter. Sie leitet die Veranstaltungsreihe im fünften Jahr – das Festival selbst findet bereits zum 28. Mal statt. Doch auch wenn sich der programmatische Schwerpunkt etwas verändert habe und man gewissermaßen ein etabliertes Festival sei, sagt Mülter, liege der Fokus nach wie vor auf dem choreografischen Nachwuchs. Der habe hier die Chance, längere Stücke zum ersten Mal vor größerem Publikum zu zeigen, einem Publikum, das zu einem ordentlichen Teil aus Stammbesuchern besteht.
Dialog mit dem Publikum
Anna Mülter hat bei den Vorbereitungen und den zahlreichen Sichtungen eingereichter choreografischer Arbeiten festgestellt, dass es mittlerweile „offenbar eine Künstler-Generation gibt, deren Anliegen es ist, auf der Bühne ganz unterschiedliche Körper zu zeigen". Anstatt nur gut trainierte und eher jüngere Tänzer zu casten, gehe es inzwischen längst darum, auf der Bühne auch die „Vielfalt der Körper draußen, auf der Straße" widerzuspiegeln. Und dazu gehören nach Mülters Ansicht nicht nur Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Gewichts oder Alters, sondern eben auch Künstler mit Behinderung.
Allerdings, fügt die Festivalchefin hinzu, könne man die Tänzer mit Behinderung „an einer Hand abzählen" – in Berlin sei diese Szene noch sehr übersichtlich. Der Grund? Zwar seien Ausbildungsinstitute wie das HZT Berlin (Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz) durchaus offen für Bewerber mit Behinderung, doch davon gibt es momentan noch sehr wenige. Anna Mülter fordert daher, bereits in der Schule damit zu beginnen, Tanz als künstlerische Ausdrucksform für alle Kinder zu unterrichten. Ob mit oder ohne Behinderung.
Bei den Tanztagen gibt es jetzt immerhin zwei Produktionen, in denen sich die Choreografen mit dem Thema Behinderung beschäftigen. „Pain Threshold" von Perel geht der Frage nach, in welchem Verhältnis Pfleger und Gepflegter zueinander stehen, und wie eine solche Beziehung durch Machtmissbrauch geprägt sein kann. Angela Alves hingegen, die an Multipler Sklerose erkrankt ist, setzt sich in „Soft Offer" mit der Unvorhersehbarkeit auseinander, der sie als trainierte Tänzerin durch die Diagnose MS ausgeliefert ist. Alves gründete vor vier Jahren den Verein „TURN" für Künstler mit Multipler Sklerose – hier werden auch Tanzworkshops angeboten.
Unterschiedlichste Menschen auf der Bühne, manche mit, manche ohne Behinderung – aber auch im Publikum. Um die Tanztage möglichst vielen „zugänglich" zu machen, haben sich die Organisatoren einiges überlegt. So gibt es bei dieser Festivalausgabe zu mehreren Stücken eine Audiodeskription für sehbehinderte Zuschauer. In einem speziellen Workshop wurden Choreografen früherer Tanztage darin geschult, ein Tanzstück so zu beschreiben, dass es auch für Blinde nacherlebbar wird. Zudem gibt es an einigen Abenden eine sogenannte Haptic Access Tour – vor der Vorstellung können Zuschauer geführt auf die Bühne kommen, sich den Raum und Requisiten erfühlen,ertasten. Für Seheingeschränkte eine wunderbare Möglichkeit, sich eine plastischere Vorstellung vom Geschehen auf der Bühne zu verschaffen, sagt Anna Mülter.
Überhaupt spielen Vermittlungsangebote bei den Tanztagen eine wichtige Rolle. Zum Dialog mit und zwischen Zuschauern ruft seit mittlerweile fünf Jahren die Reihe „Let‘s talk about dance" auf. Und die in Berlin lebende Amerikanerin Kareth Schaffer will mit „Dancing Against the Far Right" bei einem „choreografierten Gespräch" die Diskussion über rechte Tendenzen in unterschiedlichen Ländern anstoßen. Ein Abend im Sinne der auch von den Sophiensaelen unterzeichneten „Berliner Erklärung der Vielen", in der sich ganz unterschiedliche Institutionen zu Orten des offenen und aufklärerischen Dialogs deklariert haben.